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Lippe kam nach seinem erfolgreichen Ausflug ins Löcknitztal ziemlich vergnügt zu Hause an. Er wollte gerade zu Bett gehen, als seine Chambre-garni-Wirtin an die Tür klopfte.
»Herr Kommissarius, es war ein Schutzmann hier.«
»So, hat er was hinterlassen?«
»Jawohl, der Herr Kommissarius möchten heute abend noch nach dem Polizeipräsidium kommen.«
»Na, das ist ja eine schöne Geschichte, aber Dienst ist Dienst.«
Er machte sich also ohne weitere Umstände wieder auf und verließ das Haus.
Als er über den Alexanderplatz ging, bemerkte er, daß die Fenster des Polizeirats erleuchtet waren und nun wußte er, von wem der Befehl ausgegangen. Er ging daher direkt nach dem Vorzimmer seines Chefs, und der Schutzmann vom Dienst meldete ihm, daß der Herr Polizeirat ihn sofort zu sprechen wünsche.
»Ach, guten Abend, mein lieber Lippe. Sie waren heute mittag in zweifelhafter Damengesellschaft in Erkner?«
»Jawohl, Herr Polizeirat, amtlich.«
»Inzwischen haben sich hier große Dinge ereignet.«
»Bei mir auch.«
»So, das interessiert mich zu hören, sprechen Sie zuerst.«
»Nun, ich glaube, den Komplicen Harsleys endlich fest zu haben.«
»Ach, mit der Sache haben Sie sich wieder beschäftigt.«
Der Polizeirat machte ein ziemlich enttäuschtes Gesicht.
»Wir haben nur eine Sache, das ist die Sache Geldern, denn der Einbruch und die Entführung hängen ganz intim zusammen.«
»Das also meinen Sie? Nun, dann lesen Sie mal hier den Brief Ihres Wiener Kollegen.«
Lippe nahm das Schriftstück und überflog es mit auffallender Schnelligkeit. Dann stieß er in höchster Aufregung, die er sogar in Gegenwart seines Chefs nicht bemeistern konnte, hervor: »Also doch der echte Prinz!«
»Ja, der echte Prinz, und diesmal ist die Sache klar, kein Mensch kann im geringsten daran zweifeln. Ich habe den Kommerzienrat sofort benachrichtigt, um ihm wenigstens die Ungewißheit über das Schicksal seines Kindes zu nehmen. Sehen Sie, wie gut es manchmal ist, wenn man einer falschen Fährte folgt. Ich bitte Sie, der Skandal war ja nicht abzusehen, wenn Sie plötzlich in der Meinung, Sie hätten Dr. Johann Klose gefaßt, den Prinzen von Toscana verhafteten.«
Lippe sah ziemlich niedergeschlagen aus. Seine gesamten Kombinationen waren zerstört. Weshalb auch hatte der Prinz die ganze Sache so geheimnisvoll angefangen? Wenn er sich vor seiner Familie gefürchtet, brauchte er doch den Kommerzienrat nicht im Ungewissen lassen. Der kritische Geist erwachte doch wieder in dem jungen Detektiv. Konnte diese neue Wendung nicht wieder ein wohlvorbereiteter Streich sein? Aber nein, hier stand so klipp und klar zu lesen: »Der Kapitän zur See Prinz Johann von Toscana ist vor etwa drei Wochen auf seinem Gute Horczowitz in Böhmen mit einer sehr schönen jungen Dame eingetroffen. Er hatte eine lange Unterredung mit einem seiner Oberförster, wonach er das Schloß wieder verließ, ohne daß sein Aufenthalt zurzeit bekannt geworden wäre. Dagegen hält sich Dr. Johannes Klose aus Berlin zurzeit in Wien auf, um seinen Uebertritt in den österreichischen Staatsverband zu betreiben. Dr. Klose, der bekanntlich die Chinaexpedition des Kanonenboots ›Marder‹ als Arzt begleitet, ist nunmehr als Stabsarzt und Chef des Hafenlazaretts zu Triest in den österreichischen Kriegsdienst eingetreten. Alle diese, sonst sehr langwierigen Verhandlungen wurden durch das geradezu glänzende Zeugnis und die persönliche Verwendung des Prinzen von Toscana ungemein beschleunigt. Dr. Klose hat einen mehrwöchentlichen Urlaub, nach dessen Ablauf er sein Kommando antritt. Außerdem steht die Beförderung des Prinzen von Toscana zum Admiral bevor, und der neue Admiral soll die Hafenkommandantur von Triest übernehmen.