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Ein nebliger Oktoberabend. Die Laternen auf dem Alexanderplatz warfen ein weiches Licht auf die hastenden Menschen, Droschken, Pferdebahnen.
Polizeirat von Steltmann schlenderte langsam quer über den Platz zwischen den entlaubten Gebüschen nach dem Polizeipräsidium hin. Ein Liebespärchen ging so dicht an ihm vorüber, daß er den feinen Blumenduft, der von den Kleidern der jungen Dame aufstieg, deutlich empfand. Es war kein gewöhnliches Parfüm, sondern einer jener Gerüche, deren sich die vornehmen Inderinnen bedienen.
Unwillkürlich schaute der Polizeibeamte auf und das Gesicht des jungen Mannes, der das elegante Mädchen eng an sich gezogen hatte, erschien ihm nicht unbekannt, aber wo er ihn gesehen hatte, wollte ihm nicht in den Sinn kommen.
Wie das Leben hier flutete?! Trotz des schon stark vorgeschrittenen Herbstes saßen allerlei Gestalten auf den Bänken zwischen den Bosquets, die dürr und kahl in den nebligen Abend starrten. Der Nebel spann sie sorglich in ein weiches graues Gewebe. Was da alles über den Alexanderplatz hastete?! Es war wahrhaftig kein guter Gedanke, hier ein Bild der Berolina aufzustellen, kein Künstler konnte ihre Züge so treffend wiedergeben, wie sie sich im Getriebe des Alexanderplatzes markierten.
Seltsame Gedanken beschäftigten den Polizeirat. Wie viele Verbrecher mochten sich ungesehen durch die Menschenflut drängen, die sich zwischen den klingelnden Elektrischen, unter den funkelnden Bogenlampen, den Restaurants und vor den beleuchteten Schaufenstern schob, und wie viele Geheimnisse wurden über diesen Platz getragen, Geheimnisse, von denen die Polizei nur zu gern Kenntnis gehabt hätte.
Als Herr von Steltmann sein Bureau betrat, konnte er sich von dem Eindruck des Stückchen Großstadtlebens, das er eben wahrgenommen, noch nicht so ohne weiteres trennen. Sein Fenster ging auf den Alexanderplatz; er schob die schweren dunklen Wollgardinen zurück und blickte hinunter. Licht, Nebel und bewegliche Massen, weiter sah er nichts.
Eine schrille Glocke erklang … einmal … zweimal … dreimal; das bedeutete unabweisbaren Besuch, so wenigstens hatte der Polizeirat den Schutzmann in seinem Vorzimmer instruiert, ihm die Ankömmlinge zu melden. Er wollte vorbereitet sein, ehe der wachhabende Schutzmann bei ihm eintrat; denn der Chef der Berliner Kriminalpolizei muß in der Lage sein, selbst vor seinen vertrautesten Beamten Geheimnisse verbergen zu können. Auch heute blickte er gewohnheitsgemäß auf seinen Schreibtisch, ob nicht ein verräterisches Schriftstück herumlag. Es war natürlich überflüssige Vorsicht, denn der Beamte hatte ja erst eben sein Bureau betreten.
Nun schaltete er die elektrischen Glüh-Lampen an der breitarmigen Bronzekrone ein und das elegante Bureau schwamm in einer Wolke von Licht. Ein Polizist muß seinen Besuch scharf beobachten können, halbdunkle Zimmer taugen nicht für ihn.
Einige Atemzüge später trat der wachhabende Kriminalschutzmann ein und meldete mit leiser Stimme:
»Herr Kommerzienrat Geldern.«
Geldern? Unwillkürlich fiel dem Polizeirat das Liebespärchen ein, das ihm unten zwischen den Bosquets des Alexanderplatzes begegnet war. Nun wurde ihm klar, wo er den jungen Mann gesehen hatte: In Gelderns Bureau. Herr von Steltmann hatte früher viel im Hause des Kommerzienrats verkehrt, erst seit einigen Jahren war zwischen den beiden Herren eine augenfällige Entfremdung eingetreten.
