Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel VI

Der kleine Junius wuchs und wurde ein starkes, frisches blondlockiges Kind. Hinter dem Hause seines Vaters lag ein großer, schöner Garten. In diesem brachte er alle schönen Tage zu und wuchs so mit den Blumen auf. Zu merken ist, daß er kaum ein paar Worte sprechen konnte, als er auch schon anfing, in wunderlich wilder Melodie vor sich hinzusingen. Je mehr er sprechen konnte, je schweigsamer wurde er im Reden und je beredter in kleinen, abgerissenen Liedern. Eins derselben hieß:

»Die blanke Schüssel rollt hinter den Berg. Auf weichen reichen Wolkenbetten da liegt eine schöne, schöne Riesenfrau in goldne Schleier gewickelt, Die winkt mir immer auf ihren Schoß: Komm her! ich geb' dir zu trinken aus der goldnen Sonnenschüssel und setze dich aufs schwarze Pferd der Nacht, das springt herum unter den Sternlein über den ganzen Himmel, da stolpert's am Mondeshorn und bäumt sich und fällt hinunter in den schwarzen Schlund. 0 weh, du armes Kind! – Als nun Junius so alt geworden war, daß er anfangen sollte, zu lernen, nahm Herr Habichs einen stillen jungen Menschen zum Hauslehrer an, der sollte ihm Alles beibringen vom ABC an, vorzüglich aber ihn gehörig in der edlen Rechenkunst unterweisen. Für den Anfang wurde ein schönes ABC-Buch gekauft, denn das vom Onkel Holofernes wollte Herr Habichs seinem Sohn nicht in die Hand geben, damit er sich nicht tolles Zeug in den Kopf setze. Aber der kleine Junius wollte durchaus nichts begreifen, so sehr sich der Lehrer auch quälte; ja er lachte diesen aus und sprach zu ihm, wenn er mit dem Buche ankam: »Ach geh!« als ob er gar nicht glauben könne, es sei Ernst damit, daß er sich die Schnörkel da behalten solle. Da der Lehrer aber in den Scherz des Knaben durchaus nicht einging und von seiner ernsten Verfolgung nicht abließ, ward es dem Knaben zu arg und er entwischte jedesmal, wenn er merkte, daß die Lehrstunde kam, und versteckte sich in dem großen Garten unter Büsche und Blumen, so daß er erst lange gesucht und dann unter Tränen und Sträuben herbeigeschleppt werden mußte. Da nun gar nichts half, so holte die Mutter einmal, als der Herr Habichs im Turm war, das bunte ABC-Buch vom Onkel hervor, um dem Jungen durch die Bilder und den bemalten Einband Lust am Lernen zu machen. Wenn er nachher im Zuge wäre, dachte sie, könne man das Buch immer wieder vertauschen. Und wirklich, da Junius das Buch erblickte, saß er auf einmal da wie angezaubert, blätterte erst neugierig darin, jauchzte vor Freude auf; auf die Mahnung des Lehrers aber ward er still und fing mit diesem von vorne an, das ABC durchzugehen. Und nun entwickelte der früher ganz unfähig Scheinende mit einemmal eine außerordentlich rasche Fassungsgabe und ein so leichtes und festhaltendes Gedächtnis, daß er schnell lesen lernte und bald das ganze Buch durch hatte. Die Mutter wollte es ihm öfters vertauschen, aber beim Anblick des anderen, ganz liederlosen und sehr modern ledernen Buches, rief er jedesmal gleich aus: »Was soll ich mit der Klappermühle?« und lief davon. Die im Buch des Onkels Holofernes enthaltenen Sprüchlein und Lehrübungen waren aber folgende:

Das ABC-Buch des Onkels Holofernes.

