Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel X

Nur seiner kleinen Schwester Malwina, die noch, wie eine Blume, halbbewußt lächelnd in der Wiege lag, vertraute Junius alle seine Wonne an. Oft wenn niemand anders dabei war, saß er da und wiegte sie und sang der noch nichts Verstehenden zu, was ihm Wald und Wildnis anvertraut hatten. So sang er einmal folgendes.

(Der vershassende Leser wird gebeten, es zu überschlagen, da es sehr lang und auch etwas langweilig ist.)

Wenn von fernen Donnerschlägen
Leis des Felsen Stirn erbebet;
Dann erwacht ein mächtig Regen,
Und ein alt Erinnern lebet:
Wie er einst umhergerissen
Ward im Riesenkampf der Kräfte,
Als in wüsten Finsternissen
Zuckten erste Flammenschäfte.
Ha! das war ein lustig Ringen,
Lebenstobend, ungeheuer,
Wie erstickend sich umschlingen
Jene Riesen: Meer und Feuer.
Ungeformte Bergesmassen,
Denen: Halt! noch nicht geboten,
Durften mit im Kampf sich fassen?
Jetzo ruhn sie, wie die Toten.
Welch ein Krachen, Gären, Sieden!
Welch ein Zischen, Wühlen, Schäumen!
Auch dem Felsen war's beschieden,
Lebenstrotzig sich zu bäumen.
Doch da fuhr von Gottes Bogen
Mildes Licht in Schauern nieder,
Und die leichten Pfeile flogen
Tötend durch die Riesenglieder.
Ein Versöhnen und Verteilen
Breitete sich aus gelinde;
Fels muß ewig träg' nun weilen,
Rings umhöhnt vom flücht'gen Winde.
Daß da leben Zwerggeschlechte,
Starrt im Tod der Riesen Orden,
Kriegern gleich, die im Gefechte
Plötzlich sind versteinert worden.
Trotzen noch mit wilden Stirnen
Himmelauf, des Zorns Bildsäulen,
Schwingen noch die zackigen Firnen
Sternen zu wie drohnde Keulen.
Und hat der Gewalt'ge droben
Auch den schönen Kampf erstarret,
Mag die Kraft im stillen toben,
Die auf neues Chaos harret.
Doch des Lichtes süßes Kosen
Nie entmark' es uns die Glieder!
Erst bei Wetterschlag und Tosen Bricht die alte Fessel wieder.
So tönt' es in grollendem Grimme,
Tief innen aus felsichtem Kern,
Da sangen mit säuselnder Stimme
Die Wellen des Meeres von fern.
Und weich aus dem Weichen enttauchet,
So lieblich, gewaltig und groß,
Wie Schäume zusammengehauchet,
Entsteigt's aus dem schäumenden Schoß.
Es wandelt die Siegerin: Liebe,
Die Allesgebärende hin
Und wandelt zu schaffendem Triebe
Den wüsten titantischen Sinn.
Die ewige Schöne, sie streuet
Die Keime zu lieblichem Sein;
Allleben nun reget und freuet
Und zeuget sich friedlich und rein.

Welch ein süßes, frisches Hauchen
Hat des Felsen Brust getroffen!
Muß er ganz in Balsam tauchen
Seinen Leib, den harten, schroffen?
Junge, schwanke Rosenbüsche
Wehn vom Haupt ihm mit Genicke,
Schauen auf zu Himmelsfrische,
Tausend holde Kindesblicke.
Wirre Ranken lächelnd schlüpfen
Um die Stirne rings dem Alten,
Voller Mutwill' sich verknüpfen,
Und ihn süß gefangen halten.
Und es rieseln milde Quellen
An der Brust des Stolzen nieder,
Frische Blumenrasen schwellen,
Wecken frohe Lerchenlieder.
Ließ ich dennoch mich betören?
(Denkt er, schüttelnd leis die Locken)
Schlummr' ich nun bei weichen Chören,
Ließ die alten Kräfte stocken?
Liebe ward aus altem Zorne
Durch ein süßes Wellenhauchen,
Der, wie einem heil'gen Borne,
Goldne Kräfte nun enttauchen.
Ward ich bei dem Tausche schwächer?
Leben quillt aus meinen Wänden;
Als der alte, dunkle Rächer
Könnt' ich nicht ein Blümlein spenden.
Wie das sprießt und sich entfaltet!
Wie das grünt und wächst und schaukelt!
Wie das kräftig sich gestaltet?
Wie das leicht und lieblich gaukelt!
Das ist Tat und Kraft des Lebens,
Nicht des Chaos dumpfes Toben;
Das ist Preis des Heldenstrebens
Von der Liebe Hand gewoben.
Nur von deiner Hand, der weichen,
Sei mein Tun mir zugemessen;
Nichts wird meinem Glücke gleichen,
Und das Chaos ist vergessen.