Geldern, einer der reichsten Finanziere Berlins, der König der Börse, der um Millionen, wie gewöhnliche Sterbliche um Pfennige spielte? Der kühnste Spekulant, der rücksichtsloseste Existenzenmörder? Was wollte der bei dem Chef der Kriminalpolizei? Vielleicht war ihm ein Kassierer durchgegangen, vielleicht …
Der Polizeirat unterbrach seine Gedanken jäh, denn eben öffnete sich die hohe Eichentür und der Angemeldete trat ein. Ja, was war denn das? War der Mann mit dem müden, blassen, sorgenvollen Gesicht Geldern, der lebenslustige Geldern mit dem freundlichen Bächlein, den leicht beweglichen Beinen und dem großen Napoleonskopf? Es mußte etwas Furchtbares geschehen sein, um eine solche Veränderung hervorzurufen. Da war kein Kassierer durchgegangen, denn Geldverluste hätten nicht so alle Lebensfreude aus dem Gesicht des Finanzmannes gescheucht.
»Guten Abend Herr Polizeirat.« Er reichte dem Kriminalisten die Hand, eine weiche, feuchte, zuckende Hand. Herr von Steltmann war gewöhnt, alles zu beachten, auch den Händedruck eines Gastes. Was liegt aber auch nicht alles in einem Händedruck? Oft mehr als im Auge, das die poetischen Enthusiasten den Spiegel der Seele nennen, ja oft mehr als in einer langen Rede und Erzählung.
»Ich bitte Platz zu nehmen, Herr Kommerzienrat, was verschafft mir die seltene Ehre?« Ein leichter Anflug von Spott gab der Frage ihre charakteristische Färbung.
Der reiche Mann setzte sich, rückte ein paar Augenblicke nervös auf dem Stuhl hin und her, zog ihn dann dicht an den Schreibtisch des Polizeirats heran, beugte sich weit vor und flüsterte:
»Darf ich ganz offen sein?«
»Ganz offen.«
»Es ist ein großes, wichtiges Geheimnis, das ich Ihnen anzuvertrauen habe.«
»Schweigen können ist die beste Kunst des Polizisten.«
»Sie sind männiglich dafür bekannt, daß Sie aus allen Schwierigkeiten einen Ausweg wissen.«
»Ich bin nicht allwissend.«
»Doch, in bezug auf gewisse Dinge.«
»Ich danke Ihnen für Ihr schönes Vertrauen.«
»Ach, liebster Polizeirat, wir wollen uns jetzt keine Komplimente sagen, mein Herz ist mir so schwer, ich bin so tief erschüttert, daß ich für nichts Sinn habe, von nichts anderem reden, an nichts anderes denken kann als an mein Unglück.«
Herr von Steltmann erschrak über den Ausdruck im Gesicht seines Gastes noch mehr als über dessen Worte, und mit größerer Teilnahme als anfänglich sagte er: »Um Gottes willen, was ist denn geschehen, mein lieber Kommerzienrat? Sprechen Sie, bitte, ohne Umschweife.«
»Meine Tochter ist verschwunden.«
»Verschwunden.« Der Polizeirat wiederholte erschreckt das verhängnisvolle Wort.
»Ja, sie ist verschwunden.«
»Ihre Tochter, die schöne, geistreiche Rita?«
»Sagen wir die überspannte, exzentrische Rita. Wundern Sie sich nicht über mein hartes Urteil; es wird Ihnen aber um so gerechtfertigter erscheinen, als ich Ihnen sage, daß ich das Kind mehr als mein Leben liebe, daß ich lieber mein ganzes Vermögen verlieren will, als daß dem Kinde ein Haar gekrümmt würde. Aber sie ist wirtlich exzentrisch.«
»Früher, lieber Kommerzienrat …«
»Ja früher, das ist vorbei. Früher war sie die schöne, geistreiche Rita. Sie kennen sie ja nicht mehr, denn Sie lehnten ja mit fast kränkender Höflichkeit alle meine Einladungen ab.«
Der Polizeirat schüttelte verlegen den Kopf und Geldern fuhr fort:
»Ein, zwei, auch dreimal läßt man sich das gefallen, dann aber hört man auf, Einladungskarten zu schicken, weil man die Antwort schon im voraus kennt.«
»Sie dürfen mir das nicht so übel nehmen, lieber Kommerzienrat …«
Geldern legte wie beschwichtigend seine Hand auf den Arm des Beamten.
