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X.

Lippe brauchte mehrere Stunden, bis er sich von dem Schlag erholt hatte, den die Flüchtlinge und ihre Helfershelfer gegen ihn geführt. Vor allen Dingen hatte sein Selbstvertrauen einen schweren Stoß erlitten. – Sollte meine ganze Verstandeskraft, mein Fleiß und meine Liebe zum Beruf, sagte er sich, doch nicht ausreichen, ein großer Detektiv zu werden, habe ich vielleicht kein Talent, oder wie mein Chef sagt, keinen Mut zum Kriminalisten?

Mit solchen und ähnlichen selbstquälerischen Gedanken verbrachte er untätig den Tag, und er ärgerte sich, als ihm der Zimmerkellner seines Hotels, der ihm abends spät noch eine Flasche dunkelfarbigen Dalmatiners gebracht hatte, mit wienerischer Freundlichkeit eine geruhsame Nacht wünschte.

In kurzen Zwischenräumen leerte er Glas für Glas, bis er den Boden der Flasche erreicht hatte. Alsdann fiel es ihm plötzlich auf, daß er sich eigentlich umsonst geärgert habe, denn er fühlte sich jetzt durchaus mit sich selbst zufrieden. Ehe er aber recht zum Bewußtsein dieses Stimmungsumschlages kommen konnte, entschlüpfte ihm in ziemlich lautem Selbstgespräch der seltsame Wunsch, der Teufel möge die ganze Polizeiwirtschaft holen. Nun wurde es ihm doch zu bunt mit der eigentümlichen Stimmung, die ihn erfaßte.

Er hatte noch so viel Geistesgegenwart, sich zu sagen, ein solcher Wunsch könne doch nicht sein Ernst sein, und um allen Weiterungen zu entgehen, stand er auf, um sich zur Ruhe zu legen.

Aber was war denn das schon wieder? Hatte ihm denn einer Blei in die Beine gegossen, sie wollten ja nicht einmal den kurzen Weg zum aufgedeckten Bett zurücklegen. Und nun fing plötzlich der Stuhl, auf den er sich wieder gesetzt, zu fahren an; auch der hübsche achteckige Nußbaumtisch begann eine wirbelnde Bewegung und Kaiser Franz Josef, der in schönem Goldrahmen an der gegenüberliegenden Wand hing, schnitt ihm eine wenig hoheitsvolle Grimasse, so daß er entsetzt die Augen schloß. Zum allerletzten Mal versuchte er, sich auf sich selbst zu besinnen, stellte sich mit einem kräftigen Ruck auf die Füße, wankte nach seinem Bette und fiel wie ein Sack in die Kissen.

Der rubinrote Dämon Dalmatiens hatte ihn bezwungen, und zwar war es insofern eine angenehme Niederlage, als Lippe allen selbstquälerischen Gedanken entzogen war.

Erst der späte Morgen erweckte ihn. Aber wie groß war sein Staunen: er, der peinlich ordentliche Beamte lag vollständig angezogen mit Stiefel und Stehkragen im Hotelbett. Allmählich kehrte ihm die Erinnerung zurück. Der Stuhl, der gestern mit ihm spazieren gefahren war, lag auf der Erde, der Tisch, dessen Wirbelbewegung ihn erschreckte, stand bewegungslos an seinem Platz, ja selbst der Kaiser Franz Josef blickte mit einem milden Lächeln auf ihn nieder, und nichts wies darauf hin, welch' furchtbare Grimassen er gestern geschnitten hatte. Und da stand ja auch die leere Flasche auf dem Tisch, und am Glas hatte sich eine dicke rote Kruste angesetzt, zum Zeichen, wie alt und edel der Dalmatiner gewesen war.

Der Polizist brachte schnell seinen Anzug in Ordnung und klingelte dann nach dem Frühstück.

Der Zimmerkellner kam und machte ein ganz entsetztes Gesicht, als er die leere Weinflasche sah.

»O Jegerl, gnädiger Herr Baron, eine ganze Flasche haben S' austrunken?! Da müssen Sie ja einen Mordsrausch gehabt haben.«

»Ja, mein Freund, es war ein phänomenaler Rausch.«

»Nun, da werd' ich Ihnen ein Schälchen ganz Schwarzen bringen. Das hilft Ihnen über den Kater weg.«

Lippe hätte lieber den natürlichen Kater ertragen, wenn er nur den moralischen los gewesen wäre. Pfui, war das ein Benehmen für einen königlichen Kriminalkommissarius, für einen angehenden Polizeidirektor oder mindestens Polizeirat. Pfui! Er saß hier in Wien, trank sich einen dicken Kopf, indessen seine Flüchtlinge vielleicht längst unerreichbar weit entwichen.

Nun galt es aber auch zu handeln. Er machte sich schnell fertig, um nach der Polizei zu gehen, und es war mehr Neugierde als Berufspflicht, was ihn trieb, denn Wien verfügte über einen Geheimpolizisten von fast dämonischer Begabung. Der Ruf dieses Mannes war bis nach Berlin gedrungen, und es drängte Lippe, die Ansicht dieses ausgezeichneten Kollegen über seinen Fall zu hören. Er ließ sich daher beim Chefs der Kriminalabteilung melden, und dieser gab bereitwillig die Erlaubnis zu einer Konferenz mit dem Sekretär Jauner.

»Gehen Sie nur zu unserm Genie. Wenn einer imstande ist, Licht in dunkle Angelegenheiten zu bringen, so ist es Jauner,« sagte der Beamte, indem er Lippe mit den besten Wünschen für das Gelingen seiner Mission verabschiedete.

Wenn je sich jemand über die Person eines andern eine falsche Vorstellung gemacht hatte, so war es der Berliner Detektiv, über seinen Wiener Kollegen. Nach den Taten unerschrockenen Mutes, eiserner Energie und überraschender Kaltblütigkeit, die man sich von Jauner erzählte, hatte Lippe eine stramme soldatische Gestalt, mit durchbohrendem Blick und kräftigen Bewegungen erwartet. Aber Sekretär Jauner war ein kleines, vertrocknetes, altes Männchen mit grämlichem, faltigem Gesicht und mächtiger, bis tief in den Hinterkopf reichender Glatze.

Lippe vermochte nicht sein Erstaunen zu unterdrücken. Als aber der Sekretär ihm mit liebenswürdigem Lächeln entgegenkam und seine mächtigen blauen Augen ausschlug, erkannte er doch, daß in dem kleinen Männchen ein großer Geist lebendig war.

»Nun, was bringen Sie mir, lieber Kollege?« fragte er und bot dem Berliner Polizisten einen Stuhl.

»Ich fühle mich auf fremdem Boden und ich bitte um Ihren Rat, um Ihre Hilfe.«

Jauner nickte und antwortete lächelnd: »Sie sind noch sehr jung, der wahre Detektiv muß sich überall zu Hause fühlen, ihm dürfen keine Städte zu groß, darf kein Pfad zu gewunden sein.«

»Ja, ja, so können Sie, der Meister, unser aller Vorbild, reden.«

Doch Jauner winkte abwehrend mit der Hand: »Machen wir uns keine Komplimente. Das fördert die Eitelkeit. Eitelkeit aber trübt den Blick, und das können wir nicht brauchen. Tragen Sie mir ruhig Ihren Fall vor, dann wollen wir plaudern, und vielleicht findet so ein alter Fuchs wie ich doch ein Loch, wodurch wir aus dem Labyrinth hinausschlüpfen können.«

Lippe begann zu erzählen, chronologisch wie sich die Dinge zugetragen und wie sich seine Ermittlungen entwickelt hatten. Jauner machte sich an verschiedenen Stellen des Vortrages Bleistiftnotizen, und als Lippe geendet, stand er auf und blickte durch das Fenster in das Astgewirr eines großen Nußbaumes im Polizeigarten. Der Berliner Detektiv wagte nicht, die Gedanken seines Kollegen zu unterbrechen, und seine Geduld wurde auf eine ziemlich harte Probe gestellt. Erst nach Verlauf einer Viertelstunde wandte der kleine, ältliche Mann seinem Gaste wieder das Gesicht zu.

»Nun,« fragte dieser, »haben Sie irgendwelchen Gedanken?«

»Nein. Ich bin alt und mein Gehirn arbeitet langsam. Auch fehlt es mir und fehlte mir stets an der sogenannten Inspiration. Ich mußte stets mühsam Steinchen um Steinchen zusammentragen, bis ich den Berg geschichtet hatte, von dem ich über die Situation hinwegschauen konnte. Sie glauben, daß der Bankdiebstahl mit dem Verschwinden des Liebespaares zusammenhinge? Ich möchte dieser Ansicht nicht direkt widersprechen, aber ich möchte Ihnen doch zu bedenken geben, welches Motiv den falschen Prinzen – wenn es kein echter ist – zu einer doch immerhin so gefährlichen Aktion veranlassen konnte.«

»Der Wunsch, sich zu bereichern.«

»Ja, das ist im allgemeinen stets das Motiv zum Einbruch, ich glaube aber doch, daß in unserm Falle ein anderes, ich möchte sagen, mehr ideales Motiv zu Grunde lag. Ich muß gestehen, Ihre Kombination mit dem Sohn des Kassenboten hat ungeheuer viel Bestechendes. Aber der junge Arzt, der seiner Jugendliebe neun Jahre lang treu bleibt, dann die Dame seines Herzens gegen den Willen ihres Vaters unter der zuverlässigen Voraussetzung heiratet, daß die ungehorsame Tochter vom Vater enterbt wird –«

»Verzeihen Sie, Herr Kollege, daß ich Sie unterbreche. Das Pflichtteil, das Rita Geldern zufallen muß, beträgt mehrere Millionen.«

»Umso mehr hatte Johannes Klose keinen Grund, sich mit dem internationalen Einbrecher zu associieren, denn wie Sie mir sagten, sind sowohl Kloses Vater als Tante wohlhabende Leute. Ich bin also der Ansicht, wenn der falsche Prinz der junge Klose ist, hat der Einbruch mit der Entführung nichts zu tun. Wenn der Entführer der echte Prinz Johann von Toscana ist, ist erst recht jeder Zusammenhang ausgeschlossen. Wollten wir für den ersten Fall Beziehungen zwischen Harsley und Klose annehmen, so müßten wir ein weit stärkeres Motiv finden, als die einfache Absicht, sich Geld zu verschaffen.«

»Daß diese Absicht aber vorliegt, Herr Kollege Jauner, beweist doch Ritas Brief an den Vater.«

»Der Brief beweist gar nichts. Er war lediglich ein Versuch, dessen Gelingen den Flüchtlingen jedenfalls ganz gleichgültig war. Ich möchte an Sie die Frage richten, ob Herr Kommerzienrat Geldern außer den entwendeten Papieren, die ja vollzählig wieder gefunden wurden, nichts anderes aus dem Geldschranke vermißte?«

»Ich glaube kaum, doch habe ich nie darnach gefragt.«

»Das ist sehr unrecht, lieber Kollege, man kann auch einbrechen, um Dokumente zu stehlen.«

»Sie sind sehr klug. Ich habe da einen wesentlichen Punkt unbeachtet gelassen.«

»Ich weiß es nicht, ob es ein wesentlicher Punkt ist, jedenfalls ist es ein Punkt, der in Erwägung gezogen werden muß. Auf welche Weise haben Sie die Vorgeschichte bis zu der Chinareise des ›Marder‹ herausbekommen?«

»Das war verhältnismäßig leicht. Ich fragte die Tante des gesuchten Dr. Klose und holte mir in der Berliner königlichen Bibliothek die einschlägigen Bände der ›Wiener Neuen Freien Presse.‹ Darin war die Aktion des ›Marder‹ zu einer regelmäßigen Rubrik geworden, und ich konnte so die Angelegenheit ziemlich genau verfolgen. Aus halben Andeutungen der Tante Koch, aus zögernd hingeworfenen Worten und ungenauen Zustimmungskundgebungen war dann mit den Telegrammen der Zeitung eine ziemlich genaue Geschichte des Herganges zu konstruieren.«

»Die Rückkehr des ›Marder‹ erfolgte vor etwa einem Jahre, nicht wahr?«

»Gewiß, und damit kehrten zu gleicher Zeit der Kommandant und der Arzt zurück. Beide konnten in Berlin sein. Jeder konnte sich dort für den andern ausgeben, weil ihre Aehnlichkeit in der Tat überraschend ist. Jeder konnte auch die Papiere des verstorbenen Dr. Ahrend benützen. