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Die chiffrierte Depesche hatte in Berlin ungeheures Aufsehen erregt. Kommerzienrat Geldern, der mit Lippe eine Geheimschrift verabredet hatte, war nach Entzifferung der Nachricht aufgefahren, hatte nach der Uhr gesehen, sich das Reichskursbuch geben lassen und zehn Minuten später erklärt: er müsse sofort auf ein paar Tage verreisen. Aber daß die Reise keine unangenehme sei, das war für alle Eingeweihten von seinem strahlenden Gesichte abzulesen. Trotzdem tat er unendlich geheimnisvoll, und selbst seinem Faktotum Klose antwortete er auf die Frage, wohin denn die Reise gehe: »In Geschäften, nicht weit.« Er hatte sich auch jede Begleitung verbeten, war in einer Droschke zur Bahn gefahren und hatte den kleinen Reisekoffer persönlich mitgenommen.
Die Dienerschaft steckte die Köpfe zusammen, und es ging die Rede: Der gnädige Herr habe wieder irgend ein Abenteuer vor, in dem wahrscheinlich eine junge Dame die Hauptrolle spiele! Halb und halb hatte die Dienerschaft ja auch recht, aber die junge Dame war Rita Geldern, seine schöne, schwärmerisch geliebte und seit Wochen vermißte Tochter, denn das chiffrierte Telegramm, das Dr. Müller in Beraun aufgegeben und das den Kommerzienrat zu der plötzlichen Reise veranlaßt hatte, enthielt folgende verblüffende Nachricht:
»Der Prinz von Toscana lebt in einem gänzlich unzugänglichen Jagdhause auf seinem Gute Horczowitz, genau seit der Zeit, da Rita von Berlin verschwand. In seiner Begleitung befindet sich eine junge Dame von blendender Schönheit. Alle Versuche, das Incognito zu wahren, sind gescheitert. Sowohl seine Dienerschaft als auch seine Bauern leben der festen Ueberzeugung, der Herr Doktor des Jagdhauses am Geiersberg sei der Prinz selber. Ich werde in den nächsten Tagen Gelegenheit haben, die Identität der jungen Dame mit Rita festzustellen. Bitte Sie aber, sich sofort nach Eintreffen meiner Depesche auf die Eisenbahn zu setzen und mich in Beraun, Hotel ›Zum Hirsch‹, zu erwarten.
Lippe.«
Dies Telegramm war, obwohl es von dem Geologen, hinter dessen Maske sich Lippe mit großem Geschick versteckt hatte, am späten Nachmittag in Beraun aufgegeben war, doch nicht früher als am nächsten Morgen in die Hände des Kommerzienrats gelangt. Besondere Eile war auch gar nicht von nöten, denn Lippe wollte erst Gewißheit über die Person der jungen Dame erlangen, und dies konnte er nicht, bevor der heftige Frost der nächsten Tage die Annäherung an das Jagdhaus über das Moor ermöglichte.
Die Hoffnung, daß dies bald geschehe, war durchaus begründet, denn als er am Morgen nach dem Abgang der Depesche mit seinem Führer in die Berge stieg, fanden sie das Moor bereits unter einer starken Eisdecke. Es knackte wohl noch hie und da, so daß sich der vorsichtige Führer weigerte, weiter vorzudringen. Trotzdem entschloß sich Lippe, die Expedition allein zu unternehmen.
Nur wenige Kilometer weit in dichtem Buschwerk versteckt lag das Jagdhaus, und trotz der Warnung des Führers, daß warme Quellen in den Böhmischen Mooren durchaus keine Seltenheit seien, machte sich Lippe auf den Weg über das unheimliche, von schwarzen Stellen unterbrochene Eisfeld. Der Führer hatte nicht den Mut weiter mitzugehen, als bis zu einer Parzelle niederen Gebüsches, die absolut sicher war. Dort blieb er stehen und erklärte, daß er keinen Fuß weiter auf das unheimliche schwarze Eis setzen werde und warum sich denn der Herr Doktor nicht noch einen Tag gedulden wolle.
Aber der Doktor hörte nichts mehr, sondern ging langsam, jeden seiner Schritte genau beobachtend, weiter in der Richtung des einsamen Jagdhauses, dessen graue, verwitterte Mauern schon durch die kahlen Zweige der Parkbäume sichtbar wurden.
Lippe hatte das Bild Ritas in der Tasche, und ihre Züge ruhten fest eingeprägt in seinem Gedächtnis. Es hätte genügt, am Fenster eine flüchtige Erscheinung wahrzunehmen, um ihn über die Identität des Fürstenliebchens aufzuklären.