»Nein, nein, wenn Sie das Thema doch einmal anschneiden, so darf ich Ihnen auch den Grund nicht verschweigen. Ich habe über die Moral Ihrer Finanzaktionen meine eigenen Anschauungen.«
»Ja, ich weiß. Aber Sie vergessen, daß ein Börsenmensch wie ein Soldat im Kriege ist. Draufgeherische Grausamkeit ist der größte Vorzug im Kampfe. Ich weiß mir stets im entscheidenden Augenblick die Uebermacht zu verschaffen, und ich benutze sie, meine Gegner zu erdrücken. Ich fühle auch selbst, daß es Unrecht ist und versuche stets durch reiche Spenden an die Armen die Götter zu versöhnen.«
»Sie mögen Recht haben und ich mache Ihnen ja auch keinen Vorwurf aus Ihrem Geschäft. Meinem Empfinden aber ist ein derartiger Kapitalkrieg zuwider und ich will daher auch die Siegesfeste in Ihrem Salon nicht mitfeiern.«
»Jeder nach seiner Fasson. Aber wenn Sie mir auch böse sind, ich meine dem Börsenkönig Geldern, so werden Sie doch dem Vater Geldern Ihre Hilfe nicht versagen.«
»Unter keinen Umständen. Sie rufen den Beamten in mir auf, der Beamte hat keine Empfindungen, er hat nur Pflichtgefühl.«
»Sie verstehen mich falsch, lieber Herr von Steltmann. Ich suche gar nicht den Beamten, ich suche den Freund, denn wenn Sie auch seit Jahren vergrämt sind, ich darf doch immer noch auf Ihre Freundschaft zählen und ich brauche vor allen Dingen Teilnahme.«
»Also reden Sie ohne Umschweife, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«
»Meine Tochter ist verschwunden.«
»Seit wann?«
»Seit zehn Tagen.«
»Mit wem?«
»Mit einem Mann, der ungefähr ein halbes Jahr in meinem Hause verkehrte, den ich lieb hatte, so lieb, daß ich ihm Rita zur Frau geben wollte.«
»Wie nannte er sich?«
»Aha, Sie haben schon einen Verdacht, denn Sie fragen nicht, wie er hieß; Sie glauben, daß er unter falschem Namen bei mir verkehrt hätte?«
»Der Polizist hat immer gleich Verdacht, lieber Herr Kommerzienrat, lassen Sie sich das nicht anfechten.«
»Er nannte sich Dr. Ahrend und gab vor, Arzt zu sein.«
»Sie sagen, er gab vor?«
»Ja, ich spreche jetzt in Ihrem Stile, lieber Polizeirat, denn ich bin sowohl von der Richtigkeit dieser Angabe, wie aller weiteren fest überzeugt.«
»Also er war Arzt?«
»Zweifellos hatte er Medizin studiert, denn Aerzte, Freunde unseres Hauses, mit denen er sich oft und viel unterhalten, sprachen mit großer Anerkennung von seinen medizinischen Kenntnissen.«
»Hm, Hm. Er war reich?«
»Es schien mir so, aber darauf konnte es mir nicht ankommen, denn ich hätte ihm jeden Taler vertausendfachen können, wenn ich seine Spekulationen dirigiert hätte.«
»Also er spekulierte an der Börse?«
»Nein.«
»Nun, dann lebte er von den Zinsen seines Vermögens.«
»So nehme ich an.«
»Und er lebte gut?«
»Sehr gut, wie ein Fürst.«
»Gleich von Anfang, als er in Ihr Haus kam?«
»Jawohl.«
Der Polizeirat hatte alle Fragen ruhig und bedächtig gestellt; nun versank er in ein stilles Brüten. Er spielte mit dem elfenbeinernen Papiermesser auf seinem Schreibtisch und schien seinen Gast gar nicht mehr zu bemerken. Plötzlich fuhr er auf, drückte den Knopf einer elektrischen Birne, die ihm zur rechten Hand lag, und fragte hastig: »Wo wohnte Ihr Dr. Ahrend?«