Im A ist's Z schon hingestellt.
Im A, B, C hast Du die Welt.
Die Biber bauen früh und spat.
Für Bettlerseelen ist der Staat,
Der Crösus sammelt Häuf zu Häuf.
Du bau zur Welt das Chaos auf.
Das Dromedar die Wüst' durchzieht,
Weil es da drüben Datteln sieht.
Der Esel trägt den Müllersack.
Die Elle taugt fürs Schneiderpack.
Der Floh saugt nur so lange Blut,
Als es dein Finger leiden tut.
Gazelle klimmt zur höchsten Höh',
Daß sie die tiefsten Gründe seh'!
Wo nur ein freier Hirsch erscheint,
Sind Hunde gegen ihn vereint.
Die Insel liegt so glücklich still,
Wie wer sein Ich bewahren will.
Der Knutenheld beherrscht die Welt,
Der Kaufherr ist ihm zugesellt.
Siehst du den Läufer rennen dort?
Dahinter her kommt auch der Lord.
Die Mandel knack' sonst schmeckt sie nicht;
Der Meister weiß, wie er's verflicht.
Den Nackten kleidet jeder nun.
Im Schiffsraum kann der Neger ruhn.
Gibst du nur her zum Ochsen Dich,
Ein Ochsentreiber findet sich.
Selbstrührung ist des Pastors Kniff;
Der Pudel tanzt zu falschem Pfiff.
Die Quaker quaken also stark;
Warum? sie freuen sich am Quark.
Der lange Rechtsweg führt zum Sumpf;
Der Rache Schwert ward leider stumpf.
Im Kote wälzet sich das Schwein,
Und wird durch keine Seife rein.
Und wo ein Pfaff nur Tinte schaut,
Ihm's gleich, wie vor dem Teufel graut.
Der Ur brach einstens durch den Hain;
Jetzt wagen Unken kaum zu schrein.
Das Volk bleibt still nun immerdar.
Vulkane spein nicht jedes Jahr.
Den Baum reiß bei der Wurzel aus;
In dieser Welt geht's gar zu kraus.
Ypsilon ist nicht Deutsch fürwahr;
Die Yacht bringt manche fremde War'!
Der Sklave baut das Zuckerrohr;
Die Zukunft guckt dort hinten vor.

Was du denkst, das bist du. Denke rein und edel und du bist rein und edel. Von allem, was du denkst, sprich nur das Trefflichste aus, von allem, was du aussprechen möchtest, schreibe nur das Trefflichste nieder. Dann bleibt der geistige Auszug deines Wesens Genuß und Erhebung für Jahrhunderte. Eine Sprache ist alles, was ein Volk gedacht hat, das vergeistigte Volk selbst. Je edler das, was du von deiner Sprache dir als dein eigen eroberst, je edler stehst du in deinem Volke da.

Warum liegt in jeder Sprache ein unerschöpflicher Quell ewig wechselnden und immer treffenden Wohllauts? Weil Gott ein großer Musikant ist und uns alle nach seinem Bilde schuf. – Gott liebt die Lerche mehr, als die Eule. Wenn dein Herz zu voll wird von der Wonne des Seins, überfällt dich unendliche Bangigkeit. Dann weinst du eine Träne oder machst ein Gedicht und die Bangigkeit löst sich zum Frieden.

Das Weltall ist eine Träne am Wimper der Gottheit. – Weshalb ist auch die kleine Erde, dieser schwebende Maulwurfshügel, für uns ein herrliches Ganzes von unergründlichen Schönheiten schwanger?

Weil die Welt Gottes erhabne Dichtung ist. Eine Dichtung ist unendlich, das heißt: ganz und unendlich im Ganzen und eben so ganz und unendlich im kleinsten Teil. –

Wenn du nicht mit dem gleichen Gefühl süßer Befriedigung eine reife Weintraube essen kannst, als wenn du in die Abendröte blickst, so bist du ein Schwächling.

Es ist nicht genug, daß du den Ton in dir trägst; soll er wahrhaft da sein, so ist nötig, daß du ihn spielst. Dazu aber gehört eine Geige, die aus Holz gefügt, und Saiten, die aus Schafdarm gedreht sind. Das vergiß nicht!

Träume nicht in Orangenhainen und halte es nicht für ein Verdienst, wenn dir eine unwillkürliche Wonneträne im Auge zittert. Die Welt soll nicht auf dir spielen, sondern du auf ihr. Deshalb überwinde und kenne sie. Erklimme den Berg und den Baum mit eigner Kraft und Anstrengung, dann schau hinab und genieße von oben den schönen Frieden des Tales.