« Soweit der Brief des Wiener Detektivs. Dagegen war freilich nichts mehr zu machen, Johann Klose zeigte sich öffentlich in Wien. Es war also anzunehmen, daß er mit der Entführung Ritas nicht im Zusammenhang stand. Der Prinz war in Begleitung einer Dame auf seinem Gute eingetroffen, und seitdem hatte man jede Spur von ihm verloren. Offenbar hatte er inzwischen die Ehe mit Rita geschlossen und wartete nun in der Verborgenheit den günstigen Augenblick ab, wo er die Einwilligung des Familienoberhauptes nachsuchen konnte.
Mitten in die Gedanken Lippes schlug jetzt der Auftrag seines Chefs, in der Entführungsgeschichte nichts mehr zu tun. Auch Herr Kommerzienrat Geldern war der Ansicht, daß man nun von allen weiteren Nachforschungen absehen müsse, um den Prinzen nicht zu kompromittieren.
»Aber, Herr Polizeirat,« meinte Lippe, »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich nach dem Komplicen Harsleys forsche?«
»Nein, dagegen habe ich durchaus nichts. Ich möchte Sie aber doch ersuchen, Ihre Recherchen nicht über den Fall hinaus auszudehnen, selbst wenn Sie zuverlässig zu wissen glauben, daß Einbruch und Entführung zusammengehören. Sie haben gesehen, zu welch' furchtbaren Irrtümern eine allzu reiche Phantasie den Kriminalisten verführt. Es ist durchaus allein die Sache der Beteiligten, wann, wo und wie sie heiraten wollen. Nur falls Herr Kommerzienrat Geldern uns offiziell die Anzeige von der Entführung seiner Tochter macht, sind wir berechtigt und verpflichtet, die Sache zu verfolgen. Diese offizielle Anzeige hat nicht stattgefunden. Jede Nachforschung also, die Sie nach dieser Richtung hin anstellen, kommt einer Überschreitung Ihrer Amtsbefugnisse gleich, und ich möchte unter keinen Umständen, daß ein so fähiger, gewissenhafter Beamter wie Sie, in Konflikt mit seinen Vorgesetzten gerät.«
»Ich werde genau nach Ihren Direktiven handeln, Herr Polizeirat, aber selbst der Minister kann mir nicht verwehren, in dieser Sache meine eigenen Gedanken zu haben.«
»Das verwehrt Ihnen auch niemand, aber Sie kennen ja das alte Unteroffizierwort, wenn ein Soldat sagt, ich dachte: wenn du denkst, mein Junge, gibt's ein Unglück. Nun gehen Sie schlafen.«
Der Polizeirat hatte seinen Untergebenen in höflichster Form verabschiedet, wenn er aber glaubte, ihn überzeugt zu haben, so war er in einem schweren Irrtum befangen. Noch auf der Straße unten schüttelte Lippe mehrmals heftig mit dem Kopf und murmelte ziemlich laut vor sich hin: »Es ist nicht wahr und es kann nicht wahr sein, mag kommen was da will, ich bleibe bei meiner Ansicht. Es sprechen zuviel Gründe gegen den echten Prinzen.«
Der andere Morgen sah den Kriminalisten schon in aller Frühe nach dem Bankhause Geldern gehen. Er mußte Licht in die Angelegenheit bringen, selbst gegen die Einwilligung seines Vorgesetzten. Ein Umstand war bisher ganz unbeachtet geblieben: die geheimnisvolle Ankunft jenes Briefes, in dem Rita ihren Vater um Geld gebeten hatte. Lippe begab sich zunächst zu dem alten Klose.
»Kennen Sie mich noch,« fragte er ihn.
»Gewiß, Sie sind ein Herr von der Polizei.«
»Ja, Sie haben's geraten und Sie werden mir daher auch ohne Umstände und Umschweife ein paar Fragen beantworten. Sie erinnern sich doch noch des Briefes, der eines Tages von selbst durch ein nach der Straße gehendes Fenster in das Bureau des Herrn Kommerzienrats gewandert war?«
»Jawohl, erinnere ich mich, den mußte der Fensterreiniger hineingesteckt haben.«
»Nun denken Sie sich, den Fensterreiniger habe ich gestern ermittelt.«
Ein lauernder Blick Kloses traf den Beamten, aber sofort hatte der alte Mann wieder seine gewöhnliche schafstreue Miene angenommen. Trotzdem jedoch der verdächtige Ausdruck gedankenschnell über Kloses Gesicht gehuscht war, hatte ihn Lippe bemerkt, und ebenso schnell folgte in seinem Kopfe Kombination über Kombination.
Wenn Woldemar Richter in der Maske des Fensterreinigers aufgetreten war, mußte Klose seine Hand dazu geboten haben, denn sonst hätte er das Zuspätkommen des Kommis dem Kommerzienrat gemeldet, denn Klose war ein rücksichtsloser Aufpasser: Ob er das Zuspätkommen Richters gemeldet, das mußte freilich erst festgestellt werden. Aber Lippe besann sich nicht lange, sondern ging geradenwegs auf das Ziel los.
»Ich will Ihnen was sagen, Klose,« fing er wieder an, »Sie sind durchaus nicht so zuverlässig, wie Sie gern scheinen möchten.«
Der Alte zuckte unwillkürlich zusammen.
»Wie können Sie mir so etwas nachreden?«
»Das will ich Ihnen gleich sagen. Sie begünstigen die Herren, die bei Ihrer Schwester wohnen.«
Ein Lächeln der Beruhigung erhellte das Gesicht des Kassenboten.
»Gott ja, soll man die jungen Leute gleich um ihre Stelle bringen?«
»Aber Sie wissen doch, wie der Kommerzienrat auf Pünktlichkeit hält?«
»Na ja, aber man muß doch auch einmal ein Auge zudrücken können.«
»Warum haben Sie zum Beispiel an jenem Tage, als der bewußte Brief in das Fenster gesteckt wurde, die Verspätung, deren sich Herr Richter schuldig gemacht hat, nicht gemeldet?«
»Gott, der junge Mann … na, Sie wissen ja, er wohnt bei meiner Schwester und da gehört er so gewissermaßen mit zur Familie.«
»Er war wohl am Abend vorher auf einem Kostümfest?«
Klose schwieg, als sänne er darüber nach, was diese Frage zu bedeuten habe. Lippe ließ ihm jedoch wenig Zeit, sich zu fassen, sondern er fuhr schnell fort:
»Nun, Herr Richter hat sich doch bei Ihnen umgezogen, und können Sie mir vielleicht sagen, wo er das Fensterreinigerkostüm her hatte?«
»Ich verstehe kein Wort von alldem, was Sie da sagen.«
»Gut, ich will Ihnen das Verständnis beibringen.«
Lippe nahm jetzt eine ungeheuer strenge und ernste Miene an.
»Der Brief, den der Herr Kommerzienrat in seinem Bureau fand, ist Ihnen durch Herrn Richter übergeben worden. Leugnen Sie nicht, Sie haben ihn, nachdem Sie die Scheibe mit einem Glaserdiamanten von innen durchschnitten hatten, in den so entstandenen Spalt hineingeschoben, indessen der saubere Herr Richter sich auf der Straße als Fensterreiniger produzierte.«
»Sie können viel reden, wenn der Tag lang ist,« sagte Klose ziemlich frech.
»Mir ist es ja recht. Die Sache ist weiter nicht von Belang, aber ich werde meine Entdeckungen dem Herrn Kommerzienrat mitteilen, und so viel ist sicher, daß Sie die längste Zeit im Hause gewesen sind.«
»Das wollen wir doch erst einmal abwarten.«
»Ja ja, das wollen wir erst abwarten. Jetzt aber melden Sie mich dem Herrn Kommerzienrat, ich muß ihn notwendig sprechen.«
Klose brummelte etwas vor sich hin, ging aber doch gehorsam die paar Stufen nach dem Hochparterre hinauf, um den Befehl des Beamten auszuführen. Schnell entschlossen trat Lippe in die Wohnung des Kassenboten, zu der eine Glastür im Souterrain führte. Er traf dort die löbliche Gattin des alten Fuchses. Er ging schnell auf sie zu:
»Ach, Sie verzeihen, ich bin der Kriminalkommissar Lippe und möchte den Herrn Kommerzienrat sprechen.«
»Ist mein Mann nicht draußen?«
»Ja ja, er meldet mich schon. Ich habe mir aber da auf der Straße einen Nagel in die Stiefel getreten, können Sie mir nicht auf einen Augenblick eine Zange oder irgend ein ähnliches Instrument borgen?«
»Aber gewiß.«
Die Alte ging und kam mit einer riesigen Beißzange zurück.
»Ach, die ist ja viel zu groß, liebe Frau. Haben Sie keine kleinere oder vielleicht einen Schraubenzieher?«
»O ja, da ist eine Menge Zeug, kommen Sie doch einmal her und sehen Sie selbst nach, was Sie brauchen können.«
Lippe folgte der Frau. Er durchstöberte den Werkzeugkasten und fand richtig, was er suchte: einen kleinen, in Messing gefaßten Glaserdiamanten. Indem kam gerade Klose dazu. Lippe zeigte ihm seinen Fund:
»Sehen Sie mal her, Klose, was ich hier gefunden habe. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mir das Instrument zum Andenken mitnehme. Ich glaube, man kann damit ganz gut Löcher in Fensterscheiben schneiden.«
Der alte Kassendiener schien es für das beste zu halten, kein Wort zu entgegnen. Er nickte bloß, und nach einer Weile sagte er:
»Der Herr Kommerzienrat läßt bitten.«
Lippe war starr über diese Unverfrorenheit des Kassendieners, aber er hielt es für gut, noch nicht weiter in ihn zu dringen, denn es ist eine alte Erfahrung, daß man Geheimnisse dem Menschen stückweise am besten entlockt. Er beschloß daher, zunächst die wichtigste Frage für die gesamte Untersuchung mit dem Kommerzienrat zu erörtern.
Der alte Finanzmann empfing den Detektiv mit ausgesuchter Höflichkeit. Es war eine sichtliche Veränderung seit den letzten Tagen mit ihm vorgegangen. Der schwermütige Zug, der sich auf seinem Gesichte während der Ungewißheit über das Schicksal seiner Tochter ausgeprägt hatte, war gewichen. Er schien wieder ganz der naive, fröhliche Geldern, der außerhalb seiner Berufstätigkeit jedem Genuß gern nachging und keinen zu teuer fand.
Diese Veränderung charakterisierte sich auch in der Art, wie er mit dem Polizeibeamten sprach. Es war durchaus nicht mehr die vorsichtige, fast ängstlich abwägende Art, sondern in seinem Sprechen lag eine leichte Fröhlichkeit, eine gewisse gönnerhafte Leutseligkeit. Als Lippe in das Zimmer trat, stand der Kommerzienrat auf, ging seinem Gaste entgegen und schüttelte ihm die Hand.
»Guten Tag, mein lieber Kommissar, sind Sie immer noch auf der Suche? Sie wissen wohl noch nicht, daß wir zuverlässige Nachrichten über meine Tochter und über meinen Schwiegersohn, den Prinzen, haben? Na, junger Mann, Sie haben sich rechte Mühe gegeben. Daß Ihnen mein Mädel und der Prinz zu schlau waren, das habe ich ja vorausgesehen. Ich mache Ihnen gar keinen Vorwurf daraus, frühstücken Sie ein bißchen mit? Ja? Na, da wollen wir einen Versöhnungsschoppen trinken.«
Lippe wehrte ab. »Herr Kommerzienrat, was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, ist durchaus nicht dazu angetan, Ihnen die Lust zum Frühstücken zu erhöhen. Ich selbst habe nicht recht Zeit dazu, aber lassen Sie sich nicht abhalten, denn wenn ich Ihnen raten darf, hören Sie meine Mitteilungen erst an, wenn Sie sich gestärkt haben.«
»Kleiner Schäker, Sie machen wohl Witze?«
Der Kommerzienrat lachte vergnügt.
»Wollen wir doch die Sache bei einer Flasche Pommery besprechen?«
»Da sage ich nicht nein!«
Der Kommerzienrat hatte indessen schon den elektrischen Knopf auf seinem Schreibtisch gedrückt und gab dem eintretenden Diener in einer kurzen, herrischen Weise Befehl, das Frühstück zu servieren: »Aber mit Pommery, hörst du.«
»Zu Befehl, Herr Kommerzienrat.«
»Essen Sie doch 'ne Stulle mit, machen Sie keine Sachen.«
Lippe wollte noch etwas einwenden.
»Ach, essen Sie nur ruhig mit,« opponierte ihm aber der Kommerzienrat, »ganz einfaches Frühstück, bißchen kalte Platte von Hiller, zwanzig Mark die Person.«
»Nein, Herr Kommerzienrat, da bin ich nicht dabei, unter hundert Mark das Kuvert frühstücke ich nicht.«
Geldern lachte vergnügt. Er konnte einen Witz vertragen, aber er war auch der Mann, im entscheidenden Moment ihn in Ernst umzusetzen. Er klingelte daher sofort von neuem dem Diener und befahl ihm, das Frühstück abzustellen, dann sagte er zu Lippe:
»Wissen Sie, wenn Sie mit meinen Pellkartoffeln nicht zufrieden sind, dann kommen Sie mit, wir frühstücken bei Hiller, aber das sage ich Ihnen, jetzt esse ich kein Kuvert unter hundert Mark.«
»Da müssen Sie aber erst einen Augenblick warten, ich will vorher meine goldene Uhr versetzen.«
»I wo, Sie sind mein Gast, selbstverständlich.«
»Herr Kommerzienrat, ich habe das auch gar nicht anders angenommen. Ich hatte nur nicht genügend Geld für ein Trinkgeld an den Kellner bei mir.«
»Na, hören Sie mal, junger Mann, Sie gefallen mir, aus Ihnen kann noch etwas werden.«
»Es soll mich freuen, wenn Sie recht behalten, Herr Kommerzienrat.«
Geldern machte sich fertig zum Ausgehen und nahm den Polizeibeamten unter den Arm. Sie gingen langsam, wie zwei Leute, die etwas wichtiges vorhaben, die Wilhelmstraße hinunter und über die Linden weg bis zu dem eleganten und berühmten Restaurant. In einem kleinen Salon, der behaglich geheizt war, nahmen sie Platz, und Geldern stellte ein ausgesuchtes Frühstück zusammen. Da er nur die exzellentesten Leckerbissen wählte und den Wein schon nach wenigen Gläsern wechselte, war der Preis, den er sich vorgenommen hatte für das Frühstück auszugeben, ziemlich schnell erreicht. Aber er sollte doch nicht so vergnügt von der Tafel aufstehen, wie er sich hingesetzt hatte, denn die Mitteilungen des jungen Polizeibeamten waren dazu angetan, ihm die gute Stimmung zu rauben.