Schon hatte er sich dem Park des Jagdschlosses auf wenige hundert Schritte genähert. Er konnte bereits die Wege bemerken, die bis zum Rande des Moores herabführten. Ein kleiner Kahn lag mit seinem Bug tief eingefroren im schwarzen Moorwasser, und ein graues Bretterhäuschen, offenbar zum Baden eingerichtet, war gleichfalls eingefroren. Noch verdeckte ihm ein dichtes Haselgebüsch die Ansicht des Wohngebäudes, aber wenn er sich mehr nach rechts wandte, mußte es ihm frei entgegentreten. Er drehte sich nach der betreffenden Richtung, und schon sah er eine einfache Holzveranda, deren Inneres in tiefem Rot gestrichen war, zwischen den winterlich kahlen Gebüschen hervorleuchten. Wenige Schritte weiter, und er hatte sein Ziel erreicht. Er konnte dann hinter den hohen Parkbäumen versteckt, ohne selbst gesehen zu werden, das Jagdhaus beobachten.
Da plötzlich begann das Eis bei seinem nächsten Schritt eigentümlich zu knacken. Lippe wollte schnell darüber hinweggleiten, um mit einem Sprung das Ufer zu erreichen, aber der feste Grund wich unter seinen Füßen, die Eisdecke brach ein, und er fühlte, wie er langsam in das schlammige Wasser versank. Es war eine eigentümliche Situation. Er wußte genau, daß wenn nicht Hilfe aus dem Jagdhause kam, er rettungslos versinken würde, und jede Bewegung, die er machte, konnte sein Schicksal nur beschleunigen. Vielleicht gelang es ihm, wenn er sich glatt aus den Bauch warf, durch die Verteilung des Druckes das Untersinken längere Zeit aufzuhalten. Vielleicht auch war das Eis wenige Schritte weiter wieder fester, und er konnte vorwärts rutschend den eingefrorenen Kahn erreichen. Aber die nächste Bewegung belehrte ihn eines andern. Wie er sich niederbeugte, um die ganze Masse seines Körpers auf das Eis sinken zu lassen, verschwand er mit einem Ruck bis zur Hälfte in dem eisigen Moor. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als durch laute Hilferufe die Jagdhausbewohner zu alarmieren, vielleicht daß der Prinz trotz seines beabsichtigten Einsiedlertums einen Menschen nicht dem sichern Tode überließ.
Denn ein sicherer Tod stand dem Berliner Beamten bevor; darüber war kein Zweifel, und trotzdem Lippe kein Feigling war, wurde ihm bei diesem Gedanken doch recht kläglich zumute, und er besann sich keinen Augenblick, einen lauten, gellenden Hilfeschrei auszustoßen. In der Totenstille des Hochmoorgebietes mußte das Signal jedenfalls vernommen werden, selbst wenn die Bewohner des Jagdhauses in den innersten Gemächern waren.
Lippe ließ dem ersten Notschrei einen zweiten und dritten folgen. Bald darauf hörte er Stimmen vom Park her, und von neuer Lebenshoffnung getrieben, schrie er noch einmal aus Leibeskräften:
»Hierher zu Hilfe, ich versinke im Moor!«
Schon sah er einen hochgewachsenen Mann mit blondem, verschnittenem Vollbart, ein Pelzbarett von Biber malerisch auf den Kopf gedrückt, in einer kurzen, grau-grünen Jagdjoppe und ebensolchen Beinkleidern, sich dem Rande des Moores nähern.
»Herrgott, Mensch, was patschen Sie denn in dem Eis herum?«
»Fragen Sie nicht lange und helfen Sie mir heraus.«
Der blonde Herr wandte sich um, ging einige Schritte in den Park zurück und kam mit einer langen Stange wieder. Er sprang in den Kahn, ging bis an dessen äußerste Spitze und reichte dem Eingebrochenen die Stange zu, aber sie war zu kurz.
