Friedrich von Sallet
Kontraste und Paradoxen
Friedrich von Sallet

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Kapitel IX

Des andern Tages nach dem Mittagessen ergriff Frau Habichs schnell den Augenblick, ehe Herr Habichs noch in den Turm gegangen war, um vor ihm und dem obersten Schreiber, der auch mit an der Tafel aß, ihr Ermahnungs- und Erziehungstalent ins gehörige Licht zu setzen, was freilich bei beiden ganz verlorne Mühe war, denn Herr Habichs namentlich hielt alles und jedes Reden, das nicht die Abschließung eines Geschäftes herbeiführte, für einen schändlichen und müßiggängerischen Mißbrauch der Sprache. Die Frau Habichs aber ließ sich durch seine Teilnahmlosigkeit nicht stören, denn sie gedachte, durch konsequentes und nachdrückliches Reden dieselbe zu überwinden. Sie nahm Junius an ihr Knie und sprach im Triumph ihres Moralstolzes, preziös-pathetisch und affektiert-liebevoll: »Nicht wahr, mein lieber Sohn, du wirst so was nicht wieder tun? Kinder dürfen sich nicht ohne Erlaubnis so lange von Hause exkusieren. Und das notifiziere dir für dein ganzes periculum vitae (sie wollte sagen: curriculum), mein lieber Sohn: man muß immer vorsichtig sein. Glaube mir, wer sich mutwillig in Gefahr begibt, der besudelt sich, und wer Pech angreift, der kommt darin um, und namentlich dürfen Kinder nie etwas naschen, was ihnen nicht von Erwachsenen gegeben worden ist.« –

»Ich werde doch wohl eine Erdbeere im Walde essen können? (sprach Junius, schon verdrossen) für wen wächst sie denn, als für den, der sie findet?« –

»Siehst du, mein lieber Sohn? Da hast du den Beweis: Kinder dürfen nie naseweis sein, denn Kinder haben immer unrecht. Du hast keine Erdbeere, sondern eine Belladonna anthropos gegessen; das hat der Herr Doktor, der ein sehr gescheiter Mann ist, gleich rekognosziert.«

»Der Herr Doktor weiß auch was Rechts! es war eine schöne rote Erdbeere, weiter nichts. Ich werde wohl wissen, wie eine Erdbeere aussieht.« –

»Siehst du, siehst du, mein Kind? Kinder dürfen nie klüger sein wollen, als große, gescheite Leute; Kinder müssen nicht alles besser wissen wollen.« –

»Es war aber eine Erdbeere! (rief Junius, den das Gewäsch empörte, mit dem Fuß stampfend) mag der dumme Doktor sagen, was er will!« –

»Gleich still, Junius! (fuhr ihn jetzt Frau Habichs an und pappelte dann weiter): Pfui, lieber Sohn! gute Kinder sind nicht so eigensinnig und ungezogen. Der dumme Doktor?! Wie, mein Sohn, er, der dich vom einleuchtendsten Tode gerettet hat und ein tiefgestudierter Mediziner ist? Laß mich so was nicht wieder hören! 0, mein Kind: Undank ist das schwärzeste aller Laster, das notofiziere dir für dein ganzes periculum vitae. Kinder dürfen nicht undankbar sein, sonst sperrt man sie ein und sie bekommen nichts zu essen.« – Aber jetzt war Junius in völliger Wut, nicht über den Verweis und die Drohung selbst so sehr, als über den unsinnigen Wortschwall, aus albernen, abgenutzten Gemeinplätzen ohne Vernunft zusammengestoppelt. Tränen drangen ihm aus den Augen und wie er sein Schnupftuch aus der Tasche hervorzog, um sie zu trocknen, siehe! Da fiel das bisher vergessene Guckglas heraus und rollte auf den Boden.