»Am Lützowplatz in einer vornehmen Pension. Aber ich habe Ihnen die Hauptsache noch gar nicht gesagt.«
»Lassen Sie nur.«
Jetzt trat der Kriminalschutzmann aus dem Vorzimmer ein:
»Der Herr Polizeirat befehlen?«
»Verbinden Sie mich mit Revier Nr. *.«
Herr von Steltmann nahm die Schallbecher seines Telephons, von denen er den einen dem Kommerzienrat hinreichte. Es entwickelte sich folgendes Gespräch:
»Hier Polizeirat von Steltmann.«
»Hier Leutnant Wundt, Herr Polizeirat befehlen?«
»In Ihrem Revier wohnt ein Dr. Ahrend.«
»Sogleich, ich werde nachsehen.«
Wenige Atemzüge später ließ sich die Stimme des Reviervorstandes wieder vernehmen.
»Ein Dr. Ahrend wohnte hier, aber er ist gestern auf Reisen abgemeldet.«
»Von wem?«
»Von seiner Pensionswirtin.«
»Wissen Sie Näheres über seine Persönlichkeit?«
»Nein, befehlen Sie, daß ich recherchiere?«
»Ja, ich bitte darum, und rufen Sie mich sofort an, ich bleibe auf dem Bureau, bis ich Ihre Nachricht empfangen.«
»Zu Befehl, Herr Polizeirat.«
Die beiden Männer legten die Schallbecher aus den Händen und es trat eine kleine Pause ein, die der Polizeirat zuerst unterbrach. Mehr zu sich selbst als zu dem Gaste sagte er?
»Wenn er ein Hochstapler ist, so ist er ein blutiger Anfänger und die fassen wir schnell ab.«
»Wollte Gott, Sie hätten Recht. Ich meine nicht mit dem Hochstapler, sondern mit dem Abfassen. Ich komme nun zur Hauptsache. Dieser Dr. Ahrend heißt jedenfalls nicht Dr. Ahrend.«
»So, Sie wissen also mehr über ihn.«
»Ja, er sprach oft und viel über seine Beziehungen zu hohen und höchsten Herrschaften, er erzählte ganz intime Züge aus ihrem Leben, so daß ich sehr bald den Eindruck gewann, der Doktor sei nicht, was er scheinen wolle.«
»Er gab das auch offen zu, beruhigte mich aber damit, daß ich alles zur gegebenen Zeit erfahren sollte. Und als wir im engsten Familienkreis den Geburtstag Ritas feierten, erschien Ahrend in der Uniform eines österreichischen Seemanns.«
»Und wie motivierte er die Uniform?«
»Er vertraute uns unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, er sei der Prinz Johann von Toscana und dem Kaiserhause nahe verwandt. Seine Familie wollte ihn zu einer verhaßten, aber standesgemäßen Ehe zwingen, für die er trotz des ungeheuren Reichtums der Braut gar keine Neigung hege. Seine Verwandten würden diese Weigerung natürlich mit der Entziehung des Familienvermögens beantworten, aber er brauche diese Maßregel nicht zu fürchten, denn er habe Medizin studiert und könne so mit seiner kleinen Apanage bequem leben.«
»Und Sie haben dieses Märchen geglaubt?«
»Ich glaube es noch. Insgeheim verschaffte ich mir die Photographie des Prinzen Johann. Hier ist sie – und hier auch das Bild unseres Doktors.«
Der Kommerzienrat reichte Herrn von Steltmann zwei Kabinetbilder hin. Sie zeigten in der Tat ein und dieselbe Person nur mit den geringen Abweichungen, die Uniform- und Zivilbilder zu haben pflegen. Der Polizeirat betrachtete die Bilder längere Zeit und sein Auge ging scharf prüfend von einem zum andern. Nach einer Weile sagte er:
