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XIX

Das Ende der Campagne. Die Armeen beziehen die Winterquartiere. Der Charakter des Marschalls von Villars. Seine Ruhmsucht und Eitelkeit. Die Verlogenheit seiner Memoiren. Beweise dafür. Der Tod des Marschalls von Lorge. Bruder Jacques und seine Steinoperationen. Die Konversion des Herzogs von Lorge und ihre Vorgeschichte. Die Konversion des Marschalls von Turenne. Der Schmerz der Gräfin von Roye.

 

Der Prinz Ludwig von Baden, weit entfernt von der Zerstreuung seiner Truppen, wie sie Villars geschildert hatte, erschien unverzüglich wieder mit einer Armee, die oft die Besorgnis erweckte, sie würde über den Rhein gehen. Der Rest der Kampagne ging damit hin, daß man einander beobachtete und Vorteile zu erlangen suchte. Was die Vorteile des neuen Marschalls anlangt, so vollzog sich die Vereinigung mit dem Kurfürsten von Bayern nicht. Dieser Fürst hatte Memmingen und mehrere kleine Plätze genommen, um sein Gebiet zu erweitern und sich Kontributionen und Subsistenzmittel zu verschaffen. Die Armeen zogen sich in ihre Winterquartiere zurück; die unsrige ging wieder über den Rhein zurück, und bald darauf erhielt Villars Befehl, in Straßburg zu bleiben, um den Rhein zu bewachen.

Dieses Kind des Glückes wird von jetzt ab beständig eine so bedeutende Rolle spielen, daß es an der Zeit ist, den Leser mit ihm bekannt zu machen. Er war der Urenkel eines Gerichtsschreibers von Condrieu – gewiß kein Grund, auf dem er bauen konnte; das Glück, und was für ein unerhörtes Glück! half ihm sein ganzes langes Leben hindurch darüber hinweg. Er war ein ziemlich großer brauner, gut gewachsener Mann, der in seinem Alter dick geworden war, ohne dadurch beschwert zu werden, mit einem lebendigen, offenen, packenden und – die Wahrheit zu sagen – etwas verrückten Gesicht, wozu die Haltung und die Bewegungen paßten. Sein Ehrgeiz war maßlos und nicht wählerisch in den Mitteln, seine Meinung von sich nicht gering. Er hatte eine Galanterie, deren Schale stets romanhaft war, Denen gegenüber, die ihm dienlich sein konnten, war er sehr untertänig und geschmeidig, er selbst aber war unfähig, irgend jemand zu lieben oder ihm einen Dienst zu leisten und hatte keine Ahnung von Dankbarkeit. Dabei war er von einer glänzenden Tapferkeit, einer großen Regsamkeit, einer Kühnheit ohnegleichen und einer Unverschämtheit, die alles behauptete und vor nichts haltmachte, hatte eine Prahlerei am Leibe, die nicht mehr zu überbieten war und ihn niemals verließ. Er besaß Geist genug, um auf die Dummen durch sein Überzeugtsein von sich selbst Eindruck zu machen, redete mit großer Leichtigkeit, aber mit einem Übermaß und einer Stetigkeit, die um so abstoßender wirkten, als er mit wahrer Kunst stets wieder auf sich zurückkam, sich rühmte und sich lobte, alles vorausgesehen, alles geraten, alles getan zu haben und, wo es irgend anging, niemals andere daran teilhaben ließ. Unter einer gaskonischen Prachtliebe verbarg sich bei ihm ein außerordentlicher Geiz, glühte eine harpyienhafte Habgier, die ihm Berge von Gold eingebracht hat, die im Kriege erplündert und als er an die Spitze der Armee gelangt war, auf eigene Faust geplündert worden waren, ohne daß er sich geschämt hätte, eigens zu diesem Zwecke Detachements zu verwenden und die Bewegungen seines Heeres im Hinblick darauf zu leiten. Im Gegenteil, er machte selbst seine Witze darüber.