A. d. T. d. O. H.

Wenn ich höre, wie man Kinder oft durch allgemeine und althergebrachte Moralsentenzen (die noch dazu manchmal falsch sind), worin sie in der dritten Person Pluralis kollektivisch agieren, zu leiten und zu bessern vermeint, so möchte ich jedesmal aus der Haut fahren. Welche unendliche und unredliche Ziererei liegt schon in solchen Sätzen, als da sind: Kinder müssen artig sein usw. usw.! Und welch unedle Verachtung der Kinder (von ihnen sehr wohl, wenn auch nur dunkel, gefühlt) ist darin ausgedrückt, daß man ihnen so wenig Sprachkenntnis zutraut, als ob sie den kategorischen Imperativ: »das tue du nicht!« nicht zu begreifen vermöchten, daß man ihnen so alle Anlage zu freier Vernunft abspricht, als ob sie nicht, aus dem Gebot oder Verbot für den einzelnen Fall, sich durch eigne Gedankenverbindungen das allgemeine, vernünftige Gesetz für alle Fälle abstrahieren könnten! Ein Moralkodex, aus solchen Gemeinplätzen gebildet, und dem Kinde eingebläut, macht es ebensowenig zum sittlichen Wesen, als ein Papagei, den man das Vaterunser und das Credo geläufig beibrächte, dadurch zum frommen Christen würde. Nichts ist schändlicher, als die innere Kraft des sich entwickelnden Menschen dadurch einzuschläfern und zu lähmen, daß man ihre Tätigkeit ersparen will und ihr gleich von andern erworbene Resultate hingibt, statt daß sie selbst sich die Resultate erarbeiten soll; denn nur das ist des Menschen Eigentum, was er errungen hat. Auch beruht ein solches Verfahren zumeist nur auf eigner Bequemlichkeit und Trägheit derer, die es anwenden. Hierdurch würde schon alles mühelose Abspeisen mit Moralgemeinplätzen, als den abstrakten Resultaten einer langen innern Erfahrung, die das Kind selbst durchmachen sollte, verdammt, sollten diese Gemeinplätze auch weniger schief, nichtssagend und falsch angebracht sein, wie die, welche man den Kindern vorzuplappern und aufzubürden pflegt. Und was für Schaden richtet man nicht durch solches Aufzwingen an! Opponiert sich eine kräftige Kindernatur (was früher oder später immer geschieht) gegen die Zumutung solcher Sentenzen und kommt durch Selbstdenken hinter ihre Hohlheit, dann geht der heranwachsende Mensch später leicht viel zu weit und beargwöhnt von Haus aus alles Positive in Moral, Religion und Staat (denn man hat ihn ja zum Mißtrau'n gezwungen) anstatt mit gutem Willen, vorläufig anerkennend und mit bescheidnem Forschen daran zu gehn. Wie weit dann diese zersetzende Richtung gehn mag, liegt außer aller Berechnung. Sie kann den Kern des Lebens auffressen, kann zu allen Ausschweifungen und Untaten, ja zum Selbstmord führen.

Bringt man aber schwache Kinder dazu, eine noch unverstandne Moral auf guten Glauben und ohne ferner darüber nachzudenken, anzunehmen, so ist das Unheil noch viel größer, denn man raubt ihnen für immer (was bei unsrem elend schematischen Gesellschaftszustande freilich so wenig ins Auge fällt, daß man es als Nebensache betrachtet) alle Selbständigkeit und Selbsttätigkeit des Geistes und Gemütes. Man hört solche Kinder wohl gar mit der ihnen eingeplapperten Sittlichkeit, wie mit auswendig gelernten Sprüchlein, prahlen und sie zur Schau tragen, und sogar, o Tollheit! darüber gelobt werden, z. B. wenn sie sagen:

»Gelt, liebe Mutter, Kinder müssen Geduld haben?«

Hierdurch bildet man also Knechte und Heuchler. Ihre Seele wird am Ende so unterwürfig jedem ihnen mit Wichtigkeit Vorgeplapperten, daß wenn einer heimlich käme und sie in der Religion des mexikanischen Götzen Fizli Puzli unterrichtete, sie getreulich Fizli Puzlianer werden würden. – Und fürs gesellige Leben, welche Tröpfe werden sie! In der Regel findet man, daß alles Gespräch der Durchschnittsmenschen (namentlich aber der Weiber, als derer, die am meisten in der Erziehung verwahrlost und am wenigsten durch spätere Lebensverhältnisse gezwungen sind, aus sich selbst etwas zu machen) aus zwei ganz ungleichen, einander abwechselnden, durchaus unvermittelten und miteinander unverknüpften Elementen besteht, nämlich:

1. aus Sächlichem und Persönlichem, ohne alle Belebung durch Gedanken. Als z. B.: »Wo haben Sie das schöne Band gekauft? Oder: Haben Sie gehört, daß dem und dem eine Gehaltserhöhung bewilligt ist? Oder: Wissen Sie schon, der und der hat sich ja mit der und der verlobt? Darauf: Ist sie hübsch? Darauf: Das nicht gerade, aber sehr gut und liebenswürdig. Oder: Gestern war ich mit meinem Bruder da und da zu Mittag eingeladen. Es sind sehr liebe Leute; wir hatten erst eine sehr schöne Krebssuppe, dann sehr zartes, kräftiges Rindfleisch mit usw. Oder: Der wievielte sind Sie bei Ihrem Regiment, Herr Kamerad? Stehen Sie in einer angenehmen Garnison? Sind Sie mit dem Avancement zufrieden? usw. Und so geht es stundenlang fort und die gedankenbedürftige Seele lechzt vergebens.

2. Das andere dieser beiden entgegengesetzten Elemente nun besteht wirklich aus Gedanken; aber nicht aus solchen, die die sprechenden Leute selbst gedacht haben, sondern (was freilich viel bequemer ist) aus solchen, die schon vor tausend Jahren von andern Leuten gefunden und seitdem von Millionen nachgesprochen sind, zu Deutsch: eben aus heillosen Gemeinplätzen. Da man aber diese so auf guten Glauben hingenommen hat, ohne ihrer ersten Entstehung nachzuforschen, da man mithin ihren ursprünglichen Zusammenhang mit den Gegenständen, Ereignissen und Persönlichkeiten längst vergessen und auch nicht Lust hat, ihn denkend wieder herzustellen: so werden diese Gemeinplatzgedanken ohne allen Sinn und Verstand von allem Tatsächlichen entkörpert und nun in ihrer Kahlheit toll durcheinander gewürfelt; oder bringt man sie doch mit Tatsächlichem zusammen, so geschieht es in gedankenloser, willkürlicher mechanischer Mengung, so daß sie oft possierlich am unrechten Platze stehn. So geht manchmal ein Frauengespräch wohl eine Viertelstunde lang also fort:

(Es ist eine faktische Trauergeschichte erzählt worden, und nun heißt's auf einmal ganz abrupt, wie folgt)

A. Ja, ja! der Tod schont weder jung noch alt.

B. Sehr wahr! und die Jugend trifft er oft am unerwartetsten.

A. Sehr wahr! und wie wenig Menschen sind fromm und fest genug, das Unerwartete mit Ergebung zu tragen.

B. Ach ja! wenn man's vorhersieht, so hat man doch Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.

A. Nun, wie es auch komme; Gott legt uns ja nicht mehr auf, als wir tragen können.

B. Ach ja! und die Religion ist doch eine mächtige Tröstung.

A. Sehr wahr, meine Liebe. Und oft ist es am allerbesten mit uns gemeint, wenn wir am härtesten getroffen werden. Wie oft nimmt uns Gott das, woran wir unser törichtes Herz allzusehr gehängt haben, aus der väterlich liebevollen Absicht, uns von der Überschätzung des Irdischen zu entwöhnen.

B. (Gerührt) Sehr wahr!

Schreckliche Salbaderei! Scheinbarer Zusammenhang bei sinnlosester Konfusion! Scheinbare Ergießung edler Seelen und Aufschwung nach oben, bei schwächlichster, trägster, ja ich sage: unsittlichster Oberflächlichkeit! –

Wollten die Menschen doch begreifen, daß Gedanken ohne Sachen ebenso wertlos, hohl und wesenlos sind, als Sachen ohne Gedanken. Erst da, wo eins im andern erschaut, eins aus dem andern herausgearbeitet wird, eins mit dem andern in lebendiger Beziehung und Wechselwirkung steht, so daß kein Faktum ohne seine Idee, keine Idee ohne ihre Offenbarung im Faktum bleibt, erst da hat man es mit wahrhaftiger Wirklichkeit und mit wahrhaftigen Gedanken zu tun, und so allein ist der Geist des Menschen auf eine würdige Weise beschäftigt, und jeder Mensch, der kein Vieh sein will, darf nur also denken und also sprechen. Aber (Gott bessre's!) es ist bei uns so weit gekommen, daß diese Art der Anschauung und der Äußerung im Gespräch ein ausschließliches Monopol und Merkzeichen der Geistreichen ist. Ja das Übel hat unser ganzes geselliges Leben so vergiftet und ausgehöhlt, daß ein halbwegs vernünftiger Kerl, dem wesenloses Geschwätz zum Ekel ist, fast gezwungen wird, die Rolle des scheuen Menschenfeindes zu übernehmen, da er sich, mit Ehren, beinah mit keinem Menschen mehr abgeben kann.

Also, wie oben gemeldet: das Guckglas des Onkels Holofernes rollte auf den Boden.

»Was ist das?« rief Herr Habichs, es rasch erkennend, indem er seiner Frau einen strengen, fragenden Blick zuwarf.