Kräftige deinen Arm fürs Schwert und zum mächtigen Umfassen eines geliebten Wesens, übe deinen Mund zu Rede und Kuß, trinke keinen Mondschein, sondern Rheinwein. Leute, die sich einbilden, oder der Welt weiß machen, sie schwämmen in der Luft, ganz nahe beim Monde, auf seligen Inseln, voll süßer Seufzerhauche, umher, nennt man wohl zuweilen Dichter. Aber wer jenen Mann erkannt hat, auf dessen Götterstirn das gewaltigste, geistigste Anschaun, auf dessen attisch lächelnder Lippe das vollste, keckste Genießen der ganzen Welt thronte und der dastand mit festen, markigen Knochen auf der wohlbegründeten, dauernden Erde, wer den erkannt hat, den nennt sie Fasler.

Vertiefe und verliebe dich nicht ins Blumen- und Früchtepflücken, schau auch einmal wieder auf zu den Sternen.

Glaube nicht, daß Reichtum an Gedanken den Menschen groß und weise mache. Wenn auf das unmündige Hirn die unzählige, verworrene Schar der Sinneneindrücke losstürmt, dann zeugt jeder derselben ein Gedänklein und es schwirrt und wirbelt von diesen, wie von Heupferden und Mücken im Sommer. Aber der kräftige Geist vertilgt sie, indem er in vielen nur Eins sieht. So schreitet er fort und wird reich durch immer größere Armut an Gedanken. Er wird göttlich, wenn er bis dahin dringen kann in Allem nur einen einzigen Gedanken zu sehen. Dieser Urgedanke aber weiß und fühlt sich selbst, wirkt ewig lebendig fort und wird Gott genannt. Deshalb heißt es: Selig sind die geistig Armen. –

Alle niedere Wissenschaft ist Zusammentragen des Vielfachen; alle höhere: Vereinfachung desselben bis zum ersten Grundgedanken. Keiner der einzelnen Bausteine ist verloren gegangen; aber sie sind nicht mehr in wüsten Haufen verstreut, sondern zu einem Dom geworden, zu einer individuellen Einheit, die mit einem einzigen, erkennenden Blick überschaut und verstanden wird. So nur wird der tote Stoff lebendig.

Du siehst Millionen von Gestalten in blendender Erscheinung und in allen Trieb, Leben und Wechsel. Du siehst tausend Sterne kreisend auf- und abgehen und das Vielerlei des Seins, Werdens und Vergehns will deinen Geist erdrücken. Aber alles dies ist und wird nur nach einem einzigen, ewigen Gesetz, und nach einem so einfachen, daß es sich mit einem einzigen Wort erschöpfend aussprechen läßt. Aber das Wort weiß nur der Eine, der es selbst ist. –

Gewöhne dich daran, in jedem Ding nicht bloß die Gestalt, sondern in der Gestalt den Gedanken zu sehen. Dann bist du schon hienieden von einem Himmelreich göttlicher Ideen umgeben und erfüllt und brauchst kein mißtönendes Kirchenlied vom irdischen Jammertale abzuwinseln. –

Die Pflanze ist ein stilles Leben und gehört dem Allgemeinen an. Kaum träumt sie sich selbst. Das Tier fühlt sich im Einzeldasein und abgetrennter, eigner Bewegung; es hört, sieht und geht auf Raub aus. Deshalb findet man bei den Völkern, die am meisten Fleisch essen, die größte Macht in der Auffassung des Gegenständlichen (Objektivität), wie bei den Engländern; bei denen aber, die meist von Pflanzen leben, das sinnigste und tiefste Versenken in sich selbst (Subjektivität), wie bei den Indern.

Iß Beefsteak und fliehe das gedankenlose Brüten!

Sei voller Empfindung, so bist du doch leer, wenn sie der Gedanke nicht gestaltet.

Das Gefühl ist gut; aber es ist nur Farbenschmelz. Der Gedanke ist die Zeichnung und offenbart allein den Geist des Meisters fest und erkennbar.

Du wirst dich nicht in die Göttlichkeit hineinfaulenzen und empfindeln.

