Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel XII

Junius war auf sein Angesicht hingesunken, aber wahrlich nicht aus demütiger Zerknirschung, als seiner unwert, dem freundlichen Himmel ins Auge zu schauen; nein! die Wonne der Gewißheit, daß er groß, rein und gottähnlich sei, warf ihn darnieder. Er riß sich los und rannte heim. Er glaubte zu fliegen, so leis berührte der Rasen des Bodens seine Sohlen, so frei flatterten seine Locken. Da tönte ihm, wie ein Mißklang, die Stimme seiner Mutter entgegen, die ihn aufforderte, sich zurecht zu machen, um mit ihr in die Kirche zu gehn. Mit innerem Verdruß gehorchte er. Nun muß dem Leser vorher berichtet werden, daß sie nicht gern jene gotische Kirche zu besuchen pflegte, in der, wie zu Anfang erzählt, Junius getauft worden war, obgleich sie eigentlich zu jener Pfarrei gehörte. Herr Habichs nämlich konnte den ehrwürdigen Bau nicht leiden, weil er ihm zu phantastisch war. Auch ärgerte er sich jedesmal darüber, wenn er bei sich überschlug, wie viel unnützes Geld auf denselben verschwendet worden sei. Seit Holofernes ihm von dem Eindruck dieses Doms vorphantasiert hatte, hatte er erst gar einen Abscheu davor bekommen. Frau Habichs aber konnte das Gebäude auch nicht leiden, weil sie eine bigotte Protestantin war, und es in der, früher katholischen Kathedrale wie von betäubenden Dünsten des Papismus sie umwitterte. Der Leser wird sich schon wieder wundern, daß ihm hier eine Person plötzlich als bigotte Protestantin aufgebürdet wird, die er kurz vorher als Anhängerin der modernen Weltbewegungsliteratur kennen gelernt hat, die mithin gar keine positive Religion haben sollte. Aber der Leser ist ein schlechter Psycholog und außerdem ein unaufmerksamer Leser, denn in einem Fragmente aus dem Tagebuch des Holofernes ist ihm der Schlüssel schon in die Hand gegeben. Die Sache ist nämlich die: Von jedem Buch, das Frau Habichs las, behielt sie einen Tag lang einen Anflug, eine flüchtige Färbung, die ihr jedoch bloß dazu diente, im Gespräch damit zu prunken und die Geistreiche und Gefühlvolle zu spielen. So war sie in Zeit von wenigen Wochen erst ritterlichmittelalterlich, dann bürgerlichsentimental, dann räuberischheroisch und zuletzt (da Nicodemus, nach verschlungenen Kommisromanen, keinen Rat mehr wußte, was für Bücher er ihr noch bringen solle,) weltbewegerisch und emanzipationssüchtig gewesen; aber wohlgemerkt: nur in äußerlicher Zurschautragung. Denn innerlich, wie in ihren Handlungen, blieb sie bei alledem unverändert und unberückt dieselbe, wie sie war, nämlich eine Gans, das heißt: ein ganz gewöhnliches Weib. So war sie, unter andern, auch bigotte Protestantin, obgleich sie nicht den mindesten wahren Begriff von Protestantismus und seinem Gegensatz zum Katholizismus hatte; nein! sie war das, wovon ihr bei ihrer Erziehung eingebläut worden war, daß sie es wäre und sein müsse, übrigens ohne Überzeugung und Erkenntnis. So war sie, unter andern, auch peinlich geizig in Kleinigkeiten (z. B. dem Verbrauch von Schwefelhölzern) und sinnlos verschwenderisch in größeren Ausgaben (z. B. Anschaffung von Schals und Teearrangements). Ihr Geiz und Herrn Habichs Finanzsinn allein hatten es bewirkt, daß Junius in der gotischen Kirche getauft worden war, weil sonst die Taufgebühren hätten doppelt bezahlt werden müssen.