Dies und noch vieles andre sang Junius seiner kleinen Schwester Malwina vor, die natürlich nicht das mindeste davon verstehen konnte und die höchstens, wenn der Takt und Gleichlaut des Verses ihr junges, ungeübtes Ohr zauberisch berührte, ein dunkles Gefühl des ersten, kindischen Erstaunens haben mochte, wie etwa die eben aufbrechende Knospe beim Lied der Nachtigall. Junius führte so, unbewußt, die Theorie seines Onkels Holofernes von der Macht der ersten Eindrücke praktisch aus, und, hiernach zu schließen, mußte Malwinas Seele schon früh zu reiner Harmonie gestimmt werden, da die ersten, ihr noch unverständlichen Worte, die sie zu hören bekam, rhythmisch und harmonisch ineinander klangen.

Aber für Junius kam jetzt eine schwere Zeit. Er sollte nämlich nun, da er lesen und schreiben konnte, auch rechnen lernen, und zwar, wie der Leser weiß, aufs gründlichste. Man kann leicht denken, daß er jetzt, wo süße Melodien fortwährend sein Haupt durchsäuselten und, ihn von allem andren abziehend, ihn ganz gefangen hielten, noch viel weniger fähig und willig zum Lernen war, als sonst, zumal zum rechnen lernen. Auch zeigte sich schon in der ersten Lehrstunde seine totale Unkapazität. Mit Mühe konnte er nur zur Aufmerksamkeit gebracht werden, und war das auch durch unangenehme Drohungen und Scheltworte gelungen, so stierte er dumm auf sein Blatt und ins Gesicht des Herrn Nicodemus. Dieser demonstrierte sich matt und heiser, und wenn er dann endlich gewiß war, den Knaben unbestreitbar überzeugt und gewonnen zu haben, so fand sich, daß dieser gar nicht wußte, wovon die Rede gewesen war. Er starrte den Lehrer an und benahm sich wie ein Blödsinniger; es war kein Wort aus ihm herauszubringen, so daß Nicodemus und Frau Habichs, ihn für böswillig verstockt hielten. Herr Habichs, dem die Sache endlich nicht mehr vorenthalten werden konnte, ging so weit, ihm ein paar Ohrfeigen zu geben. Das hatte aber keine andre Folge, als daß Junius einen Tag und eine Nacht hindurch bitterlich weinte. Auch Versprechungen und Geschenke fruchteten nichts. Junius versuchte wirklich, sich Mühe zu geben und zu begreifen. Aber so wie sein Lehrer nur von Zahlen sprach, war es ihm ganz so, als höre er irgend ein barbarisches Kauderwelsch, das unmöglich zu enträtseln sei. Die Klänge und Zeichen, die dabei gebraucht wurden, verfolgten ihn wie Gespenster selbst in die schöne Welt, wo er sich sonst heimisch und selig fühlte. Er kam zu keinem frohen Augenblicke mehr. Einmal des Nachts träumte er, er wandle sinnend, mit gesenktem Haupte, in der grünenden, blühenden Wildnis hinter dem Garten. Auf einmal rannte er mit der Stirn hart an einen hohen, graden Pfahl, den er sonst nie da gesehen hatte. Als er ihn aber näher ansah, war es die 1. Er lief voll Angst und Schreck davon, die 1 aber rutschte hinter ihm her, und auf ihn zu watschelte ein großer Vogel, ähnlich einem Schwan, mit langem, gebognen Hals und spitzem, nach unten gerichteten Schnabel; der hackte immerfort nach seinem Auge; das war aber die 2. Entsetzt sprang er seitwärts; da zischte ihm entgegen eine Klapperschlange, die tanzte auf dem Schwanz, erhob sich in großer Krümmung, kringelte sich dann in einer zweiten, kleineren, in die Höh, den Kopf nach unten auf Junius gerichtet; das war die 3. Er wollte fliehen; da stand vor ihm seines Vaters große Nase, auf eine Stange gesteckt, wie einst die irdenen Schlangen in der Wüste, und wehrte ihm den Ausgang; das war die 4. Und unten an der Stange war ein blankes Beil an krummen Stiele, der am Ende beweglich befestigt war, das hackte immerfort maliziös auf die Erde, so daß es ihm die Füße abgehackt hätte, hätte er einen Schritt weiter getan; das war aber die 5, verkehrt liegend. Ein schmaler Ausweg blieb ihm noch, um dem Pfahl, dem Vogel, der Schlange, der Nase, der Axt zu entwischen. Darauf rannte er zu; aber entsetzt stutzte er, denn den Ausgang hielt versperrt ein aufgerichteter Galgen, an dem baumelte ein Strick, zur Schleife gelegt, weit offen, hin und her und schnappte nach Junius Kopf und Hals, um ihn dann herauf zu ziehen und zu hängen. Das war aber die 7, an der die 6 baumelnd hing. Entsetzt prallte er zurück, als die schwankende Schnur schon sein Kinn berührte.