Versage deinem Geiste die kühnsten Flüge nicht, sollten sie auch an Tollheit grenzen. Welch eine kecke Tollheit wäre für den trockenen Nüchterling das Dasein des Weltalls, wenn er die Shakespearsche Komposition und Unergründlichkeit darin zu sehen verstünde!

Bete nicht, sondern denke! das heißt: Bete! Aber dein Denken sei hoch, rein und mutig, daß Gott sich daran freue.

Lerne nur die zwei Worte begreifen: Ich bin; dann wirst du an Gott und Unsterblichkeit glauben.

Kannst du nicht den kleinen Finger verlieren, ohne daß dein Ich dadurch vermindert werde? Bleibst du nicht geistig ganz und derselbe? – Wähne nicht einen Fetzen Gott in der Hand zu haben, wenn du einen Baumzweig abreißest. Es ist Faulheit und schändliche Wollust, zu glauben, daß wir uns einst in ein großes, allgemeines Meer von Ewigkeit auflösen und darin selig herumschwimmen werden. Wir sind und bleiben Bergstrom, jeder für sich durch eigene Kraft seinen Weg durch Fels, Stämme und Sand bahnend und Gott wird uns Ufer zu setzen wissen bis in alle Ewigkeit, auf daß unsere Kraft und Tat nicht, im allgemeinen Gleichgewicht sich träge wiegend, untergehe.

Ein hoher König hatte in seinem Krönungssaale viele kostbare Kleinodien und Edelsteine. Da trat er zu dem schönsten und sprach: »Du leuchtest schön, aber dumm, denn du weißt und willst es nicht.« Darauf schloß er den Edelstein in eine prächtige Kapsel, diese wiederum in eine minder prächtige und so fort immer in gröbere und unscheinbarere, bis der Edelstein zuletzt in tausend sich umschließenden Kapseln steckte. Die äußerste war roh, dick und plump. Darauf warf er ihn in die schlechteste Rumpelkammer seines Palastes und sprach: »Da liege! Behalte die Kraft zu leuchten, und werde, was du kannst!«

Als der Edelstein so in Nacht verschlossen lag, fühlte er zum erstenmal sich selbst, denn er sehnte sich nach dem alten, freien Lichte. Und so stark schossen seine sehnsüchtigen Strahlen durch alle Poren der tausend Verhüllungen, daß die äußerste, aus dem unedelsten Stoffe gebildet, es nicht vertragen mochte. Sie bekam Risse und sprang ab. Da sah der König einmal in die Rumpelkammer und sprach: »Ei! du siehst nun schon schmucker aus in deinem zweiten Kleide; du gehörst in ein besseres Gemach.« Und er brachte ihn in ein solches. Aber des Edelsteins Sehnsucht nach dem Lichte des Krönungssaales wuchs mächtiger und mächtiger, und mit ihr seine Leuchtkraft. Eine Kapsel sprang, doch erst nach langem Mühen, nach der andern ab und jedesmal tat der König ihn in ein prächtigeres Zimmer. In der letzten Kapsel endlich hätte sich wohl mancher Stein ganz behaglich gefühlt, denn sie war herrlich geschmückt und durchsichtig. Aber der Edelstein hatte den Krönungssaal nicht vergessen und hatte nicht Ruh noch Rast und strahlte sein Empfinden von sich, als ob er in Lichtflammen sein ganzes Wesen ausblitzen wollte. Und vor der Riesenkraft reinster Strahlen barst die letzte Kapsel und fiel klirrend zu Boden. Da nahm der König den Stein, trug ihn in den lichten, herrlichen Krönungssaal an seinen alten Platz und sprach: »Nun leuchte fort in Ewigkeit, dir zur Lust, mir zur Verherrlichung! denn du errangst dir jetzt, was erst dir geschenkt war. Es ist dein eigen, du weißt es und willst es.«

(Ende des ABC-Buchs.)

