Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel IV

Der ehrliche Leser wird vielleicht sehr begierig sein, zu erfahren, was das Ehepaar Habichs bei dem höchst wunderbaren und plötzlichen Verschwinden ihres Bruders und respektiven Schwagers sich alles gedacht und wie sie sich darüber den Kopf zerbrochen haben. Aber sie pflegten überhaupt selten über etwas anderes zu denken, als er über Geldgeschäfte und sie über Kaffeeklatschereien, beim Romanlesen nämlich dachte sie gar nichts; und was Kopfbrechen anbetrifft, so war Herr Habichs zwar ein großer Kopfrechner, aber durchaus kein Kopfbrecher, nicht einmal ein Pfeifenkopfbrecher, da er nicht rauchte, und die Frau Habichs hatte einen angeborenen Abscheu gegen alles Zerbrechen, sei es nun das eines Tassen-, Hauben- oder ihres eigenen Kopfes. Sie gingen zwar ganz verwirrt an jenem Abend schlafen, wurden von wilden und wüsten Träumen die ganze Nacht heimgesucht; aber am andern Morgen warfen sie Traum und Wirklichkeit zusammen, glaubten, das Verschwinden des Holofernes habe ihnen auch nur geträumt, und sie hätten es nur vergessen, daß er eigentlich ganz ordentlich und vernünftig, wie es gesetzten und wohlgesinnten Leuten ziemt, zur Tür hinausgegangen wäre.

Am andern Tage warteten sie auf ihn, und beschlossen, dass er wirklich Pate des Kindes werden sollte; denn man konnte es mit ihm nicht ganz verderben. Obgleich er leider kein einträgliches und honettes Amt bekleidete, so stand er doch im Rufe, Vermögen zu haben, und das konnte sein Patchen dermaleinst erben. Auch war einmal aus dem Wohnort des Holofernes bis in Habichs Haus ein dunkles Gericht gedrungen, Holofernes treibe unter anderen auch die Goldmacherkunst. Frau Habichs, die, wie alle Frauenzimmer, abergläubisch und geldliebend war, zweifelte hieran gar nicht, und obgleich der Herr Habichs sonst ein viel zu vernünftiger Mann war, um abergläubisch zu sein, so war doch Gold seine Liebhaberei, und in Hinsicht auf Liebhabereien ist jeder Mensch leichtgläubig und töricht; kurz, die Sache war ihm auch ganz plausibel, namentlich da er nicht begreifen konnte, wovon ein Müßiggänger sonst existieren könne.

Holofernes trat auch wirklich ganz unvermutet zur Tür hinein, als es eben die höchste Zeit war, und erklärte auf Befragen, der Knabe solle von ihm den Namen Junius erhalten, was dem Herrn Habichs gar nicht recht war. Doch Holofernes bestand darauf und das Kind wurde in dem alten, gotischen Dome der Stadt also getauft.

Als der Zug die Kirche verließ, sagte Holofernes zu Habichs, an dessen Seite er ging:

»Diese Alfanzereien und Spielereien mit dem Heiligen, wozu ihr Leute die Wertlosigkeit eines unschuldigen, unbewussten Geschöpfes mißbraucht, gefallen mir im ganzen gar nicht; aber etwas ist mir bei der Taufe des kleinen Junius doch lieb, nämlich, daß er sie in einem erhabenen, riesenhaften, wahrhaft groß, fromm und künstlerisch gedachten Spitzbogenschiffe, umweht von kühlen Dämmerungsschauern empfangen hat, und vor allem, daß die Fenster dort alle aus vortrefflichen Glasmalereien bestehen, die das hereinbrechende Licht zugleich erhöhen und dämpfen und jenen eignen, wunderbaren Zusammenguß von brennendster Farbenglut und ehrwürdigster Nacht, von träumerischester Gestaltenbevölkerung und heiligster Einsamkeit erzeugen, der sich, einmal geschaut und empfunden, mit leiser, doch überwältigender Macht in jede Brust versenkt und dort, fort und fort, ein unerschöpflicher, geheimnisvoller Quell großer und hoher Gedanken, heiliger, süßer Empfindungen bleibt. Glaubt mir's, Schwager! der wichtigste Teil der Erziehung des Kleinen ist nun schon vollbracht, dadurch, daß schon so frühe die Gewalt jenes Eindrucks auf seine noch ungeübten und unbewehrten Sinne los und eingebrochen ist, wie ein kriegerisches Heer in eine unbewachte Festung!« – »Kann Euch nicht ganz verstehen und beistimmen, Schwager,« sprach Habichs. »Kann überhaupt das viele Schwatzen über unwichtige Dinge nicht leiden. Die Glasbilder sind recht zierlich und bunt; aber wenn man sie sieht, ist's gut; und kommt man aus der Kirche wieder heraus, so hat man sie gesehen, und es ist auch gut. Weiß nicht, was Ihr mit dem Versenken, und dem unerschöpflichen Quell, und den heiligen Gefühlen usw. wollt, das sind so schnurrige Redensarten in Eurem Geschmack.« –

»Nicht doch, Herr Schwager! wenn Ihr dergleichen auch noch nie an Euch erfahren habt, könnt Ihr's denn nicht nachfühlen, wie zum Beispiel ein einziger bedeutungsvoller Blick von einer Geliebten, mag sie auch nachher vergessen oder gestorben oder treulos geworden sein, in einem süßen geweihten Augenblick gespendet und empfangen, ein ganzes künftiges Leben leise und mild vergolden und verherrlichen kann: nicht anders, wie die untergegangene Sonne über einer ganzen Gegend einen befriedenden, beseligenden Erinnerungsschimmer zurückläßt, als ob alle Rebenhügel und Wälder ringsum über die Herrlichkeit der geschiedenen Gottheit still und innig nachsännen?« –