Also aus den obgemeldeten Gründen und weil außerdem der Geistliche der andern Kirche (wie der Leser gleich einsehen wird) ein besonders vortrefflicher Prediger, der der gothischen aber, wie Frau Habichs sich ausdrückte, ein eminenter Nationalgardist (sie meinte: ein evidenter Rationalist) war, ging Frau Habichs in die andere. Sie hatte Junius schon öfters mitgenommen. Er hatte das Tun und Treiben dort mit sehr gleichgültigen Augen betrachtet, ohne viel darüber nachzudenken, was damit eigentlich bewiesen sei, und ohne irgend eine tiefere Bedeutung dahinter zu suchen. Aber nie hatte er einen so entschiedenen Widerwillen dagegen empfunden, als heute, da die frommen Klänge der Wildnis in seiner Brust noch mächtig nachhallten. Erst heute fiel es ihm auf, daß die Kirche von außen aussah, wie eine Kaserne, nur weniger stattlich und lebendig, ein trauriger viereckiger Kasten. Er trat ein und meinte in einen Reitstall zu treten. Eine gähnende, geizige, unendlich nüchterne Leere! Heut erst kam es ihm ungeheuer komisch vor, wie die eintretenden Männer sämtlich den Hut ein paar Augenblicke vor Nase und Mund hielten, als ob sie dahinter heimlich was zu knuspern hätten. Und nun erst gar der Gesang! Dumpfe Grabesklänge der Orgel präludierten; dann riß der grimmig blickende Kantor ein ungeheures Maul schief auf und intonierte, wie mit einem herzzerreißenden Hilfeschrei. Und einstimmten falsche Männerstimmen, schüchtern und undeutlich brummend, und unverschämt quäkendes Altweibergekreische, mit großer Sorgfalt durch enge naseneinquetschende Brillen noch weit quäkender gemacht, als es von Natur schon gewesen wäre. Ihren frommen Eifer suchten diese Weibsbilder dadurch hervorzuheben, daß sie ihr Geschrei jedesmal einen halben Takt früher losbrechen und dann den letzten Ton einen halben Takt länger, inbrünstig und gefühlvoll, nachschnarren und auszittern ließen, als alle andern. So wand und schleppte sich die Melodie modrig, dumpfig und trostlos dahin, wie ein Regenwurm durch den Schlamm. Junius konnte es kaum ertragen. Der Mißlaut beklemmte ihm die Brust wie ein Alp, und schnürte ihm die Gurgel zu. Endlich hörte der vertrackte Hexentanz von Mißtönen auf; die Orgel stieß noch einen malitiösen, schnappenden Nasenton hervor und Stille trat ein. Nun bestieg, in unwürdig gekrümmter, heuchlerisch demütiger, kommißmäßig eingelernter Knechtsstellung ein Mann die Kanzel, in schwarzem Talare, mit zwei weißen Schnippelchen vorn am Halse. Ich kann dem Leser keine treffendere Schilderung von seinem ganzen Wesen geben, als indem ich, mit wenigen sachgemäßen Abänderungen, die Stelle aus dem Shakespeare übersetze, wo Hamlet von den Fehlern schlechter Schauspieler spricht, die dieser Prediger höchst sonderbarer Weise alle an sich hatte. Die Stelle lautet:

»Sprecht die Rede, ich bitte euch, leicht von der Zunge fließend. Aber wenn ihr sie so herausmault wie viele unserer Schauspieler tun, so möchte ich sie eben so gern vom Ausrufer sprechen hören. Und durchsägt auch nicht die Luft zu sehr mit euren Händen, sondern behandelt alles gelinde. Denn selbst im Strom, Sturm und (wenn es dazu kommen sollte) Wirbelwinde eures frommen Eifers müßt ihr eine Mäßigung erlangen und erzeugen, die ihm Weichheit gibt. O! es kränkt mich in der Seele, anzuhören, wie ein robuster, perrückendickköpfiger Kerl den heiligen Text in Lappen, in rechte Fetzen zerreißt, um die einfältig frommen Seelen unten zu betäuben, die in der Regel nichts davon begreifen, als Faxen und Spektakel. Ich möchte einen solchen Kerl für sein Sichungeberdigstellen peitschen lassen; er überpharisäert den Pharisäer usw. – – – und achtet vor allem darauf, daß ihr die Bescheidenheit der Natur nicht übertreibt. – – – O! es gibt Prediger, die ich habe predigen und von andern loben hören, und das höchlich, die (ohne sie böswillig verspotten zu wollen) weder den Akzent von Christen, Heiden, oder überhaupt Menschen hatten und so die Kanzel zerprügelten und bellten, daß ich glaubte, irgend ein Handlanger der Natur habe Menschen gemacht und verpfuscht, so abscheulich verzerrt war in ihnen das wahrhaft Menschliche.«

In der »herausgemaulten«« und »hervorgebellten« Rede hieß es unter andern:

»Ja, meine andächtigen Freunde! haltet fest am reinen Glauben, also, wie er euch gelehrt worden ist; nicht, wie ein verwegenes und frevelhaftes Grübeln und Denken ihn umgestalten und verfälschen mag. Forschet in der heiligen Schrift, aber nur, um ihre goldenen Sprüche euch in Demut einzuprägen; nicht, um sie mit eurer schwachen Vernunft zu begreifen. Denn die menschliche Vernunft führt unabwendbar zum Unglauben; darum lernt sie verachten und verschmähen; sie ist nur dann gut und nützlich, wenn ihr sie dem verkündigten Worte Gottes blindlings unterwerft. Und welches Verdienst auch hättet ihr dabei, meine Freunde, wenn ihr von dem überzeugt wäret, was euer Verstand einsieht? Ihr sollt glauben, ohne einzusehn! Wie erbärmlich und ohnmächtig aber ist all unser Verstand, wie Stückwerk all unser Wissen! Wer heut noch froh und guter Dinge, kann morgen schon im Grabe liegen, und er weiß es nicht. Und wollt ihr die unerforschlichen Geheimnisse Gottes durchschauen, so ihr solches nicht einmal vorher zu wissen fähig seid?