Der kleine Junius konnte sich an dem ABC-Buch nicht satt lesen. Er mußte freilich nun schon anfangen, auch in andern »Kinderbüchern« zu lesen: aber er tat es nur mit dem größten Ekel und kehrte zu jenem immer wieder, wie zu einer Erfrischung, zurück. Die Geschichtchen vom kleinen, ungezogenen Fritz und vom unvorsichtigen Franz und vom stillen, frommen Lottchen und von Hellmut dem Friedensstörer und dergleichen Plunder mehr, empörten sein junges Herz. Und wirklich, wie kann man so blödsinnig sein, Kindern dergleichen verderbten, süßelnden, sittenrichtelnden, affektierten, zugleich albernen und altklugen Kram aufzuzwingen? Die Kinder sind nicht kindisch, wenn wir sie nicht erst dazu machen. Sie sind nur noch nicht fähig, ihre Gedanken rund und klar auszudrücken. In dieser Unfähigkeit bannen wir sie aber fest, wenn wir in dergleichen Schmierereien ihren Kinderton, der für sie nur schlechter Notbehelf ist, und den sie nur als solchen erkennen und deshalb bekämpfen und überwinden sollen, unnatürlich und geziert nachäffen und ihnen so einbilden, es sei etwas Rechtes dahinter, und man müsse so sprechen und schreiben. Dadurch werden sie künftig in träger Ungeschicklichkeit erhalten, und viele bleiben in fortwährender Unmündigkeit des Geistes. Und das ist noch lange nicht das Schlimmste; denn offenbar gewöhnt solche Unnatur das junge Gemüt an Koketterie und Heuchelei; und wir haben es wirklich schon so weit gebracht, daß kein Wort mehr gesagt wird, wie es empfangen und empfunden ward. Wir sind durch und durch lächerliche Marionetten und kommen uns dabei nicht einmal komisch vor. Daran haben freilich jene sogenannten »Kinderschriften« allein nicht Schuld, und es wäre ein langes Kapitel. Aber ein schlechter Kerl oder ein Dummkopf ist der, der solch ein Buch schreiben kann; ein Tor überhaupt der, der eine eigene Kinderliteratur gelten läßt. –

Der Leser hat ohne Zweifel schon einen Holofernesschen Beischmack im Munde, und so will ich denn ohne Umschweif gestehen, daß obige paradoxe und leidenschaftliche Stelle von den Worten: Und wirklich, wie kann man usw. Wort für Wort aus einem Tagebuche des Holofernes entnommen ist, das man in seinem Nachlasse fand. Es werden sich im Verlauf dieser Geschichte vielleicht noch mehr Gelegenheiten ergeben, solche Rhapsodien einzuflechten, und ich werde sie dann jedesmal, um nicht mit falschen Federn zu prunken, mit der Überschrift: A. d. T. d. O. H., das heißt: Aus dem Tagebuch des Onkels Holofernes bezeichnen.

Der kleine Junius empfand instinktartig, was sein Onkel oben gesagt hat. Nie las er in seinen Kinderbüchern anders, als in einem parodierenden Tone, wobei er die possierlichsten zimperlich-ehrbaren Gesichter schnitt. Dies machte es ihm allein möglich, das Buch nicht gleich in die Ecke zu schmeißen und fortzulaufen. Nur seinem ABC-Buch widmete er sinnigen Ernst. Seine Mutter wollte ihn oft davon abbringen (ihrem Mann durfte sie's gar nicht sagen)und sprach: »Bist du schon wieder über dem Zeuge? Laß es doch endlich einmal!« – »Ach, Mutter, es stehen so schöne Sachen drin,« sprach dann Junius. »Ach was, schöne Sachen! verstehst du denn etwas davon?« Da sah Junius seine Mutter groß an, denn er verstand nicht, was sie mit dem Verstehn sagen wollte. Wäre aber Holofernes dabei gewesen, so würde er etwa so gesprochen haben: »Liebste Schwester, laß doch den Jungen! Kommt es denn überhaupt darauf an, ob der Mensch etwas versteht? Nimm alles zusammen, was man so eigentlich versteht, ich meine: so recht einfach und kommißmäßig versteht, und was bleibt von unserm ganzen Reichtum übrig? Du meinst vielleicht, du verstehst, daß man Geld verdienen soll, weil man essen und trinken muß, um zu leben; das kommt dir ganz natürlich und handgreiflich vor. Aber warum mußt du essen? Und wie erhält die Speise dir das Leben? Verstehst du das? Gewiß nicht. Es würde mich aber zu weit führen, dir begreiflich zu machen, daß du eigentlich gar nichts begreifst, denn ihr Frauen nehmt alles so gerade hin, wie es ist, und das Nachdenken richtet euch wahrlich nicht zugrunde. Ich aber sage dir: wir wissen unendlich viel, aber wir verstehen unendlich wenig und das höchste, was wir wissen, ist das, was wir am allerwenigsten verstehen, nämlich: Poesie und Religion.« –