»Sie haben also nicht bemerkt, Herr Kommerzienrat, daß Ihnen aus dem erbrochenen Geldspind ein Schriftstück abhanden gekommen wäre?«
»Nein, ich habe nichts bemerkt.«
»Und dennoch muß es der Fall sein.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Erinnern Sie sich kurz nach dem Einbruch einer Finanzaktion, die Sie entrierten, und bei der Ihnen von einer Gegenpartei große Schwierigkeiten in den Weg gelegt wurden?«
»Ja, aber was hat das damit zu tun?«
»Nun, der Vertrag, den Sie abzuschließen im Begriffe standen, ist aus dem Geldspinde geraubt und kopiert worden.«
»Was Sie nicht sagen? Ich glaubte, ein Gesandtschaftssekretär der Regierung, mit der ich den Vertrag verhandelt hatte, habe Mitteilung an die Gegenpartei gemacht. Der Mann ist auch bereits abberufen und wird vor einen Disziplinarhof gestellt werden.«
»Der Gesandtschaftssekretär ist unschuldig, Herr Kommerzienrat, Sie haben den Dieb im Hause, und zwar heißt er Woldemar Richter.«
»Das ist mir ja ganz neu.«
»Ich will Ihnen noch eine andere Neuigkeit mitteilen. Dieser saubere Herr Richter und der Fensterreiniger, von dem Ihnen Klose erzählt hatte, daß er den Brief Ihrer Tochter durchs Fenster geschmuggelt habe, sind eine Person.«
»Was, Richter sollte die Fensterscheibe durchschnitten haben?!«
»Ich kann Ihnen sogar den Diamanten geben, mit dem die Fensterscheibe durchschnitten worden, und es wird Sie noch weiter interessieren, daß ich diesen Diamanten im Besitze Ihres Kassenboten Klose fand.«
»Alle Wetter, demnach wäre ich von lauter Hallunken umgeben.«
»So weit will ich mit meinen Behauptungen nicht gehen. Daß aber Klose und Ihr Kommis Richter von dem, was man ehrliche Menschen nennt, ziemlich weit abweichen, dafür möchte ich mich verbürgen. Es steht für mich sogar bombenfest, daß Woldemar Richter den Aufenthalt Ihrer Tochter kennt und daß er den damals nach Wien adressierten Brief, nachdem er die Aufschrift gefälscht, von der Post zurückgeholt hat.«
»Aber wie sollte er sich die Adresse verschafft haben?« – Der Kommerzienrat sann eine kleine Weile nach. – »Wahrhaftig, Sie können recht haben, jetzt fällt mir ein, daß ich das Kuvert an meine Tochter zweimal geschrieben habe. Klose hatte es mir beschmutzt. Ich schnitt es auf, nahm den Brief heraus und schrieb ein neues. Diese Tatsache ist mir deshalb so genau gegenwärtig, weil ich nach meiner Rückkehr von der Börse das beschmutzte Kuvert aus dem Papierkorb nehmen und verbrennen wollte. Klose aber hatte den Papierkorb vorher ausgeleert.«
»Leere Kuverts kann sich doch jeder Ihrer Beamten nehmen?«
»Nicht die, die ich zu verwenden pflege, diese konnte nur Klose bekommen, denn er ist der einzige, der in meiner Abwesenheit mein Bureau betreten darf.«
»Nun ist die Sache vollständig klar. Klose hat das aufgeschnittene Kuvert aus dem Papierkorb genommen, hat sich ferner in den Besitz einiger neuen Kuverts gesetzt, und dann hat Herr Woldemar Richter die Adresse durchgepaust, eine verhältnismäßig leichte, aber schwer zu entdeckende Fälschung. Nun ist die Frage: wer war der junge Mann, der den Scheck auf die Gräfin Laufenburg in Ihrem Bureau einlöste. Es ist dies eine Persönlichkeit, über die wir noch nicht das geringste erfahren haben.«