Jetzt stand er regungslos, im Kreise um ihn her die höllische Versammlung der spukhaften Zahlenungetüme, die immer näher rückend, ihn bedräuten und ängstigten. Er wollte laut aufschrein, aber das Entsetzen schnürte ihm die Kehle zu. Wie er so wild und verstört im Kreise herumblickte, ob kein Mittel zur Flucht offen sei, fühlte er plötzlich den Fuß ekelhaft berührt. Rasch sah er zu Boden und siehe! ein ungeheurer breitgeplatschter Skorpion war auf ihn zugekrochen und zwackte mit zwei großen, krummen Scheren nach seinem Bein. Das war aber die auf der Erde kriechende 8. Jetzt aber gab der äußerste Schreck ihm Kraft zu einem angstgepreßten Schrei, den er zu lang stöhnendem Gebrüll ausdehnte und sich dadurch selbst erweckte. Er schlug die Augen auf, schnell erfreut, daß es nur ein Traum gewesen sei, da – hu! zum Fenster herein guckte ein großes, rundes, bleiches Gesicht, das sich an einem dünnen, krummen Hals über das Sims des Fensters bog; das war aber die 9. Jetzt schrie er überlaut: »Mutter, Mutter!« versteckte sein Gesicht ins Kissen und schwitzte über und über. Die Frau Habichs war durch das vorige Schreien und durch diesen Ruf völlig wach geworden, kam aus der Nebenstube herzu und fragte besorgt, was ihm wäre. Weinend und verwirrt gab er unzusammenhängenden Bericht

»Du hast nur geträumt (sprach sie), schlafe wieder ein und sei still, lieber Junius!« Junius wagte einen Blick nach dem Fenster; da sah er, daß das Gesicht mit dem krummen Halse nichts war, als der Mond, von dem ein gekrümmter Wolkenstreif sich herabzog. Da ließ er die Mutter gehn und schlief wieder ein. Jetzt schwebte er über einem stillen, runden See und schwebte leise hinab und in die Wellen, die leis über ihm zusammenschlugen und ihn in bewußtlosem Selbstvergessen begruben. Der See aber war die o, in der schlief er ruhig, bis zum Morgen.

Natürlich hatte ihm dieser Traum eben keine größere Lust zum Rechnen beigebracht. Nicodemus, der seine Existenz bedroht sah (denn die Versuche dauerten bald ein Jahr, und Junius wußte noch gar nichts) wurde ganz gegen seine eigentliche Natur, aus Selbsterhaltungstrieb, streng und hart und peinigte den armen Jungen unaussprechlich. Aber auch das half nichts, und Nicodemus mußte noch obendrein von der Frau Habichs Artigkeiten darüber hören, als: »Aber Herr Nicodemus! Sie mißhandeln das arme Kind. Wenn Sie nicht wissen, wie man mit gebildeten Kindern umzugehen hat, so hätten Sie ganz wegbleiben können.«

»Aber der Kleine lernt sonst nichts, Madame; Strenge ist durchaus nötig.« –

»So urteilen Sie vielleicht von Sich (sprach sie mit emporgeworfener Nase vornehm verächtlich). Bei den Kindern Ihres Standes mag dieser Prinzipius gelten; aber gutgearteten Kindern aus guter Familie, wie mein Junius ist, bringt man alles mit Liebe und Güte bei, wenn man die rechte Methode hat. Aber freilich: Methode muß man verstehn, sonst bringt man es zu nichts, und es scheint mir fast, daß wir uns von Ihren Talenten als Lehrer zu sanguinäre Hoffnungen gemacht haben.« –

Als Nicodemus merkte, daß der Wind daher blies, und daß seine Existenz auf jeden Fall gefährdet sei, er möge nun streng sein, oder mild, ging er plötzlich, nachdem er seines Schülers Verschwiegenheit und Verschmitztheit erst gehörig sondiert hatte, zu einem ganz entgegengesetzten System über. Der Selbsterhaltungstrieb ließ ihn, da seiner Hauslehrerschaft Schiffbruch drohte, alle seine natürliche Redlichkeit als hinderlichen Ballast über Bord werfen, und er stiftete mit Junius ein Komplott, die Eltern beide fortan zu betrügen. Unter dem Vorwand, Junius dürfe während der Lehrstunden durch nichts gestört und zerstreut werden, wenn er etwas fassen solle, was ihm schwer werde, schloß er sich jetzt, was er sonst schon mitunter getan hatte, regelmäßig mit ihm in sein eigenes Zimmer ein. Da ließ er ihn lesen und treiben, was er wollte, und schrieb ihm nur einige kleine Exempel nebst ihrer Lösung auf, die Junius bloß ganz mechanisch abzuschreiben brauchte, und die dann als Ergebnis der Lehrstunden vorgezeigt wurden. Vorsichtig lobte er erst des Junius Fortschritte nur ganz mäßig, ward aber nach und nach dreister darin, so daß Junius, abschreibend, von einer Rechnungsart zur andern überging, ohne die erste je begriffen zu haben. Fiel es Herrn Habichs einmal ein, sich von den Kenntnissen seines Sohnes selbst zu überzeugen, so wußte es Nicodemus immer so einzurichten, daß er selbst den Knaben examinierte, und dann hatte er schon längst vorher ihn mit unsäglicher Mühe etwas auswendig lernen lassen, was grade zu dem jedesmaligen vorgefabelten Standpunkt paßte, und daß Junius dann auf Befragen herplapperte. Herr Habichs aber war des Abends stumpf vom Turmsitzen und mithin leicht zu täuschen.

Auf diese Weise hoffte Nicodemus die Sache noch einige Jahre hinzuhalten und so lange noch Unterhalt und Sold zu genießen. Bis dahin aber glaubte er sich einen andern selbständigen Lebenserwerb gesichert zu haben. Denn nicht der Selbsterhaltungstrieb allein hatte ihn zu seinem neuen System vermocht; nein! er gewann auf diese Weise auch Zeit für sich selbst, und die brauchte er vollauf, denn er hatte gar große Dinge vor. Damit hatte es aber folgende Bewandnis.

Der Leser erinnert sich, daß Nicodemus, obgleich er es nicht gestand, an dem Guckglas des Onkels Holofernes allerdings etwas ganz Außerordentliches bemerkt hatte. Gar zu gern hätte er das Glas gehabt, um fernere Versuche damit anzustellen, aber er wagte nicht, Herrn Habichs darum zu bitten, denn er wußte wohl, daß man es ihm doch nicht anvertrauen würde. Nun kam es, daß Herr Habichs ihn einmal mit sich in seine Stube nahm, um ihm sein Honorar zu bezahlen. Da sah er, als dieser den Schreibtisch öffnete, das geheimnisvolle Glas, mächtig lockend, in einer Ecke desselben versteckt liegen. Er konnte nicht widerstehn. Sich nonchalant stellend näherte er sich dem Tisch und stützte sich nachlässig drauf, und als Habichs sich einen Augenblick abwandte, wagte er einen raschen Griff, und in der Tasche war das Glas. Er wollte es nicht grade stehlen, aber benutzen, und dann heimlich wieder hinpraktizieren; dennoch glühten seine Wangen und seine Kniee zitterten. Herr Habichs aber merkte die Entwendung nicht

Nicodemus nahm nun einen einsamen Augenblick, als er im Garten unherging, wahr, und nachdem er sich scheu umgesehen, ob ihn auch Niemand von den Fenstern des Hauses oder von einer Laube aus beobachten könne, führte er das Glas keck zum Auge und schaute umher. Nun erwachten zwar nicht tausend süße Lieder für ihn, wie damals für Junius; aber doch stand er plötzlich ganz verdutzt da und sperrte den Mund weit auf. Endlich sammelte er sich und guckte noch einmal, und das Staunen trieb ihn zu lautem Selbstgespräch:

»Wie ist mir? Was schaue ich da, was ich sonst nie gewußt? Siehe! wie das Monocotyledon (es stand nämlich ein kleiner Palmbaum des Sommers im Freien in einem großen Topfe) jedes Jahr von innen herausschießt in neuem Stengel und wie das Leben im Inwendigen durch die Kanäle steigt! Und schau das Dicotyledon! wie es von Jahr zu Jahr eine neue Schicht von Lebenskanälen von außen rundum ansetzt, und wie die Lebenskraft in der äußersten Schicht, um den erstorbenen Kern herum, auf- und absteigt. Und schau das feine, spiralförmig zu Strängen gedrehte Zellgewebe! Wie der Lebenssaft, von den Wurzelfaserspitzen getrunken, in den feinen Kanälen emporgesogen bis zur äußersten Blattspitze aufsteigt, und wie er, durch das andere System von Kanälen, geläutert und kräftigend zurückfließt bis zur Wurzel! Und schau im weißen Zellgewebe des Blattes die unendlich kleinen, farbigen Kügelchen, die, zusammenschimmernd, es mit jenem frisch grünen Farbenglanz überhauchen! Und was alles sehe ich nicht sonst noch! O ich Glücklicher! wie viel kann mir das einbringen! Das kann mir eine selbständige Existenz verschaffen und ich brauche nicht mehr vor der Frau Habichs zu stehen wie ein bepißter Pudel, wenn sie mir unausstehliche Grobheiten ins Gesicht wirft.« –

Nicodemus war außer sich; aber er überwand sich, und ließ sich nichts merken. Von Stund an beschloß er, das Guckglasstudium regelmäßig und fleißig zu betreiben. So oft er konnte, tat er es im Garten und in der Wildnis selbst; sonst aber steckte er allerhand Pflanzen in die Tasche und trug sie auf sein Zimmer, wo er halbe Nächte lang an ihnen schaute und forschte. Und alles wurde ihm klarer und klarer, nicht nur die mechanische und chemische Zusammensetzung der Teile, sondern alle organischen Funktionen sah er deutlich und unwiderlegbar durch das Guckglas; das Keimen, Wachsen, Atmen, Blühen, Begatten der Pflanzen, alles sah und verstand er. Er borgte sich ein ganz neues, berühmtes botanisches Werk und verglich seine Beobachtungen mit den darin niedergelegten. Wo der Schriftsteller mit sich einig war und klar und frisch von der Leber weg sprach, da stimmten die Beobachtungen überein. Wo dieser aber dunkel und verworren wurde und die Unsicherheit und Verlegenheit des Nichterkennens nur schlecht hinter hohem Wortkram und abenteuerlichen Hypothesen verbarg, da sah Nicodemus, lächelnd, wie alles ganz anders und wie oft der ganze Wirrwarr durch ein einziges Wort zu lösen sei.

Jetzt kam ein neuer Geist über Nicodemus. Was er erst nur als Existenzmittel, um äußren Vorteils willen ergriffen hatte, das überwältigte ihn jetzt. Es erwachte wirklich ein höherer, wissenschaftlicher Sinn in ihm und mit Begeisterung (so weit er deren fähig war) beschloß er, ein tüchtiges Werk voll neuer Aufschlüsse zu schreiben. So mächtig wirkte das Guckglas selbst auf diesen, von Natur ziemlich nüchternen Menschen. Es schien überhaupt auf jeden nach Maßgabe seiner Geistesfähigkeit zu wirken. Nicodemus hatte doch durch Erziehung und Beschäftigung einen gewissen wissenschaftlichen Beischmack gewonnen und sah daher mehr durch das Glas als die andern, die in den Gänsen und dem Raben nur eine sehr triviale Satire auf ihre eigene Trivialität gesehn hatten.

An diesem Werke nun arbeitete Nicodemus Tag und Nacht und dazu benutzte er auch die unterschlagnen Lehrstunden. Und wie sein Manuskript wuchs, bekam er, genau im Verhältnis der Bogenzahl, immer mehr Respekt vor sich selbst. Als er einige Druckbogen daliegen hatte, faßte er den mutigen Entschluß, diesen seinen Selbstrespekt auch gegen seine Umgebung geltend zu machen. Er wurde weniger dienstfertig gegen die Frau Habichs. Diese merkte es und wurde erst empfindlich, dann einmal unangenehm. Aber inzwischen war das Manuskript des Nicodemus und mit ihm seine Courage wieder gewachsen. Er wagte das Unerhörte und wies das Unangenehmwerden der Frau Habichs mit Ernst und Würde zurück. Diese, ganz verblüfft, nicht mehr den demütig apportierenden Pudel vor sich zu sehn, wußte erst gar nicht, was sie sagen sollte. Nicodemus harrte ihrer Antwort, über seinen eignen Mut erbebend. Und siehe! ganz wider Vermuten lenkte sie ein und vertuschte. Das Manuskript wuchs noch mehr; Nicodemus wurde kalt und stolz; Frau Habichs erschrak, ließ es gelten und wurde artig. Das Manuskript wuchs noch mehr; Nicodemus wurde kategorisch und nach Umständen grob; Frau Habichs schwieg, fürchtete sich vor ihm und wurde zuvorkommend. Das Manuskript wuchs noch mehr. Nicodemus wurde impertinent und fordernd und siehe! Frau Habichs war die Geschmeidigkeit und Gefälligkeit selbst und sah ihm alle seine Wünsche von den Augen ab.

Nun sah Nicodemus zu spät und seufzend ein, wie er sich schon längst hätte bessere Tage bereiten können, denn er konnte ja auch eben so gut ohne Manuskript (von dem die Frau Habichs gar nichts wußte) von Anfang an sukzessive grob werden, und der Erfolg wäre derselbe gewesen. Diese einfache psychologische Wahrheit war ihm aber früher nie in den Sinn gekommen. Übrigens hätte ihm die wissenschaftliche Selbstachtung allein doch nicht den Mut zu diesem Verfahren gegeben, wenn ihr nicht, als Arrieregarde, die gewisse Hoffnung auf epochemachenden, schriftstellerischen Erfolg, folglich (diesen Schluß zieht nämlich der unpraktische, unbewanderte Nicodemus, nicht Schreiber dieses) auf viele, schwere Geldsäcke den Rücken gedeckt hätte. Denn Nicodemus sah sich nun schon als einen gemachten Mann an, von dem allein es abhinge, sich jeden Augenblick von aller Welt zu emanzipieren und unabhängig hinzustellen.

Von dem betrügerischen Treiben des Nicodemus und ihres Sohnes in Hinsicht der Lehrstunden merkte Frau Habichs nicht das mindeste; erstens, weil sie überhaupt nichts davon verstand, und zweitens, weil sie nun sich mit völliger Wut dem Lesen der verrücktesten Romane hingegeben hatte. Diese verschaffte Nicodemus ihr nach wie vor; aber er sah das nun nicht mehr als einen schuldigen Knechtsdienst an, sondern im Gegenteil als ein Mittel, sie zu tyrannisieren. Er durfte nur Miene machen, in seiner Dienstfertigkeit aufzuhören oder gar Herrn Habichs die Lektüre zu verraten, so ließ sich die geängstete Frau um den Finger wickeln. So saß sie nun den ganzen Tag, das hochrote, erhitzte Gesicht mit verschlingenden Augen aufs Buch geneigt, während die Finger ihren gewohnten Ballettanz mit den Stricknadeln blindlings fortsetzten und je kürzer (durchs Ablesen) der Roman wurde, desto länger wurde (durchs Anstricken) der Strumpf, und je bacchantischer sie die Buchstaben vor ihren Augen vorbeitanzen ließ, desto bacchantischer tanzten unten die Stricknadeln dazu. Wenn sie dann so ein Ungeheuer von fratzenhafter Unnatur, Schwulst und unlauterer Glut verschlungen hatte und es ihr im Hirn wüst und wirbelnd durcheinander ging, und sie glühte und schnob, wie ein dirnenhaftes Fräulein, das von heißem Punsch und wildem Tanz erhitzt und trunken ist: dann bildete sie sich noch was recht's auf ihre schöne Seele ein, die allein fähig sei, sich mit dem Dichter in jene höheren Regionen emporzuschwingen, wohin gemeine, prosaische Alltagsmenschen freilich nicht folgen könnten. Und sie gab das Buch dem Nicodemus zurück, ihm für den unaussprechlich schönen Genuß dankend und bittend, er möge ihr mehr solche schöne, moralische Bücher bringen zur Veredlung ihrer Seele und Vergrößerung ihrer allgemeinen Bildung.