»Wirtlich eine auffallende Aehnlichkeit.«
»Sie sind natürlich ebenso mißtrauisch wie ich war.«
»Also doch.«
»Nun, glauben Sie, ich werde einem Menschen ohne weiteres vertrauen, wenn er mich zum Mitwisser solcher auffallenden Dinge macht. Und es ist doch mehr als auffällig, wenn das Mitglied einer der ältesten und berühmtesten Herrscherfamilien einen bürgerlichen Beruf ergreift und den Verkehr eines simplen Bankiers sucht.«
»Na, lieber Kommerzienrat, so auffällig ist die Sache heutzutage gerade nicht mehr. Wenn so ein eminent reicher Mann wie Sie eine hübsche Tochter hat … warum sollte ein Prinz nicht um ihre Hand werben? Haben doch die amerikanischen Eisenbahnprinzessinnen mehrfach echte Prinzen aus den ältesten Familien geheiratet.«
»Natürlich, daran dachte ich auch, aber ich wollte mich doch erst vergewissern, mit wem ich es zu tun hatte. In der ›Wiener Neuen Freien Presse‹ hatte ich gelesen, daß Prinz Johann dem ungarischen Kaisermanöver beiwohnen würde. Unser Doktor mußte sich daher, war er der wirkliche Toscana, in wenigen Tagen verabschieden, um dem Befehl seines obersten Kriegsherrn Folge zu leisten.«
»Und tat er das?«
»Nein. Denn wenige Tage später erschien eine Nachricht: Prinz Johann sei aus Gesundheitsrücksichten beurlaubt und von der Teilnahme an den Manövern entbunden.«
»Das ist in der Tat ein seltsames Zusammentreffen, aber es ist doch nicht von großer Bedeutung, denn Ihr Ahrend las natürlich die Zeitungen so gut wie Sie und richtete danach seine Handlungen ein.«
»Ich sage Ihnen, lieber Polizeirat, mein Ahrend und der Prinz von Toscana sind ein und dieselbe Person, denn in jener kritischen Zeit telegraphierte der Doktor auffallend viel, er mußte auch plötzlich einige Tage verreisen, nach Wien verreisen, wie ich einwandfrei feststellen konnte.«
»Durch wen?«
»Durch meinen alten Kassenboten Klose, einen Mann, der treu wie Gold und mir absolut ergeben ist.«
»Eine höchst seltsame Geschichte. Und was geschah nun weiter?«
»Nach all diesen Beweisen gab ich dem Drängen meiner Tochter und den Bitten Ahrends nach und willigte in eine Verbindung der beiden.«
»So schnell?«
»Durchaus nicht schnell. Ich sagte Ihnen doch, daß Dr. Ahrend bereits länger als ein halbes Jahr in meinem Hause verkehrt hat. Er ist ein schöner Mann und von wirklich bestechenden gesellschaftlichen Formen. Ich sah, wie die jungen Leute von Woche zu Woche vertrauter wurden, und ich muß gestehen, ich freute mich an ihrem Glück.«
»Spielte da nicht ein bißchen Eitelkeit mit, lieber Geldern?«
»Gott, sehen Sie, lieber Freund, man hat nun so eine beträchtliche Anzahl von Millionen zusammengescharrt, da will man doch schließlich auch, daß das einzige Kind eine anständige Partie macht. Ein hervorragender Gelehrter wäre mir ebenso lieb gewesen, ein Offizier, der eine Zukunft hat, auch, aber da ein Prinz aus einem kaiserlichen Hause kam, na … ein wenig schmeichelt es einem ja doch, wenn man sagen kann, meine Tochter, die Prinzessin Toscana …«
Der Polizeirat unterbrach die selbstgefällige Rede seines Gastes mit einem lustigen Lachen.