Übrigens hatte Frau Habichs das ABC-Buch der Vorsicht wegen selbst durchgelesen und war darüber dreimal eingeschlafen, was sie für einen großen Triumph der Gelehrsamkeit ihres Bruders hielt, denn jedesmal, wenn sie aus dem Schlafe auffuhr, um weiter zu lesen, sprach sie: »Ist doch ein grundgescheiter Mann, mein Bruder.« Da sie nun außerdem merkte, daß das Wort Gott oft darin vorkam und einmal sogar ein Spruch aus der Bibel, so dachte sie: »Das muß doch recht fromm sein.« Und das war ihr lieb, denn sie wünschte, daß Junius dereinst recht fromm würde aus drei Gründen:

  1. Weil er, wenn er zu Gott recht inbrünstig um guten Fortgang des Geschäfts betete, gewiß erhört und dadurch ein sehr reicher Mann werden würde.
  2. Weil fromme Männer am meisten geneigt sind, sich eine Frau zu nehmen, um einen ehrbaren, gottseligen Haushalt zu führen.
  3. Damit Junius nach dem Tode nicht in die Hölle, sondern mit ihr zusammen in den Himmel käme, wo sie dann die Rolle der zärtlichen Mutter recht gemütlich und bequem in alle Ewigkeit mit ihm fortspielen könne.

Solche Begriffe habt ihr von Religion! Wenn's hoch kommt, ist sie euch eine Seligkeitsversicherungsanstalt, in die man sich, sollte es einem auch unbequem werden, doch aus Vorsicht durch Gebet und Gottesdienst einkaufen muß. –

Nunmehr prahlte sie auch gern mit ihrem Sohne vor ihren Klatschschwestern. Sie rühmte seine Fortschritte und wie schön er schon lesen könne, wußte ihn mit seinem ABC-Buch herbeizulocken und es durch »feine Winke« (durch die plumpsten Sticheleien nämlich) so einzurichten, daß die Klatschschwestern ihn aufforderten, ihnen daraus vorzulesen. »Nun, Kleiner, laß uns doch einmal etwas hören!« Junius schwieg. »Nun, Junius, wirst du nicht artig sein?« sprach dann die Mutter und sah ihn mit einem zurechtweisenden Parolebefehlblicke an. Da mußte er schon dran, so ungern er es tat. »Das Buch hat sein Onkel Holofernes selbst für ihn verfaßt,« warf Frau Habichs, als Junius schon den Mund öffnete, noch flüchtig, aber mit Wichtigkeit hin; die Klatschschwestern stießen mit einer kleinen Kopfbeugung und angenehm überraschtem Lächeln noch ein »So?« und »O!« aus, und Junius las laut und fest. Bei den unverständlichsten Stellen blickte Frau Habichs die Klatschschwestern, die sehr dumm lächelten, mit herausforderndem Selbstbewußtsein an. Nach einigen Sätzen sprach sie: »Es ist genug, lieber Junius! Du kannst jetzt spielen gehen.« Aber erst streichelte und küßte sie ihn, und die Klatschschwestern streichelten und küßten ihn auch in der Reihe herum, so daß ihm angst und bange wurde, und sprachen und schnatterten zu ihm: »Du hast wirklich allerliebst gelesen, lieber Kleiner!« und »Wie alt ist der Kleine jetzt, Frau Habichs?« und »Wirklich alles Mögliche!« Als er endlich aus der Stube geschlüpft war und draußen freier aufatmete, sprach Frau Habichs, indem sie einen preziösen Demutblick gen Himmel warf und mit einem frommen Dankseufzer: »Dem Himmel sei Dank! er hat wirklich außerordentlich viel Talent zum Genie.« – »Außerordentlich!« stimmten die Klatschschwestern bei. Als sie sich aber sechsmal empfohlen hatten (einmal vor dem Sofa stehend, zweitens an der Stubentür, drittens in der geöffneten Stubentür, viertens im Flur vor der Treppe, fünftens am Fuß der Treppe, sechstens und längstens an und vor der Haustür) und zusammen noch auf der Straße gingen, sahen sie sich mit einem leisen Ansatz zu einem noch ungeborenen, spöttischen Lächeln gegenseitig an und wußten schon, was sie dachten, ehe noch eine sprach. Endlich brach eine das Schweigen und sagte mit liebevoller Bosheit: »Die gute, liebe Frau! sie hat ihren Kleinen sehr lieb, und das schätz' ich außerordentlich an ihr. Aber der Himmel wende ihr Herz von Hochmut ab! Es ist wahr, der Knabe ist weit genug für sein Alter –«

