Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel XIX

Schon am andern Morgen, nachdem Holofernes fort war, begann Herr Nicodemus, dem die Worte desselben schwer aufs Herz gefallen waren, seine Lehrstunden mit Junius mit erneutem Eifer und fing sogleich an, ihm Algebra vorzutragen, wobei er (was man ihm kaum zutrauen sollte) wohlweislich verschwieg, daß es eigentlich nur aufs Erlernen des praktischen Rechnens abgesehen sei. Er tat, als finge er etwas ganz Neues an, und Junius hieß es, als solches, mit Lebhaftigkeit willkommen. Wie erstaunte Nicodemus, als er den von ihm nur halb und dunkel begriffnen Fingerzeig des Holofernes glänzend bewährt fand! Junius begriff und behielt, und bei Lehrsätzen, mit denen Nicodemus als Knabe tagelang sich gequält zu haben sich erinnerte, sah Junius ihn, wenn er mit Eifer und Weitläuftigkeit demonstrierte, ganz verwundert an, denn er hatte, in rascher Kombination, längst alles übersehn, und wunderte sich, was da noch viel zu beweisen wäre. So durchflog er den Kursus mehr, als daß er ihn durcharbeitete, und wußte schon mit unglaublich rasch ordnender Geschicklichkeit des Geistes die verwickeltsten Buchstabenrechnungen, freudig im Gelingen, zu lösen, als Nicodemus es immer noch nicht wagte, ihm alle die praktischen Rechnungsarten in ihrer hausbacknen, nüchternen Nützlichkeitsgestalt unterzuschieben, deren allgemeine Formeln ihm längst geläufig waren. Er fürchtete immer noch einen Rückfall in das alte, an Blödsinn grenzende Nichtbegreifen, sobald wieder bestimmte und benannte Zahlen in des Junius Hirn ihren schwindlig machenden Marionettentanz beginnen würden. Endlich wagte er den Versuch. Junius staunte; aber die Umrisse waren zu fest in ihm, als daß er noch hätte konfus werden können. Schweigend folgte er einige Tage dem Verfahren des Nicodemus, statt des Allgemeinen Besondres in die Formeln zu schmuggeln, bis er endlich den ganzen Zusammenhang und den schlauen Plan des Lehrers begriff. Da sah er diesen an, lachte und rief: »Nun, Herr Nicodemus! Sie haben mich schön angeführt! Ja, stutzen Sie nicht! ich habe Sie jetzt. Aber ich dank' Ihnen herzlich. Am Ende bin ich nun gar noch, ohne es zu wollen und zu wissen, wie mein Vater sagt: zum brauchbaren Menschen geworden und das haben Sie zu stande gebracht. Hätten Sie's nur gleich so angefangen! Aber freilich: aus einem konfusen Jungen, wie ich bin, ist schwer gescheit zu werden, und man muß doch erst den richtigen Weg versuchen, ehe man dahinter kommt, daß der verkehrte grad einmal zum Ziel führe.« Dabei schüttelte er dem Lehrer treuherzig die Hand, und der war ganz erstaunt über den scharfen Blick eines so jungen Menschen. Von nun an ging alles gut. Am Vorabend von Junius' vierzehntem Geburtstage examinierte Herr Habichs seinen Sohn selbst und fand, daß er wenigstens zur Not tauglich sein würde, und daß mithin der Lehrer, wenn auch nicht besonders zu loben, doch auch nicht grade zu tadeln sei. Nach einigen Debatten mit seiner Frau ließ er sich endlich bewegen, den Geburtstag selbst dem Junius noch als Feiertag gelten zu lassen, Herrn Nicodemus aber versprach er auf den Morgen desselben die festgesetzte Gratifikation und, wenn er es begehrte, weitere Empfehlung. Nicodemus war seelensfroh, als am andern Morgen seine Freude noch unerwartet vermehrt wurde. Er bekam nämlich eine Antwort vom Buchhändler Nr. 13 und – o frohe Vorbedeutung! – ohne Manuskript. Zitternd brach er den Brief auf und richtig: der Verlag wurde angenommen, wenn er sich mit einem Louisd'or pro Druckbogen begnügen wolle. Der Verleger könne vor der Hand unmöglich mehr tun, da er sich eben erst etabliert habe und ihm kein bedeutendes Kapital zu Gebot stehe; doch hoffe er bei späteren Unternehmungen den Anforderungen des Nicodemus besser entsprechen zu können. Nicodemus war überfroh und genoß nun ein schon fast ganz aufgegebnes Glück doppelt, obgleich er eigentlich zu Anfang mindestens aufs doppelte Honorar gerechnet hatte. Aber jetzt schlug er ohne Säumen ein und tat sehr klug daran. »Was tut's? (dachte er) bei der zweiten Auflage bringst du alles wieder ein.