»Warten Sie einen Augenblick, rühren Sie sich um Gottes willen nicht von der Stelle, und wenn Sie bis in die Brust versinken. Breiten Sie die Arme wagrecht aus.«
In diesem Augenblick kam eine junge Dame, tief in einen Pelzmantel gehüllt, den schmalen Kiesweg herunter und fragte den blonden Mann:
»Um Gottes willen, Johann, da ist wohl ein Mensch in Lebensgefahr?«
»Aber sehr, mein Kind. Bemühe dich nicht weiter und gehe hinauf, ich werde ihn schon retten. Es ist nur die Frage, ob der alte Xaver nicht schon nach Hochmoor hinuntergegangen ist, denn ich wüßte nicht, wo ich noch eine weitere Stange und Seile finden sollte.«
»Aber wird denn der Mensch nicht erfrieren?«
»Nein, nein, das Moorwasser unter dem Eis muß an der Stelle ziemlich warm sein, sonst wäre der Mensch nicht eingebrochen.«
Wie die beiden noch sprachen, kam der ebengenannte Xaver vom Hause herunter und fragte erschreckt:
»Aber, gnädiger Herr, es ist wohl ein Mensch im Moor versunken?«
»Nein, noch nicht, aber wenn wir ihn nicht bald herausziehen, wird er versinken. Schaffen Sie vor allen Dingen noch eine Stange und Seile heran, sonst können wir nicht bis zu ihm gelangen.«
Der alte Mann schoß, so schnell es seine Jahre erlaubten, zurück und kam nach wenigen Augenblicken mit einigen langen Stangen, auf denen man das Wild gewöhnlich zu tragen pflegte, zurück. Auch hatte er eine Anzahl Lederriemen und eine alte Waschleine zusammengerafft und legte alles zu Füßen des blonden Herrn nieder. Aber das Zusammenbinden der Stangen, die keine Haltepunkte hatten, war durchaus nicht so einfach, und man lief Gefahr, den Versunkenen herauszuziehen, ihn dann aber, wenn die zusammengekoppelte Stange nachgab, einem sicheren Tode preiszugeben.
Aber da wußte das Fräulein Rat.
»Ziehen wir doch die Waschleine doppelt um beide Stangen, dann kann der arme Mensch, wenn er die doppelte Leine erfaßt, sicher ans Ufer gezogen werden.«
»Du hast doch einen anschlägigen Kopf. Rita, ich habe es ja immer gesagt.«
Lippe hatte trotz der drohenden Todesgefahr auf jedes Wort geachtet, das am Ufer gesprochen wurde; und obwohl er mit seinen Gedanken schon halb im Jenseits war, überkam ihn ungeheure Befriedigung, als er von dem blondbärtigen Herrn den Namen Rita aussprechen hörte. Endlich hatte er die Flüchtlinge gefaßt, und wenn sie keine Unmenschen waren, durften sie ihn nicht ohne weiteres nach Hause gehen lassen, sondern mußten ihm ein Unterkommen gewähren, wenigstens so lange, bis er seine Kleider getrocknet hatte.
Jetzt trat der schöne blonde Mann wieder in den eingefrorenen Kahn und rief dem Versinkenden zu:
»Sind Sie stark genug, sich an der Stange festzuhalten?«
»Ich hoffe es,« gab Lippe zurück.
»Sonst wollen wir Ihnen eine Schlinge …«
»… um den Hals legen und mich so herausziehen. Das würde mir wohl ebenso gut bekommen, wie ein Besuch auf dem Grunde des Moores.«
Rita Geldern schauerte zusammen bei dem grausigen Humor des fremden Mannes, der schon mit einem Fuße im Grabe stand.
Aber Lippe dachte noch lange nicht ans Sterben. Er faßte beherzt die Stange, schlang sich darauf das Seilende um die Brust, dann rief er, als ob es sich um einen Scherz handelte: »Nun ziehen Sie los.«
Wenige Atemzüge später stand der Gerettete, zwar starr und steif vor Kälte, aber doch immer gerettet, auf festem Boden.
»Ich bin der Geologe Dr. Müller,« stellte er sich mit einer eleganten Verbeugung gegen die Dame vor.
Der blonde Herr zog zu einem kurzen Gruß das Biberbarett und sagte dann in einem Ton, dem man die Gewohnheit des Befehlens anmerkte:
»Nun kommen Sie herein ins Haus, wenn Ihnen an der Erhaltung Ihrer Gesundheit etwas gelegen ist.«
»Oh, ich fühle mich schon wieder ganz wohl, wenn Sie mir nur gestatten, meine Kleider zu trocknen und vielleicht meinem innern Menschen mit einem Glase Glühwein aufhelfen wollten.«
»Kommen Sie nur. Xaver, führen Sie den Herrn ins Fremdenzimmer.«
»Dort ist nicht geheizt,« entgegnete der alte Diener bescheiden.
»Zum Teufel, da kommen Sie in mein Zimmer. Bringen Sie Kleider von mir und ein paar warme Decken.«
»Jawohl, gnädiger Herr.«
Xaver trippelte voran ins Haus, und als der Schloßherr mit seinem Gaste im Herrenzimmer des Schlößchens erschien, stand der alte Diener schon mit Kleidern und Decken bereit.