»Nun, so etwas Besonderes sehe ich eben nicht an ihm,« warf eine zweite, mit schnippischer Nase, hin.

»Und wenn ihn die gute Frau nur nicht völlig verdirbt«, sagte die dritte besorgt. »Am Ende zieht sie nichts, als einen Papageien aus ihm.«

»Das ist sehr zu befürchten,« stimmten Nr. 1 und 2 bei, und nun trennten sie sich, und jede ging mit befriedigtem Herzen heim.

Der Leser wird sich wundern, daß bei der ersten Bildungsgeschichte des kleinen Junius gar nichts von dem nur einmal erwähnten, stillen, jungen Menschen und von Herrn Habichs selbst gesagt wird. Aber das ist ganz natürlich. Der stille, junge Mensch war eben ein stiller, junger Mensch, von dem, vor der Hand, hier gar keine weitere Schilderung entworfen zu werden brauchte, wenn es eine wahrhaft vollständige Zoologie gäbe; denn der Leser könnte dann unter der Rubrik: Einheimische Haustiere, den Artikel: der gemeine, deutsche Hauslehrer nachschlagen. Nicodemus (um ihm doch einen Namen zu geben) war sehr arm, und seine Existenz hing von der Zufriedenheit des Herrn und der Frau Habichs ab; da ersterer aber täglich zwölf Stunden im Turme saß, hauptsächlich von der Frau Habichs. Teils dies, teils ein durch Not von Kindheit anerzogenes Pflichtgefühl ließen ihn sein Lehrgeschäft bei Junius mit unerschütterlich gleichmäßigem Eifer und der gewöhnlichen, das heißt, sehr gewöhnlicher Einsicht ergreifen. Je nachdem Junius rasche oder langsame Fortschritte machte, stand der Lehrer in Gunst oder Ungunst bei der Frau Habichs; ja noch mehr: die raschen Fortschritte schrieb sie lediglich dem Genie ihres Sohnes, die langsamen aber der Ungeschicklichkeit des Lehrers zu. Dieser erschrak bei jeder sauern Miene der Gnädigen, denn gleich fiel ihm durch eine rasche Ideenassoziation, das Wort: »Fortgejagt werden« ein, an das sich unmittelbar ein anderes: »Hungern« anschloß. Es war ein Glück, daß Junius wirklich rasch faßte, sonst wäre die Stellung seines Lehrers die qualvollste von der Welt gewesen. Das ABC-Buch des Onkels Holofernes behagte ihm gar nicht und in einem kühnen Augenblicke wagte er's der Frau Habichs schüchtern vorzustellen, es seien Dinge darin enthalten, die einem Kinde gefährlich werden, oder wenigstens es verwirren könnten. Da blickte die Gnädige ihn vornehm und imponierend an, und sprach: »Sie werden sich doch nicht herausnehmen wollen, von meinem gelehrten und berühmten Bruder Holofernes zu proponieren, daß er so stupend oder so malkontent sein könne, seinem eigenen Neffen ein Buch zu machen, das phantastisches Vermögen zu giftigen Prinzipien insinuieren könne? Wahrscheinlich,« fuhr sie gütiger und fast angenehm lächelnd fort, »sind Sie, junger Mann, in der höheren Wissenschaft noch nicht so weit instigiert, um alle Tendenzen des Buches gehörig zu verstehen; aber ich habe es selbst gelesen und versichere Ihnen, daß es mir nicht gefährlich geworden ist, und weil mein lieber Junius es einmal so will, so behalten Sie es auch ferner zum Unterricht bei, und stören Sie den Knaben nicht in dem Entwickelungsgange, wozu die Fähigkeiten seines Talentes ihn treiben. Nur,« fuhr sie mit einem Drohung andeutenden Seitenblicke fort, »dürfen Sie, wie Sie wohl wissen, meinem Gemahl nichts davon effektuieren, denn er ist in solchen Dingen durch pedantische Borniertheit eigentümlich und versteht den Aufschwung höherer Seelen nicht.«