»Das mag bei Euch so sein; aber ich habe nie Zeit gehabt, Romane zu lesen, denn ernstere Geschäfte hinderten mich daran. Überhaupt bin ich einmal ganz anders konstituiert, und danke Gott dafür. Aber wenn das alles auch seinen Grund hätte, so könnte doch bei einem ganz unvernünftigen Kinde, das noch nicht sprechen, noch nichts verstehen kann, gewiß keine besondere Wirkung der Art stattfinden, und ich danke Gott dafür; denn mein Junius, wie Ihr ihn leider doch einmal genannt habt, soll ein tüchtiger Geschäftsmann werden und der hat den Henker was mit heiligen Gefühlen, hohen Gedanken und dergleichen belletristischem Plunder zu schaffen.«

Da lachte Holofernes schadenfroh, aber aus gutem Herzen und sprach: »Bester Schwager, Eure frommen Wünsche helfen Euch jetzt nichts mehr; das ist verspielt! Wißt Ihr nicht, daß dieser Eindruck, eben weil er der erste bedeutende, auch der entscheidende ist; die erste Schule noch ganz ungeübter und nun plötzlich aufgerüttelter Fähigkeiten? Zehn Jahre lang schlummert er vielleicht in Eurem kleinen Junius, dann aber tritt er mit Macht hervor, in Gedanken und Wort, in Reim oder Farbe, in Gesinnung und Schöpfung und bedingt die ganze Lebensrichtung. Alle herrlichsten Dichtungen sind nur ein Zurückbesinnen in die früheste Kindheit des Dichters hinein; sie ist der eigentliche Fond und gibt den Kern; alle Lebenserfahrung gibt nur das Bei- und Kulissenwerk. Ja eigentlich ist alle Poesie nichts weiter, als ein Zurückerinnern an den Moment des Erzeugtwerdens, wo durch die ewige Urkraft des erobernden Hingebens und hingebenden Eroberns das junge Organon als Keim gestaltet wurde und von nun an das lebendige Gesetz des Wachsens, Aufblühens und geistigen Fortwerdens unwiderruflich in ihm pulsierte. Und je energischer, reiner und edler dieser geheimnisvolle Augenblick gefeiert und genossen wurde, desto reicher und tiefer ist dereinst das Gemüt des Werdenden. Ich könnte füglich noch weiter gehen und das Göttliche im Menschen von Keim zu Keim zurück verfolgen bis zum Urkeim, und dann ist am Ende alle Poesie, im Innern des Poeten betrachtet, nichts, als ein dunkles aber mächtiges Zurückerinnern an jenen ersten, heiligsten und gewaltigsten Augenblick der sich entäußernden Liebe, wo das Donnerwort Gottes: Es werde! das unendliche, wüste Nichts durchzuckte, so daß es, süß und schaurig erbebend, sein Wesen verlor und fortan mit Millionen von Keimen eines freudigen, rüstigen, schwellenden Lebens unwiderruflich schwanger ging. Und in diesen Keimen waren und fühlten wir ja auch schon. Alle Dichtung ist hiernach nichts, als ein leise mahnender, schwacher, stümperhafter Nachhall jenes ersten Schöpfungswortes, aber bei aller Mangelhaftigkeit doch eine sichere Gewähr der Gottähnlichkeit des Menschen, mithin auch der individuellen Unsterblichkeit. Ich deute Euch dies hier nur flüchtig an, behalte mir aber vor, es in meiner herauszugebenden Ästhetik, wenn ich sie je schreiben sollte, gelahrt und gründlichst zu erörtern. Die werdet Ihr aber wahrscheinlich nicht lesen, bester Schwager, denn ich sehe jetzt schon, daß Euch meine Theorie nicht zusagt; ihr seht verdrießlich, ja, wie mir scheint, sogar bleich und entsetzt aus. Also, um auf unser Thema, d. h. auf Junius und die Macht der ersten Eindrücke zurück zu kommen: meint Ihr, daß man brauchbare Mülleresel unter Rosenbüschen erzieht? Hättet Ihr Euren Jungen in Eurem gespenstig nüchternen Turmbureau, das auch einen gewaltigen Eindruck macht, einen gewaltig langweiligen nämlich, taufen lassen, dann hättet Ihr vielleicht hoffen können, einen Kassabuchautomaten aus ihm zu ziehen. Nun aber ist's vorbei und Ihr habt einen Poeten, ein Genie zum Jungen.« –

Bei diesen beiden Worten, die dem Herrn Habichs die unleidlichsten in der ganzen Sprache waren, schauerte er zusammen und schwieg, teils aus Schreck, teils, weil er nach seiner Meinung heute überhaupt schon viel zu viel geschwatzt hatte, wobei nichts herauskam. »Also ein Vagabund!« seufzte er nur ganz still in sich hinein, denn dies Wort hielt er für gleichbedeutend mit Poet und Genie. Doch den Eindruck der Prophezeiung kräftig abschüttelnd, dachte er im nächsten Augenblick: »Ach was, dummes Zeug!« Holofernes aber lachte für sich und weidete sich herzinnig an dem Entsetzen seines Schwagers.


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