« Der Unkundige! – Wenn aber der Leser wissen will, warum grade dieser dreizehnte Buchhändler das von zwölfen zurückgewiesene Manuskript annahm, so sei seine Neugierde hiermit befriedigt. Dieser Buchhändler war, wie schon gesagt, eben ein frischer Anfängling. Solche Leute brauchen Manuskript und haben außerdem noch keine traurige Erfahrung gemacht; es ist also etwas mit ihnen anzufangen, wie jeder Schriftsteller weiß. Demgemäß hatten sich auch schon einige 30 Manuskripte bei ihm eingefunden. Da er sich nicht ganz auf sich selbst verlassen wollte, lud er einen kleinen, blassen, magern, achselzuckenden Kerl von seiner Bekanntschaft, dessen Gesicht Bedenklichkeit, dessen Schritt und Tritt Vorsicht ausdrückte, und der wegen einiger Bildung und noch mehr Routine als Sachkenner angesehen wurde, zu sich zum zweiten Frühstück, um bei einer Flasche Rheinwein die Manuskripte vorläufig und oberflächlich durchzugehn und zu besprechen, welche davon sich wohl dem Stoffe nach am füglichsten annehmen ließen. Aber der kleine Kerl brachte bei einem nach dem andern immer mehr Schwierigkeiten, Besorgnisse und allgemeine Erfahrungssätze vor, indem er immer das Kind mit dem Bade ausschüttete und gleich von einer ganzen Literaturgattung, je nachdem ein Manuskript dazu gehörte, behauptete: es sei nichts damit zu machen; dergleichen gehe schlecht, habe ein zu enges Publikum usw. usw. Bei jedem solchen Ausspruch trank er dann regelmäßig sein Glas aus. Da ward der junge Buchhändler endlich ungeduldig und rief: »Aber Herr, etwas muß ich doch einmal drucken, mit etwas muß ich's doch riskieren! Und Sie mögen mir jetzt sagen, was Sie wollen, das da nehme ich vorläufig.« Dies sagend, schlug er blindlings auf das Manuskript des Nicodemus, nahm es auf und legte es beiseite. – Den andern Tag nahm Nicodemus Abschied von Herrn Habichs Hause und bezog sein eignes Stübchen. Da er in meiner Geschichte nicht mehr vorkommt, so sei folgendes kurz von ihm bemerkt. Die Wonnen des ersten Korrekturbogens, die des letzten, die des fertigen Buches, die der Annoncen und des Aussteilens am Buchhändlerladen zu schildern, kann hier nicht meine Absicht sein. Natürlich las Nicodemus mit fieberhafter Spannung von nun an alle wissenschaftlich kritischen Blätter, um sich respektiert zu lesen. Er war immer noch in bester Überzeugung, sein Werk müsse Epoche in der Wissenschaft machen. Endlich fand er die erste Rezension. Sie war weder warm noch kalt; gnädig anerkennend und vornehm tadelnd, ohne im mindesten auf den eigentlichen Punkt zu kommen. »Der Esel hat mich nicht begriffen!« rief Nicodemus und schob das Blatt weg. Er lauerte auf die nächste Rezension; da wurde er schrecklich »heruntergerissen«, daß er, als ein noch ganz unbekannter Mensch, nachdem der berühmte Hans und der allgemein anerkannte Peter längst diese und jene Wahrheit in ihren unsterblichen Werken außer allen Zweifel gesetzt hätten, es wage, plötzlich mit ganz entgegengesetzten Ansichten hervorzutreten. Aber (hieß es, liebreich begütigend, am Schluß) er sei wahrscheinlich noch jung und alles Talent sei ihm nicht gradezu abzusprechen. Vielleicht könne er später, nach reifen Studien über den jetzigen Standpunkt der Wissenschaft, Erträgliches leisten. – »Ist das Dummheit, oder Neid?« grollte Nicodemus und lauerte, immer noch nicht die Hoffnung aufgebend, auf die nächste Rezension. Er lauerte und lauerte – aber es kam gar keine mehr. Da hüllte er sich schweigend in das Bewußtsein seines Wertes und ward ein zahmer Menschenhasser. Er vergaß, daß, hätten sie ihn auch mehr anerkannt, diese Anerkennung doch lediglich dem Guckglase des Holofernes würde gegolten haben, von dem er wohlweislich in der Vorrede nichts erwähnt hatte. Indessen ging sein Buch, wenn auch langsam, ab. Es folgte ein andres, und sein Verleger blieb ihm treu. Auf Ruhm rechnete Nicodemus nicht mehr und zum Leben brauchte er, als nüchterner Gelehrter, sehr wenig. Dazu wußte er sich, durch konsequente Bemühung, Zutritt zu naturwissenschaftlichen und kritischen Zeitschriften zu verschaffen, und ließ dort seine Galle in beißender Polemik aus. So lebte er einsam und arbeitsam fort und starb, nachdem er eine Zoologie herausgegeben hatte und eben Materialien zu einer Mineralogie sammelte, als

ein dunkler Ehrenmann,
Der über die Natur und ihre heil'gen Kreise,
Mit Redlichkeit, jedoch auf seine Weise
Mit grillenhafter Mühe sann.

Das in seinem Nachlaß vorgefundne Guckglas des Onkels Holofernes befindet sich gegenwärtig, durch Erbschaft, im Besitz des Verfassers dieser Geschichte, allwo es der portofrei ankommende Leser selbst in Augenschein nehmen kann. Einige Jahre nach seinem Tode trat ein Gelehrter, der sich bedeutender Cliquenverbindungen erfreute, mit einem naturgeschichtlichen Werke hervor, das mit einem allgemeinen Hallo begrüßt und als neues, alles Frühere umstoßendes System ausposaunt wurde. Das Werk war aber weiter nichts, als ein ordnender und besser stilisierter Auszug aus denen des Nicodemus. Es ist gut für ihn, daß er dies nicht erlebte. Ruhe seiner Asche! –


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