Er war unfähig, für irgend etwas zu sorgen, was mit der Verpflegung, mit der Zufuhr, der Furagierung, den Märschen zusammenhing: alles das überließ er demjenigen seiner Generäle, der sich damit abgeben wollte, schrieb sich aber stets die Ehre zu. Seine Geschicklichkeit bestand darin, die geringsten Umstände und alle Zufälle zu benutzen. Die Komplimente ersetzten bei ihm alles; etwas Solideres durfte man von ihm nicht erwarten: er selbst war nichts weniger als solide.

Stets mit Nichtigkeiten beschäftigt, wenn er nicht von der dringenden Notwendigkeit der Geschäfte fortgerissen wurde, war er ein Repertorium von Romanen, Komödien und Opern, aus denen er bei jeder Gelegenheit, selbst bei den ernstesten Konferenzen, Brocken zitierte. Er wohnte den Theateraufführungen bei, solange er konnte und verkehrte sehr unpassenderweise mit den weiblichen Bühnenmitgliedern und ihren Galans und teilte ihr Leben. So trieb er es öffentlich bis in sein höchstes Alter, das er durch seine unanständigen Reden entehrte.

Seine Unwissenheit und, wenn man davon reden soll, seine Unfähigkeit in der Führung von Geschäften war unbegreiflich bei einem Manne, der so lange und in so hervorragender Weise damit betraut gewesen: er schweifte ab und fand sich nicht wieder zurecht; der leitende Gedanke fehlte, er sagte dabei ganz das Gegenteil von dem, was man sah und von dem, was er sagen wollte. Ich geriet darüber oft in das allergrößte Erstaunen Der Name, den ein unermüdliches Glück ihm verschafft hat: Duclos (Oeuvres, III., S. 27) sagt: c'est »un général fait pour des François à qui la gaieté unie au courage inspire la confiance.«und war genötigt, ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen und mehrere Male sogar für ihn das Wort zu ergreifen, als ich mit ihm während der Regentschaft in Staatsgeschäften zu tun hatte. Keines davon, soweit es ihm irgend möglich war, zog ihn vom Spiel ab, das er liebte, weil er dabei stets glücklich gewesen war und sehr hohe Summen gewonnen hatte, ebensowenig von den Theateraufführungen.

Er war ausschließlich damit beschäftigt, sein Ansehen zu erhalten und ließ alles, was er selbst hätte machen oder sehen müssen, durch andre ausführen. Einen solchen Mann konnte man kaum lieben: auch hatte er niemals weder Freunde noch Kreaturen, und niemals hat ein Mann so hohe Ämter mit weniger Ansehen bekleidet. Der Name, den ein unermüdliches Glück ihm für künftige Zeiten verschafft hat, hat mir oftmals die Geschichte verleidet, und ich habe unzählige Leute gefunden, denen es ebenso gegangen ist. Die Seinigen waren so unklug, sehr bald nach seinem Tode Memoiren erscheinen zu lassen, die unverkennbar von seiner Hand herrühren. Man braucht nur seinen Brief an den König über die Schlacht bei Friedlingen zu lesen: ein verworrener, verwickelter, schlecht geschriebener, ungenauer, absichtlich unklarer Bericht verschleiert darin, so sehr er kann, die Unordnung, die beinahe seine Infanterie vernichtet hätte, seine Unkenntnis über das, was seine Kavallerie machte, schildert weder die Lage, noch die Bewegungen, noch die Schlacht und noch viel weniger, was die Entscheidung brachte und das Ende herbeiführte.

Seine Memoiren zeigen dieselbe Konfusion, und wenn sie mehr ins einzelne gehen, so ist das darum, um mehr Lügen aufzutischen und sich unaufhörlich als den Verhandlungen in Bayern und Wien: die ersteren fallen ins Jahr 1687, die letzteren in die Jahre 1698-1701.Helden hinzustellen. Ich war recht jung und nur Oberst eines Kavallerieregiments, anno 1694 und die folgenden Jahre; aber im erstgenannten war ich der Schwiegersohn des leitenden Generals der Armee, und während der andern genoß ich das größte Vertrauen des Marschalls von Choiseul, der der Nachfolger meines Schwiegervaters war. Das genügte, um mich mit aller Klarheit erkennen zu lassen, daß die Prahlereien seiner Memoiren über jene Feldzüge auch nicht die geringste Wahrscheinlichkeit haben, und daß alles, was er darin von sich sagt, ein Roman ist.

Ich habe von den hauptsächlichsten Offizieren, die während der andern Feldzüge, von denen er erzählt, mit und unter ihm gedient haben, erfahren, daß alles, was er davon sagt, erlogen ist, das meiste vollständig erdichtet, oder mit einem Körnchen Wahrheit, während der Rest seinem eigenen Lobe und dem Tadel derjenigen dient, die bei den betreffenden Gelegenheiten das größte Verdienst hatten, um es ihnen zu rauben und sich selbst zuzuschreiben. Es finden sich darin sogar Züge, deren Keckheit so sehr nach Unwahrheit riecht, daß man über die Frechheit an sich entrüstet ist, entrüstet, daß der angebliche Held gewagt hat zu hoffen, auf so plumpe Weise die Leute anzuführen und sich Bewunderer zu schaffen. Das Verlangen, solche zu besitzen, hat ihn die schwärzesten Diebstähle an dem Ruhme der Meister begehen lassen, vor denen ich ihn habe kriechen sehen, und die unverschämtesten und verwegensten Verleumdungen.

Über seine Verhandlungen in Bayern und in Wien, die er dort mit so schönen Farben schildert, habe ich Herrn von Torcy befragt, dem er damals darüber Rechenschaft ablegte, und nach dessen Befehlen und Instruktionen er sich einzig und allein zu richten hatte. Torcy hat mir versichert, daß er den Roman bewundert habe, daß alles daran erlogen sei und daß keine Tatsache, kein Wort davon wahr sei. Torcy war damals Minister und Staatssekretär des Äußeren; alle auswärtigen Angelegenheiten gingen durch seine Hände, und er war der einzige, der sich davor bewahrt hatte, sein Departement mit Frau von Maintenon zu teilen oder vielmehr ihr zu unterwerfen. Sein Geradsinn, seine Rechtschaffenheit, seine Wahrhaftigkeit sind weder in Frankreich noch im Auslande je in Zweifel gezogen worden, und sein Gedächtnis war stets scharf und treu.

So stand es also um die Eitelkeit dieses wunderbaren Mannes, der bei aller seiner Kunst, bei seinem beispiellosen Glück, bei den größten Würden und höchsten Staatsämtern nie etwas anderes gewesen ist, als ein Schmierenkomödiant, gewöhnlich sogar nur ein Seiltänzer auf einer Gauklerbühne. So war im großen ganzen Villars, dem seine Erfolge im Kriege und am Hofe späterhin einen großen Namen in der Geschichte verschaffen werden, wenn die Zeit ihn selbst von der Bildfläche wird haben verschwinden lassen, und wenn die Vergessenheit das verwischt hat, was wohl nur den Zeitgenossen bekannt ist.

Nachdem ich von seinen vielen und bedeutenden Fehlern gesprochen, wäre es nicht gerecht, wollte ich in Abrede stellen, daß er gute Eigenschaften besessen. Er hatte deren als Heerführer; seine Pläne waren kühn, weit ausgreifend und fast immer gut; niemand eignete sich besser dazu, sie auszuführen und die verschiedenen Bewegungen der Truppen von ferne zu leiten, um seine Absicht zu verschleiern und sie im richtigen Augenblicke eintreffen zu lassen, noch auch in der Nähe, um sich zu postieren und anzugreifen. Sein Blick, obgleich gut, hatte nicht immer die gleiche Sicherheit, und in der Schlacht war sein Kopf klar, doch einer zu großen Hitze unterworfen und infolgedessen in Gefahr, verwirrt zu werden.

Seit er an die Spitze der Armee gelangt war, äußerte sich seine Kühnheit nur noch in Worten; seine persönliche Tapferkeit war zwar immer noch die gleiche, ganz anders aber war es mit der geistigen. Als er noch keine führende Stellung einnahm, war ihm nichts zu heiß, um zu glänzen und sich emporzuschwingen; seine Pläne dienten manchmal mehr ihm selbst als der Sache und waren eben dadurch verdächtig. Bei denen, mit deren Ausführung er später betraut werden sollte, war dies aber nicht der Fall: es verschlug ihm gar nichts, sie den andern als zweifelhaft hinzustellen, wenn sie sie zu übernehmen hatten. Bei Friedlingen handelte es sich bei ihm um sein letztes Ziel: er hatte wenig zu verlieren, wenn der Erfolg in der Ausführung eines von Catinat verworfenen Planes seiner Kühnheit nicht entsprach, nicht einmal eine Aufschiebung zu befürchten, aber schon jetzt den Marschallstab zu erhoffen, wenn das Unternehmen gelang.

Nachdem er ihn aber erlangt hatte, war der Großsprecher zurückhaltender, in der Furcht, das Glück, das er so sehr wie möglich steigern wollte, möchte ihm untreu werden, und man hat es ihm später mehr als einmal vorgeworfen, er habe einzigartige sichere Gelegenheiten, die sich ganz von selbst boten, vorübergehen lassen. Er fühlte sich damals im Besitz von andern Hilfsmitteln.

Ich kann diese allzu lange Charakterskizze, in der ich indes nichts Unnötiges gesagt zu haben glaube, und in der Verlust meines Schwiegervaters: des Marschalls von Lorge, der am 22. Oktober 1702 mit 72 Jahren starb. Mit seiner Gesundheit war es in den letzten 25 Jahren nie weit her gewesen.der ich das Joch der Wahrheit gewissenhaft respektiert habe, ich kann sie, sage ich, nicht besser beschließen als durch jenen Denkspruch aus dem Munde von Villars' Mutter, die im Glanze seines neuen Glückes immer zu ihm sagte: »Mein Sohn, sprich zum Könige stets von dir, zu andern aber niemals!« Aus dem ersten Teil dieser großen Lehre zog er den größten Nutzen, nicht so aus dem andern, und er hörte niemals auf, alle Welt mit seinen Reden über sich zu peinigen und zu langweilen.

 

In die Zeit der Schlacht bei Friedlingen fiel für mich eines der schmerzlichsten Ereignisse, die mich treffen können: der Verlust meines Schwiegervaters, der mit vierundsiebenzig Jahren starb. Mitten in einer sonst vollkommenen Gesundheit wurde er von der Nierenkolik befallen, über deren Symptome man sich zuerst täuschte oder vielmehr sich täuschen wollte, in dem Wunsche, daß es etwas anderes wäre. Die letzten sechs Monate seines Lebens konnte er das Haus nicht verlassen. Als das Übel so weit gediehen war, daß es nicht mehr verkannt werden konnte, bestach der Ruf eines gewissen Bruder Jacques und bewirkte, daß man ihn für die Operation den Chirurgen vorzog. Dieser Mann war weder ein Mönch noch ein Eremit, sondern ein wunderlich in eine graue Kutte gehüllter Geselle, der eine Art den Stein zu schneiden erfunden hatte, die seitlich der gewöhnlichen Stelle ausgeführt wurde und den Vorteil hatte, schneller erledigt zu sein und keine der lästigen Beschwerden zu hinterlassen, die sehr häufig die Folge dieser Operation sind, wenn sie auf die gewöhnliche Weise gemacht wird.

Alles ist Mode in Frankreich: jener Mann war es damals in einer Weise, daß man nur von ihm sprach. Man durch Salben aufgelöst: man bediente sich damals sehr gefährlicher Drogen, um den Stein selbst aufzulösen.
Die Operation dauerte dreiviertel Stunden: nach dem Polizeibericht 16 Minuten, obgleich dem Bruder Jacques für gewöhnlich deren drei genügten.
ließ seine Operationen drei Monate lang verfolgen, und auf zwanzig Personen, die er schnitt, starben nur sehr wenige. Während jener Zeit entzog sich der Marschall von Lorge der Welt und bereitete sich mit einer großen Standhaftigkeit und einer wahrhaft christlichen Entsagung vor. Der Wunsch seiner Familie und das Verlangen seine Charge als Kapitän der Gardes du Corps für seinen Sohn zu erhalten, hatten mehr Anteil als er selbst an diesem Entschluß. Er wurde Donnerstag, den 19. Oktober, ausgeführt, um 8 Uhr morgens, nachdem der Marschall am Abend zuvor zur Beichte und Kommunion gegangen war.

Bruder Jacques wollte keinen andern Rat noch Beistand als den Milets, des Oberfeldschers der Gardes-du-Corps-Kompagnie des Marschalls von Lorge, den er sehr gern hatte. Er fand einen kleinen Stein, dann eine starke krebsartige Wucherung und darunter einen sehr großen Stein. Ein Chirurg, der noch etwas anderes verstanden hätte, als geschickt zu operieren, hätte den kleinen Stein herausgezogen und sich fürs erste damit begnügt; er hätte jene der Blase anhaftenden Auswüchse durch Salben aufgelöst, worauf sie durch die Eiterung abgestoßen worden wären; hierauf hätte er den großen Stein entfernt.

Bruder Jacques, der nur ein geschickter Operateur war, verlor den Kopf: er beseitigte diese Wucherungen mit dem Messer. Die Operation dauerte dreiviertel Stunden und war so schmerzhaft, daß Bruder Jacques nicht weiterzugehen wagte und darauf verzichtete, den großen Stein zu entfernen. Der Marschall von Lorge ertrug die Operation mit einem Mute, der keinen Augenblick wankte. Als sich ihm ganz kurz darauf seine Gattin näherte, die einzige von seiner Familie, die man der Bruder seiner Mutter: Elisabeth, Tochter von Henri de la Tour, Herzog von Bouillon.ihn hatte sehen lassen, hielt er ihr die Hand hin und sagte zu ihr: »So hätte man mich denn so weit, wie man mich gewollt hat«, und auf ihre hoffnungsvolle Antwort fügte er hinzu: »Es wird kommen, wie es Gott gefällt.«

Seine ganze Familie und einige Freunde waren im Hause und hatten kein Vertrauen in den Ausgang dieser sonderbaren Operation. Der Herzog von Gramont, der vor kurzem von Mareschal geschnitten worden war, verschaffte sich mit Gewalt Einlaß, kündigte die Symptome an, die Schlag auf Schlag auftreten würden und drang nutzlos darauf, daß man Mareschal oder andere Chirurgen kommen lasse. Bruder Jacques wollte durchaus nichts davon wissen, und die Marschallin, die ihn zu erzürnen fürchtete, wagte niemand zu rufen.

Der Herzog von Gramont war ein nur zu guter Prophet. Bald darauf verlangte Bruder Jacques selbst Hilfe: er bekam sie sofort, aber es war alles umsonst. Der Marschall von Lorge starb Samstag, den 22. Oktober, gegen vier Uhr morgens. Die ganze Zeit war der Abt Anselme, ein damals berühmter Beichtvater und Prediger, bei ihm.

Das Schauspiel, das dieses Haus bot, war erschütternd. Niemals ist ein Mann so allgemein betrauert worden, noch der Trauer wirklich so wert gewesen. Außer meinem eigenen lebhaften Schmerz hatte ich noch den Frau von Saint-Simons zu ertragen, die ich mehrmals zu verlieren glaubte: nichts ist vergleichbar mit ihrer Anhänglichkeit an ihren Vater und mit der Zärtlichkeit, die er für sie hatte, nichts auch von einer vollkommeneren Ähnlichkeit als ihre Seele und ihr Herz. Er liebte mich wie seinen leiblichen Sohn, und ich liebte und ehrte ihn wie den besten Vater mit dem vollsten und hingebendsten Vertrauen.

Als dritter Sohn einer zahlreichen Familie geboren, trug er mit vierzehn Jahren bereits die Waffen. Herr von Turenne, der Bruder seiner Mutter, nahm sich seiner an, als ob er sein Sohn gewesen wäre und schenkte ihm in der Folge sein ganzes Vertrauen. Die Anhänglichkeit des Neffen entsprach der Freundschaft des Oheims so sehr, daß sie stets zusammen lebten und allgemein als ein aufs engste miteinander verbundener Vater und Sohn angesehen wurden. Unglückliche Zeitumstände und Familienverpflichtungen zogen Herrn von Lorge zu der Partei des Prinzen von Condé. Er folgte ihm sogar in die Niederlande, diente unter ihm mit großer Auszeichnung als Generalleutnant und erwarb sich seine volle Hochachtung.

Von Herrn von Turenne bereits unterrichtet, vervollkommnete er sich unter dem Prinzen von Condé und kehrte dann zu seinem Oheim zurück, der sich eine Freude und eine ernste Angelegenheit daraus machte, ihn dazu zu befähigen, die Armeen würdig zu befehligen, indem er ihn bei den seinigen zur Lösung der schwierigsten und wichtigsten Aufgaben verwandte.

Herr von Lorge, der jung, schön gewachsen, galant und in der großen Welt sehr zu Hause war, dachte demungeachtet ernst. Im Schoße der Protestanten aufgewachsen, wo er auch geboren war und durch die naheste Verwandtschaft und Freundschaft mit ihren hervorragendsten Persönlichkeiten verbunden, brachte er die Hälfte seines Lebens hin, ohne zu ahnen, daß sie die Opfer einer Täuschung sein könnten und lebte nach den Vorschriften ihrer Religion. Die beständige Ausübung derselben regte ihn aber zum Nachdenken an, und infolge des Nachdenkens erwachten Zweifel in ihm. Die Vorurteile der Erziehung und der Gewohnheit mit der Herzogin von Rohan: Marguerite, Tochter des Herzogs von Rohan; mit ihren berühmten Töchtern: Mme. de Soubise, Mme. de Coëtquen und Mme. d'Espinoy.hielten ihn zurück; er stand noch unter der Herrschaft der Autorität seiner Mutter, die eine Stütze der protestantischen Kirche war, und unter der Herrn von Turennes, die stärker war als irgendeine; er war in engster Freundschaft mit der Herzogin von Rohan verbunden, der Seele der Partei und dem Überrest ihrer letzten Häupter, sowie mit ihren berühmten Töchtern, und seine außerordentliche Zuneigung für die Gräfin von Roye, seine Schwester, die ihrer Religion mit allen Fasern ihres Herzens anhing, legte ihm einen außerordentlichen Zwang auf.

In diesen inneren Kämpfen verlangte er aber nach Aufklärung. Er fand eine große Hilfe an einem einfachen Manne, der ihm in Freundschaft verbunden war und den Übertritt zum Katholizismus vollzogen hatte. Aber Herr von Lorge wollte mit eigenen Augen sehen, als er dahin gelangt war, die stärksten Zweifel an der Wahrheit seines bisherigen Glaubens zu hegen. Er faßte also den Entschluß, sich selbst mit dem Studium der Schriften zu befassen und seine Zweifel dem berühmten Bossuet, dem nachmaligen Bischof von Meaux, zu unterbreiten und Herrn Claude, dem protestantischen Pfarrer von Charenton, der sich bei den Protestanten des größten Ansehens erfreute. Er konsultierte sie getrennt, ohne daß der eine vom andern wußte, und hielt ihnen ihre gegenseitigen Antworten entgegen, wie wenn es seine eigenen seien, um besser hinter die Wahrheit zu kommen.

Auf diese Weise verbrachte er ein ganzes Jahr in Paris und war so sehr mit diesem Studium beschäftigt, daß er wie aus der Welt verschwunden war und die ihm Nächststehenden, sogar Herr von Turenne, darüber beunruhigt waren und ihm Vorwürfe darüber in den Schriften des heiligen Augustinus: Bekenntnisse, Buch IX, Kap. 13.machten, daß sie ihn gar nicht zu sehen bekämen. Sein guter Glaube und die Lauterkeit seiner Untersuchung verdiente einen Strahl der Erleuchtung. Der Bischof von Meaux bewies ihm das Uralter des Gebetes für die Toten und zeigte ihm in den Schriften des heiligen Augustinus, daß dieser Kirchenvater für seine Mutter, die heilige Monica, gebetet hatte.