A. d. T. d. O. H.

In rohen Zeiten, bei noch werdenden Gesellschaftseinrichtungen, wo der Mensch noch Mensch ist, und nicht, wie jetzt bei uns, Konvenienzmarionette, da mag jeder sich auf sein Gefühl verlassen, als auf das Rechte. Höchstens führt es ihn zu Gewalttat und zu kräftiger Grausamkeit (die sehr wohl von der weichlich wollüstigen eines überbildeten Nero zu unterscheiden ist). Aber jetzt, wo unser ganzes Leben von Kindheit an nur eine Schule ist, das reine Menschengefühl gut zu verstecken und in den Flitterkram hergebrachter Redensarten seine schöne Nacktheit zu verkleiden, jetzt möchten wir wohl das ursprünglich energische, lautre und echte Gefühl längst eingebüßt haben, und was uns davon übrig blieb, ist eine kränkelnde, schwächliche Abart, die ebensowohl schlecht als gut sein kann und auf jeden Fall immer verdächtig ist. Welcher Unsinn, sich irgend ein Gefühl (wie so oft geschieht) zum Verdienst anzurechnen, und sich auf Grund dessen über andre erhaben zu fühlen! diesen passivsten aller Zustände, der gerade den Schwächling am unwiderstehlichsten überkömmt! Und wäre ein Gefühl wirklich ein echtes und schönes gewesen (was noch immer in Frage steht), so liegt schon in dem bewußten Hervorheben desselben, in diesem sich etwas damit Wissen, ein solcher Mangel an Unschuld, der durchaus Frechheit genannt werden muß. Namentlich ein Weib, das ausdrücklich, im Gespräch oder gar im Briefe, ihres »zarten und tiefen Gefühls« erwähnt und damit prahlt, ist sicherlich und ohne Widerrede eine Buhlerin; wenn auch nicht de facto, doch gewiß mit Sinnen und Gedanken. Unser modernes Gefühl, das doch keine Tat erwecken darf und kann, ist nichts als ein wollüstiges sich Hingeben und Brüten, das meist zu schändlicher, weichlicher Geistesunzucht führt, wenn wir seine dumpfen Schlupfwinkel nicht rasch mit der kaltbrennenden Fackel des Gedankens lichten. Ich rede hier hauptsächlich von dem, was man in der Regel »fromme und heilige Gefühle« nennt. Sie sind gerade die unreinsten und verderblichsten, und ein Pietist, sei er auch kein Heuchler, ist der verfaulteste, schmutzigste aller Menschen, zu allem Schlechten und Ekelhaften fähig. Schon einem, den du rasch und leicht gerührt siehst, traue nicht; er ist mindestens ein leichtsinniger, unzuverlässiger Mensch; der Drang der Verhältnisse kann ihn zum Schuft machen.

Unsere Pflicht ist jetzt das Denken. Nur in klaren, durchsichtigen, hellen Gedanken dürfen wir uns erlauben zu fühlen; sie müssen das Gefühl gestalten, dann mögen wir es gelten lassen und als unser teuerstes Kleinod bewahren. Und es gibt eine Gedankenbegeisterung, die nicht minder energisch, und göttlicher ist, als der Gefühlsenthusiasmus älterer Zeiten. Aber alle formlose Empfindung, die mit dunklen Eindrücken uns umwittert und ein verwirrendes, verfinsterndes Netz uns über die freie, helle Stirn wirft, haben wir kalt und streng abzuweisen, denn wir wissen nicht, bis zu welcher Schandtat sie uns führen kann; am meisten aber seien wir auf der Hut, wenn diese Empfindung uns durch einen Heiligenschein zu imponieren sucht. Das alles sollte schon Kindern bei ihrer Erziehung, soweit sie es fassen können, klar gemacht werden, da Selbsttäuschung bei ungebildeten Geistern hier faßt unvermeidlich ist. Wie manches, von Natur aus edle Gemüt wälzt sich in ekler, lasterhafter Brunst, und bildet sich dabei noch ein, mit Gott dem Herrn selber zu verkehren.


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