»Aber glauben Sie denn, daß der Kaiser von Oesterreich seine Einwilligung zu dieser offenkundigen Mißheirat gibt, und gesetzten Falls, Ihre Millionen und Ihre Freunde wurden den Widerstand besiegen? Glauben Sie, daß Ihre Tochter mehr als einen Gräfinnentitel erhält?«
»Gott, sie ist eben dann immer die rechtmäßige Frau des Prinzen Johann von Toscana. Aber um zur Sache zurückzukehren, ich gab meine Einwilligung und wir wollten alle zusammen nach London reisen, um die Hochzeit dort zu feiern.«
»Warum nicht in Berlin?«
»Johann sträubte sich dagegen. Er wollte nicht im vorhinein mit seiner Familie Konflikte heraufbeschwören. Vielleicht wäre die Heirat hintertrieben worden, und der Prinz ist geradezu toll verliebt in meine Tochter, sie aber auch in ihn. Kurz, wir wollten alles vermeiden, was die sehnsüchtigen Wünsche der jungen Leute hätte vereiteln können. Wir trafen nun in aller Heimlichkeit die Vorbereitungen, aber mehrere Tage vor dem festgesetzten Reisetermine verschwanden Rita und Johann.«
»Ohne Erklärung?«
»Nein, sie ließen mir diesen Brief zurück.«
Der Kommerzienrat reichte Herrn von Steltmann ein kleines Billett hin, das nur die wenigen Worte enthielt:
»Wir halten es für eine zwingende Notwendigkeit, sogleich abzureisen, da man in Wien auf unerklärliche Weise von unserem Vorhaben Kenntnis erhalten hat. Aengstige Dich nicht, in wenigen Tagen ist unsere Ehe rechtsgültig vollzogen und wir sind wieder in Deinen Armen.
Rita, Johann.«
Der Beamte las mit eisiger Ruhe die wenigen Zeilen einmal, zwei-, dreimal durch und reichte sie dann seinem Gaste zurück, ohne daß dieser auch nur die geringste Veränderung in dem Gesicht des Polizisten beobachtet hätte. Er fragte daher ängstlich:
»Nun, Herr Polizeirat, was ist Ihre Meinung?«
Als aber Herr von Steltmann beharrlich schwieg und seine Gedanken durch keine Frage wollte stören lassen, lehnte sich der Finanzmann resigniert in seinen Stuhl zurück und studierte mit sichtlichem Eifer die kassetierte Decke. So verrann eine Minute nach der andern, ohne daß der Polizist, der wieder mit dem elfenbeinernen Papiermesser auf seinem Schreibtisch spielte, auch nur ein Wort gesagt hätte. Das lange Schweigen quälte den besorgten Vater, aber er vermied es, den Polizeimann zu unterbrechen, denn er ahnte, daß er in seinem Kopfe den Plan zur Auffindung Ritas entwarf. Endlich öffnete der Polizeirat seinen Mund.
»Dr. Ahrend ist kein Prinz von Toscana. Es tut mir herzlich leid, Ihren Glauben erschüttern zu müssen. Ein Prinz, Mitglied des österreichischen Kaiserhauses, benimmt sich anders. Er kann auch nie sein Familienvermögen verlieren – ich erinnere Sie an den Erzherzog Johann, der als Johann Orth seinerzeit von sich reden machte. Wir haben es einfach mit einem Schwindler zu tun, der Ihnen, lieber Kommerzienrat, eine ganz plumpe Falle gestellt hat. Er ist offenbar ein Neuling im Handwerk und um so eher werden wir seiner habhaft werden, wenn nicht ein erschwerendes Moment hinzukommt.«
»Und das wäre?« fragte der Kommerzienrat ängstlich.