»Lassen Sie sich von Xaver beim Umkleiden helfen, ich werde indessen gehen und für Glühwein sorgen.«
Lippe verbeugte sich höflich und der blonde Herr fügte mit einem vornehmen Lächeln hinzu:
»Wir leben hier vollständig zurückgezogen, fast ganz ohne Dienerschaft, ich muß daher alles selber veranlassen, ich bin aber gleich wieder bei Ihnen.«
Der alte Xaver hatte dem Geretteten einen weichen Divan zum behaglich geheizten Kamine gerückt und begann ihm die erstarrten Glieder kräftig zu reiben. Bald darauf kam auch der Hausherr zurück. Er trug eine kleine Teemaschine, deren Flammen er sofort in Brand setzte.
»Nun werden Sie gleich bedient sein. Hoffentlich hat der fatale Unglücksfall keine weiteren Folgen. Für alle Fälle habe ich das Fremdenzimmer heizen lassen, und Sie werden eine kleine Schwitzkur durchmachen; man kann nicht wissen, was nach einem solchen kalten Bade alles nachfolgt.«
Lippe wollte protestieren. Er fühle sich durchaus wohl, und er hoffe, wenn er erst richtig warm geworden sei, keinen Schaden von seinem Einbruch davonzutragen.
»Einerlei,« antwortete der Hausherr, »so ohne weiteres dürfen Sie mir nicht aus dem Hause. Was man jetzt mit einer kleinen Schwitzkur erreichen kann, geht später vielleicht bloß durch ein langes Schmerzenslager, dem Rheumatismus muß man entgegentreten, ehe er sich in den Körper eingenistet hat.«
»Aber ich erwarte morgen früh einen Bekannten in Beraun?«
»Nun, so werden Sie ihm ein paar Zeilen aufschreiben, und mein Diener wird sie heute mittag mit nach der Oberförsterei nehmen, von wo sie der Bote nach dem Postamt fragen kann.«
»Dann gestatten Sie wohl, daß ich gleich die paar Zeilen schreibe?«
»Mit Vergnügen! Soll ich Ihnen Tinte und Feder bringen?«
»Bitte, bemühen Sie sich nicht, ich werde aufstehen und mich an Ihren Schreibtisch setzen. Es sind ja keine Damen zugegen, die meine deckenumhüllte Gestalt verletzen könnte.«
»Ganz nach Ihrem Belieben.«
Lippe ging zum Schreibtisch. Teilte in wenigen Zeilen dem bis zum nächsten Morgen wohl eingetroffenen Kommerzienrat Geldern mit, daß er sich im Hause des Prinzen am Geiersberg befinde und Rita gesehen habe. Er möge sich einen Führer nehmen und ihn so bald als möglich aufsuchen. Er verschloß den Brief und schrieb auf das Kuvert: Herr Kommerzienrat Geldern aus Berlin, zurzeit Beraun, Hotel »Zum Hirschen«. Dann stand er auf und reichte mit einem lauernden Blick seinem Erretter den Brief.
»Wenn Sie die große Güte haben wollten, den Brief befördern zu lassen?«
Der Hausherr nahm den Brief ohne die Adresse zu lesen, aber als er ihn dem Diener gab und Lippe hinzufügte, der Brief müsse unter allen Umständen am nächsten Morgen in den Händen des Adressaten sein, warf der blonde Mann ganz wie zufällig einen Blick auf das Kuvert. Eine Blutwelle schoß ihm ins Gesicht, dann erblaßte er plötzlich, und mit eigentümlich sicherer Stimme fragte er seinen Gast:
»Mein Herr, wer sind Sie?«
»Kriminalkommissarius Lippe aus Berlin.«
»Und Sie suchen …«
»Nichts!«
»Nichts?«
»Oder besser gesagt nichts mehr, denn Fräulein Rita Geldern habe ich gefunden.«
»Mein Herr, der Brief wird nicht abgehen.«
»Dann tragen Sie die Folgen. Ich bin übrigens beauftragt, Eurer Hoheit mitzuteilen, daß Herr Kommerzienrat Geldern zu allem seine Einwilligung gibt.«
»Aber die Polizei?«
»Ich habe nur privaten Auftrag, und niemand als mein Chef weiß von meiner Mission. Ich rate also Eurer Hoheit, den Brief so schnell und so sicher wie möglich an seine Adresse zu befördern.«
»Für wen halten Sie mich, mein Herr?«
»Für den Prinzen Johann von Toscana.«
Ueber das Gesicht des alten Dieners flog ein verständnisinniges Lächeln.