Und in den Stunden der Not und Bedrängnis – wer wird euch da aufrichten und nicht verzagen lassen? Eure eignen törichten Gedanken etwa, die sich vermaßen, die Welt zu überfliegen? O nein, meine Andächtigen! wenn dann nicht ein unbegreifliches Gefühl, davon der Verstand nichts weiß und wie es nur dem Gläubigen gegeben ist, von oben tröstend über euch kommt, so werdet ihr winseln und heulen in eurer Pein und wird nicht Menschenrat noch Menschengedanke euch zu helfen vermögen. Und was spreche ich von der traurigen Verlassenheit, womit Gott die Ungläubigen und die, so sich nicht selbst zu verachten und erniedern wissen, sondern sich was rechtes dünken vor dem Herrn, schon in diesem irdischen Jammertal heimzusuchen pflegt? Aber denkt an drüben! denkt an die Stunden des Gerichtes, da der, so sich hienieden als ein nichtswürdiger Wurm im Staube gefühlt hat, wird erhoben und verherrlicht werden und wird eingehen zu ewiger Ruhe und ewigem, unendlichen Ergötzen, der aber, so sich vermessen hat, mit seiner elenden Vernunft hinanzureichen an den Allerhöchsten und, in törichtem Hochmut, seine Herrlichkeit zu verstehen, der wird erniedert werden und hinabgeschleudert in den Abgrund da Heulen und Zähnklappen sein wird ohn' Ende. – O meine Andächtigen! wer wollte doch so unklug sein, seinen eigenwilligen störrischen Sinn nicht für ein Weilchen zu beugen, würde es ihm auch schwer und unbequem, wenn ihm so reicher, herrlicher Lohn dafür verheißen ist? Wer wollte nicht für eine kleine Spanne Zeit sich in Demut als untertäniger Knecht geberden, wenn er dadurch auf ewig zum freien Herrn werden kann in unvergänglichem, süßen Wohlleben? Und wer wollte so töricht und über seinen eigenen Vorteil verblendet sein, um nicht für eine Zeit lang seine stolzen Gedanken zu bezähmen, ihnen zuzurufen: Bis hier hin und nicht weiter! und in demütiger Unwissenheit zu verbleiben, wenn er dadurch entgehen kann den Qualen der ewigen Verdammnis? Ja, meine Andächtigen! selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Amen!« –

Junius war in einer eignen Stimmung. Kochender Zorn und hellauflachender Spott jagten sich in ihm wild durcheinander. In der ganzen ersten Hälfte der Predigt mußte er wider Willen (so wie uns oft irgend eine Melodie einen ganzen Tag lang nicht aus dem Kopfe will) sich immerfort folgende Verse wiederholen; die er am vorigen Tage zufällig gelesen hatte:

Knurre nicht, Pudel! zu den heiligen Tönen,
Die jetzt meine ganze Seele umfassen,
Will der tierische Laut nicht passen.

Bei jeder Windmühlflügelgestikulation des Predigers war es ihm, als bekäme er eine Ohrfeige. Zuletzt, indem er absichtlich gar nicht zuhörte, aber den Prediger starr ansah, überkam ihm eine tolle Sucht, laut aufzulachen, so daß sein Gesicht hinter dem vorgehaltenen Schnupftuch schwoll und glutrot wurde. Nur mit äußerster Anstrengung hielt er an sich. Erst als er, der puritanischen Armensünderenge der Kirche entflohen, wieder in freier Gottesluft leicht aufatmete, wurde es in ihm still und versöhnt. Der traurige Gottesdienst war, wie ein wüster Spuk im Traum, verschwunden und vergessen und die heiligen Klänge der Wildnis hallten rein und voll durch seine besänftigte Brust.

Frau Habichs und Herr Nicodemus aber stimmten, neben einander nach Haus gehend, überein, daß es eine sehr erbauliche und sinnreiche Predigt gewesen sei, wozu sie gleich noch die Bemerkung fügte, sie spüre eine bedeutende Leere im Magen und wünsche den Tisch gedeckt zu finden, wenn sie nach Haus kämen. Auch diesem Wunsche stimmte Nicodemus aus innerster Überzeugung bei.


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