»Wenn dieser Dr. Ahrend nicht ein Agent öffentlicher Häuser in London oder Amerika ist. In diesem Fall freilich dürften wir unsere Hoffnung recht sehr herabstimmen.«
»Oh, mein Gott, mein Gott, arme, arme Rita!«
»Der schlaue Bursche hat das Mädchen verdammt fein zu nehmen gewußt. Der vornehmen, verwöhnten, jungen Dame konnte er nur durch eine ganz imposante Stellung beikommen. Ihr exzentrisch-poetisches Naturell mußte in der Ehe mit einem Fürsten das höchste erreichbare Ziel erblicken. Das wußte der Spitzbube wohl und darauf baute er seinen Plan.«
»Und was gedenken Sie zu tun?«
»Zehn Tage unterwegs … na, wir werden schon Mittel und Wege finden.«
»Aber ich bitte, jedes Aufsehen zu vermeiden.«
»Selbstverständlich.«
In das Gespräch der beiden Männer klang schrill die Glocke des Telephons.
»Aha, das wird der Reviervorstand sein, der uns Näheres über Dr. Ahrend mitzuteilen hat.« Der Beamte nahm den Schallbecher seines Apparates ans Ohr:
»Hier Polizeirat von Steltmann.«
»Hier Leutnant Wundt. Ich habe recherchieren lassen, Herr Polizeirat, darf ich Ihnen das Resultat durchs Telephon mitteilen oder befehlen Sie einen schriftlichen Bericht?«
»Nein, nein, ich sagte Ihnen doch schon, daß ich telephonische Nachricht wünschte; es soll nichts über diesen Fall geschrieben werden. Wen haben Sie zur Recherche geschickt?«
»Den Wachtmeister Bolle.«
»Nun, und …« Zu dem Kommerzienrat gewandt, sagte er: »Nehmen Sie bitte den anderen Becher und hören Sie zu … einen Augenblick, lieber Herr Wundt … so, nun bin ich bereit.«
»Dr. Ahrend ist etwa seit ¾ Jahren in Berlin. Er lebte sehr zurückgezogen, aber wie es den Anschein hatte, als großer Herr. Er ist am 22. Dezember 1869 zu Wien geboren und seit dem Jahre 1895 k. k. Stabsarzt in der österreichischen Marine.«
»Weiter wissen Sie nichts?«
»Nein.«
»Gut, ich danke Ihnen.«
»Nachteiliges ist der Polizei also über Ihren vermeintlichen Prinzen noch nicht zu Ohren gekommen, aber ich denke mir, daß ich seinen Plan durchschaue.«
»Und was ist sein Plan?« fragte der Kommerzienrat.
»Darüber möchte ich vorläufig schweigen. Ich bitte Sie nur, mir einen genauen Grundriß Ihres Hauses und Ihrer Geschäftslokalitäten zu senden, aber so bald wie möglich, hören Sie.«
»Wenn Sie Vorschüsse brauchen, etwa um einen Beamten nach London zu senden, wohin sich die beiden voraussichtlich begeben haben …?«
»Ich brauche zunächst weiter nichts, als die Zeichnung Ihres Hauses.«
»Gut, ich will nichts fragen, ich vertraue Ihnen unbedingt.«
»Das können Sie auch.«
Der Polizeirat erhob sich und reichte seinem Gaste zum Abschied die Hand. – Wenige Augenblicke später war er allein. Er machte sich auf ein kleines Zettelchen einige Bleistiftnotizen, dann klingelte er. Den eintretenden Beamten fragte er:
»Ist Herr Kommissar Lippe noch im Haus?«
»Ich werde nachsehen.«
»Er soll sofort zu mir kommen.«
Der Kommissar kam und blieb bis tief in die Nacht bei seinem Chef.