Und Nicodemus machte ein ganz gehorsamstes Kompliment und behielt, gegen seine Überzeugung und anfangs mit stillen Gewissensbissen, das ABC-Buch bei; wie er denn überhaupt die personifizierte Geduld war, gefesselt an den Felsen des Stillschweigens, wenn auch der Geier: Weiberlaune ihm täglich die Leber fraß.

Übrigens wurde er, außer dem Stundengeben, von der Frau Habichs auch noch zu allerlei kleinen Nebendiensten gebraucht, als da sind: ihr die Baumwolle mit beiden Händen zu halten, wenn sie solche abwickeln wollte, Stickmuster abzuzeichnen, zu frankierende Briefe auf die Post zu besorgen und das Geld dafür auszulegen (ein paarmal bekam er es gar nicht wieder, weil er zu schüchtern war, es zu fordern), einmal sogar, sagt die Fama, zum Stubenkehren, weil gerade niemand anders bei der Hand war, vor allem und hauptsächlich aber, ihr aus der Lesebibliothek recht schöne (das heißt möglichst schlechte) Romane zu besorgen, und selbige, damit der Herr Habichs es nicht merkte, während dessen Anwesenheit in seiner Stube zu verbergen. Denn durch den romantischen Hang ihres Junius (wie sie es nannte), fühlte sie sich gleichsam verpflichtet, eine ähnliche Richtung einzuschlagen, um ihrem Söhnlein nicht nachzustehen; und so erwachte die lange unterdrückte Lesesucht in ihr mit neuer, verdoppelter Wut. – Alles dies verrichtete Nicodemus auf das devoteste, und war froh, daß ihm nichts Ärgeres angesonnen wurde.

Herr Habichs aber bekümmerte sich wenig um seinen Sohn, denn er hatte keine Zeit dazu. Nur selten kontrollierte er nach den Bureaustunden den Stand seiner Fortschritte, indem er ihn etwas lesen ließ. Natürlich mußte dazu eines jener erwähnten, süßlichen Kinderbücher genommen werden. Der travestierende Ton und die ironischen Gebärden des Knaben beim Lesen bemerkte Herr Habichs, der bloß für Zahl und Geschäft Auge und Ohr hatte, nicht, er bemerkte bloß die Geläufigkeit, und da er diese in der Ordnung fand, so nahm er alles ohne Lob und Tadel hin, wie wenn er ein revidiertes Kassabuch richtig befand. Übrigens fand durchaus kein Gemütsverhältnis zwischen ihm und seinem Sohne statt, denn Herr Habichs betrachtete ein Kind nicht als einen Menschen, sondern lediglich als ein Ding, in dem die Menschwerdung erst dann aufdämmere, wenn dasselbe es in der Zinsrechnung zu sicherer Geläufigkeit gebracht habe. Bis dahin war Junius für ihn nur ein unnützes, verdrießlich störendes Hausmöbel. Für die Frau Habichs hingegen war er ein zierendes Spielzeug, das man, etwa wie einen porzellanenen, nickenden Pagoden, den Besuchenden zeigen, Kunststücke vormachen und bewundern lassen kann. Der größte Teil der Bewunderung fiel dann natürlich immer auf die Mutter zurück.


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