»Ich denke, es wird ein Bedienter des Prinzen gewesen sein.«
»Halten Sie denn immer noch an Ihrem Glauben fest, der Entführer Ihrer Tochter sei ein echter Prinz.«
»Aber natürlich, nach den Mitteilungen des Herrn von Steltmann ist jeder Zweifel ausgeschlossen.«
»Allen Respekt vor dem Herrn Polizeirat, aber auf diesem Wege werde ich ihm nicht folgen. Ich bin ganz anderer Ansicht, und sie werden sehen, ich habe recht. Ein dunkles Geheimnis gilt es noch zu entschleiern, bevor wir einen Schluß ziehen können. Mir bleibt der Umstand vor allen Dingen sehr verdächtig, daß der Prinz so spurlos vom Erdboden verschwunden ist.«
»Aber Dr. Klose geht doch am hellen Tage in Triest spazieren?«
»Das ist noch kein Grund dafür, daß er nicht der Entführer des Fräuleins sein sollte. Er weiß recht gut, daß Sie, um den Skandal zu vermeiden, auf eine öffentliche Verfolgung verzichten, und so kann er sich ja ohne Gefahr öffentlich sehen lassen. Solange ich nicht den Doktor und den Prinzen nebeneinander gesehen habe, solange halte ich es für sehr gewagt, irgend ein zuverlässiges Urteil abzugeben, nur habe ich das Gefühl, daß ein so vornehmer Herr sich ganz anders benehmen würde.«
»Glauben Sie, daß meiner Tochter Gefahr droht? Aber antworten Sie mir ehrlich.«
»Nein, dem Fräulein droht keinerlei Gefahr, denn soweit ich die Vorgeschichte dieser Entführung ermitteln konnte, ist Dr. Klose wahnsinnig in sie verliebt, und außerdem ist er ein hochanständiger Mann.«
»Was gedenken Sie nun in der Sache zu tun?«
»Ich möchte am liebsten Urlaub nehmen, nach Böhmen reisen und mich dem Prinzen persönlich vorstellen. Ich bin fest überzeugt, daß auf diese Weise allein des Rätsels Lösung möglich ist.«
»Nun, dann machen Sie Ihren Vorsatz doch wahr.«
»Gewiß, daran soll's nicht fehlen. Vorerst aber muß ich noch hier einige wichtige Vernehmungen erledigen, und zwar allein zu dem Zweck, über den Einbruch und die Art, wie es dem englischen Verbrecher möglich wurde, die richtigen Schlüssel zu Haus und Keller zu erhalten, Licht zu bekommen. Daß Klose dabei eine hervorragende Rolle gespielt hat, scheint mir einwandfrei festzustehen, nur möchte ich ihn jetzt noch nicht verhaften, weil ich jedes Aufsehen im Interesse Ihrer Tochter vermeiden muß.«
Allmählich war die Zeit herangerückt, wo der Kommerzienrat zur Börse zu gehen pflegte. Er war sehr verstimmt, und selbst der reichlich genossene Champagner vermochte nicht, ihm die frühere sorglos-fröhliche Stimmung zurückzugeben. Er schüttelte zum Abschied dem Kriminalisten die Hand und sagte:
»Es ist eigentümlich mit euch Polizeibeamten. Jeder hat eine andere Ansicht, und jedem muß man glauben. Ein armer Vater, wie ich, fällt dabei unvermittelt von einer Stimmung in die andere.«
»Seien Sie nur ruhig, Herr Kommerzienrat; lange werden Sie nicht mehr im Unklaren bleiben. Ich darf Ihnen die Versicherung geben, daß das Ende im Herannahen ist. Hoffentlich können wir sagen: Ende gut, alles gut.«