Diese, vom Triumphe erzieherischer Wohlredenheit plötzlich herabgestürzt zu verlegner Schuldbewußtheit, sprach, sich gleichgültig stellend: »Ach 's ist das Guckglas des Onkels Holofernes. Ich gab es ihm gestern.«

»Gib her!« befahl Habichs dem Knaben, der es schon aufgerafft hatte. »Nein lieber Vater! es ist mein (sprach der); das ist ja das schöne Glas, durch das ich gestern so viel herrliche Wunder sah und das alle die süßen Stimmen weckte, die mir alles zugesungen haben, was ich gestern erzählte und wo der dumme Doktor meinte, ich redete irre. Und was ich gegessen, war doch eine Erdbeere, weiter nichts!« –

»Gleich her damit! (rief Habichs und entriß es ihm) da haben wir die Phantastereien Ihres gelehrten Herrn Bruders, des Müßiggängers« (sprach er spottend zu seiner Frau). Wie konnte man dem Kinde das in die Hand geben? Ich selbst erinnre mich, daß ich damals dich durch dies heillose Glas in Gestalt einer Gans vor mir sah.« –

»O Gott! (rief Frau Habichs) wenn es gesetzten Leuten solche Albernheiten vorspiegeln kann, so mag es wohl leicht ein armes, unwissendes Kind verrückt machen. Auch ich erinnere mich, daß ich dich, lieber Mann, als einen verdrießlichen Raben vor mir sitzen sah.« –

»Tollheit und kein Ende! (rief Habichs im ernstesten Ärger) die Gans ließ ich mir noch gefallen, da liegt doch einiger Sinn drin.«

»So mein Herr? (eiferte Frau Habichs aufgebracht), einiger Sinn drin, mein Herr? Ei, mein Herr! wenn das so ist, mein Herr! so scheint mir, mein Herr! daß das Glas eben nicht so sehr zu verzerren brauchte, um Sie, mein Herr! als traurigen, trübseligen, gefühllosen Raben erscheinen zu lassen, mein Herr!« –

»Schon gut, schon gut!« brummte Herr Habichs, indem er das Glas ans Auge führte und scharf hindurch sah. Er schüttelte den Kopf. »Ich sehe jetzt gar nichts Besonderes durch das Glas, sondern alles, wie es wirklich ist,« sprach er und reichte es seiner Frau. Auch diese sah durch. »Ich sehe auch jetzt nichts Exegetisches (Exzentrisches meinte sie). Mit der Gans das wird wohl nur eine kalumniöse Konvention (sie meinte: Invention) von Ihnen gewesen sein, mein Herr Gemahl!« –

»Und das mit dem Raben eine dumme Weibereinbildung« erwiderte er.

In der Tat sahen beide diesmal nichts Außergewöhnliches durch das Glas. Nur damals, in einem Augenblicke besonderer Weihe, war es ihnen vergönnt gewesen, eine Ahnung tieferer Wahrheit flüchtig dadurch zu erschauen. Der oberste Schreiber versuchte auch, und sah nichts. Nikodemus versuchte auch. Dem schwamm es vor den Augen, und einen Moment lang glaubte er wirklich, die Bilder der Gans und des Raben aus dem Gewirr tauchen zu sehn; dann verwischte sich alles wieder. Aus Höflichkeit aber (vielleicht auch aus noch unklarer fernerer Absicht) versicherte auch er, er finde durchaus nichts Besonderes an dem Glase.

»O! hier könnt Ihr auch nichts sehn (sprach Junius); aber kommt nur mit mir in den Garten, da müßt Ihr die Blumen und Bäume und den Himmel ansehn, dann werdet Ihr schon Wunder erfahren. Kommt und gebt mir mein Glas!« –

»Nein (sprach Herr Habichs), das Glas bekommst du nicht wieder. Mag daran sein, was da will: so viel ist gewiß, daß der Junge auf dem besten Wege ist, darüber verrückt oder doch zum Phantasten zu werden. Es war höchst unvorsichtig, es ihm nur in die Hände zu geben. Von nun an werd' ich es selbst aufbewahren.« So sprechend stand er auf und ging auf die Tür zu, den Knaben, der ihn weinend und schreiend: »Es ist mein Glas!« am Rockschoß gefaßt hatte, von sich losschüttelnd und ihm die Tür vor der Nase zuwerfend.

Junius konnte sich über den Verlust des Glases gar nicht zu gute geben; er sah sein junges, kaum gekostetes Glück zertrümmert. Als seine Spielzeit da war, widersetzte er sich förmlich, ohne sein Glas in den Garten zu gehn, anstatt daß man ihn sonst mit Mühe davon zurückhielt, bis es ihm erlaubt war. Nur durch das Schelten und Drohen seiner Mutter ließ er sich endlich aus dem Hause vertreiben. Weinend und schluchzend ging er unter die Linde, setzte sich ins Gras und mochte gar nicht aufschaun. Endlich tat er einen Blick in die Zweige und wie groß war sein freudiger Schreck, als er alles schaute und hörte, wie gestern mit dem Glas vor dem Auge. Er hielt es erst für Einbildung und schaute länger und länger; aber immer herrlicher und lebendiger ward alles umher und von allen Blättern säuselten süße Trostesworte in sein Herz. Die Kraft des Glases war unwiderruflich in sein lebendiges Auge übergegangen. Entzückt sprang er auf: »Aha! (rief er in schadenfroher Wonne) die Augen könnt ihr mir doch nicht ausreißen und den Schreibtisch verschließen!« –

Froh trieb er nun sein Wesen fort, aus dem unerschöpflichen Quell in vollen Zügen Weisheit und Seligkeit trinkend. Aber er war vorsichtiger geworden. Er wünschte nicht, daß der Genuß reinster Wonne fürder noch mit dem Einnehmen von Brechmitteln abwechsle. Deshalb trieb er sich immer nur in den festgesetzten Stunden im Garten und der angrenzenden Wildnis umher und teilte die Fülle süßer Gesänge, die aus Wald und Flur ihm zuströmten, seiner Mutter und seinem Lehrer nicht mehr mit. Er würde wohl auch das erstemal geschwiegen haben, wenn ihn der ungewohnte Zustand geistiger Trunkenheit nicht fortgerissen hätte; denn was er in sich fühlte war so heiliger und tiefer Art, wie es echte Gemüter am liebsten schweigend in sich selbst verschließen, um nicht durch mißtönendes Hereinreden von außen im ernsten Sinnen darüber gestört zu werden.

A. d. T. d. O. H.

Meist findet man das, was man Offenheit nennt, im höchsten Grade just bei den leichtfertigsten und gedankenlosesten Menschen; das, was man Verschlossenheit nennt, hingegen gerade bei den tiefsten, reichsten und treuesten Gemütern. Und wirklich; ich teile mich gern mit und liebe ein volles, freies Ergießen des Gesprächs beim Becherklange; alles, was ich Edles gedacht, sei nicht für mich; es sei, womöglich, für die ganze Welt erobert. Aber dennoch gibt's ein Allerheiligstes im Gemüt. Was dort im innersten Kern, im Verborgenen prangt, das mag ich nicht hervorholen und im allgemeinen Licht des Tages eitel und kindisch glitzern lassen. Es bleibe da in heiliger Nacht! selbst meinem Seelenfreunde, sei er der edelste Mann, selbst meiner Geliebten (wenn ich eine hätte) darf ich in dürren Worten nicht Kunde davon geben. Weshalb? Ich könnte einen einzigen schiefen Ausdruck brauchen, der andre könnte einen einzigen Ausdruck schief fassen, und mein Götterbild, von einem Hohlspiegel reflektiert, würde zur Fratze, entweder gemein und alltäglich oder gar mißgestaltet und lächerlich.

Was hätte der Mensch überhaupt am Menschen zu sinnen und zu forschen, wenn jeder sich gleich, bis zum innersten Grund seines Wesens, wie ein Einmaleins, auswendig hersagen könnte? Was hätte der Mensch am Menschen zu lieben, wenn nicht das Unausgesprochene, nie ganz Erforschte? Vom Heiligsten in uns, direkt auseinandersetzend, Bericht zu erstatten, ist eine schamlose Entweihung. Hat der andre ein geistiges Auge, das würdig ist, es zu schauen, so möge er still einen jener seligen Augenblicke erwarten, wo der Wolkenvorhang zerreißt und ein rascher, fassender Blick ins Innerste des Tempels dem Würdigen vergönnt ist. Was er da in mir erschaut und erkennt, das ist sein, so gut als mein, aber mehr geahnt, als hausbacken begriffen, und in solchen Augenblicken wird das hohe Fest der Freundschaft wie der Liebe gefeiert. Ich selbst aber darf in Worten nichts davon offenbaren, außer in der Dichtung. Da darf ich es, denn da geschieht es auf eine mir unbegreifliche, göttliche Weise; und überdies ist die Dichtung kein ums Maul geschmierter Brei, sondern auch wieder nur Hieroglyphe, die nur der Würdigste sich ahnungsvoll zu deuten weiß.


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