Herr Claude vermochte ihn über diesen Punkt nicht zu befriedigen und zog sich nur durch Ausreden aus der Verlegenheit, die bei dem geraden Sinne des Proselyten Anstoß erregten und vollends dazu beitrugen, ihn zu bestimmen. Darauf bekannte er dem Prälaten und dem Pfarrer den Verkehr, den er seit langem, ohne daß sie gegenseitig darum wußten, mit ihnen gepflogen hatte; er wollte sie miteinander kämpfen sehen, aber stets unter dem Schleier des tiefsten Geheimnisses: dieser Kampf überzeugte seinen Geist restlos durch die Erleuchtung, die er ihm brachte, und sein Herz durch die wenig ehrlichen Ausflüchte, die er oftmals bei Herrn Claude wahrnahm, und über die er mit ihm unter vier Augen zu keiner besseren Lösung gelangen konnte.

Nunmehr ganz überzeugt, faßte er seinen Entschluß; aber der Gedanke an seine Familie und die Rücksicht auf sie hielten ihn noch zurück: er fühlte, daß er im Begriffe war, den Dolch in das Herz der drei Menschen zu senken, die ihm am teuersten waren, seiner Mutter, seiner Schwester und Herrn von Turennes, dem er alles verdankte, und von dem er sogar die Mittel zu seinem Unterhalte erhielt. Indes glaubte er mit ihm beginnen zu müssen: er sprach zu ihm mit all der Zärtlichkeit, all der Erkenntlichkeit, all dem Respekt des besten Sohnes, der zum besten Vater spricht, und nach einer Einleitung, deren ganze Peinlichkeit ihm voll zu Bewußtsein kam, wurde die Konversion Herrn von Turennes bekannt: er schwor seinen Glauben am 23. Oktober 1668 ab; der spätere Marschall von Lorge folgte am 6. Februar 1669, mit ihm sein jüngerer Bruder Rauzan.offenbarte er ihm den Grund seiner langen Zurückgezogenheit, gestand ihm zuletzt die Frucht derselben ein und fügte dieser Erklärung alles hinzu, was ihre Bitterkeit mildern konnte.

Herr von Turenne hörte ihn an, ohne ihn mit einem einzigen Worte zu unterbrechen; dann aber umarmte er ihn zärtlich, vergalt ihm Vertrauen mit Vertrauen und versicherte ihm, daß er um so lebhaftere Freude über seinen Entschluß empfinde, als er selbst einen gleichen gefaßt habe, nachdem er lange Zeit mit dem gleichen Prälaten daran gearbeitet. Die Überraschung, die Erleichterung und die Freude Herrn von Lorges läßt sich nicht beschreiben. Der Bischof von Meaux hatte ihm getreulich verschwiegen, daß er Herrn von Turenne seit langem unterrichtete, und Herrn von Turenne, was er mit Herrn von Lorge machte.

Sehr bald darauf wurde die Konversion Herrn von Turennes bekannt. Die Feinfühligkeit Herrn von Lorges erlaubte ihm nicht, sich so bald zu erklären: der Respekt vor der Welt hielt ihn noch fünf oder sechs Monate zurück; denn er fürchtete, man möchte glauben, das Beispiel eines Mannes von so großem Gewicht und mit dem er durch so viele Bande verknüpft war, habe ihn mitgerissen. Ohne jemals eine besondere Frömmigkeit zur Schau getragen zu haben, betrachtete Herr von Lorge für den ganzen Rest seines Lebens seine Konversion als sein kostbarstes Glück. Er verdoppelte seine Schätzung und Freundschaft für Herrn Cotton, der den ersten Anstoß dazu gegeben hatte, und verkehrte noch einmal so häufig mit ihm, ebenso pflegte er zeitlebens mit dem Bischof von Meaux einen sehr vertraulichen und von Verehrung und großer Dankbarkeit getragenen Verkehr.

Er verabscheute den Zwang in religiösen Dingen, aber er warf sich mit Eifer darauf, die Protestanten, mit denen er sprechen konnte, zu überzeugen. Er hatte den Schmerz, daß die Gräfin von Roye vor Betrübnis über seine Konversion bald gestorben wäre; sie war so außer sich über diese Änderung, daß sie ihn nur unter der Bedingung (die auch eingehalten wurde) sehen wollte, daß zwischen ihnen nie ein Wort darüber falle. Jungfern aus Numidien: Ardea virgo, eine Reiherart von großer Schönheit, merkwürdig durch ihre bizarren Bewegungen, ihre Tänze am Abend und am Morgen und ihren Nachahmungstrieb.


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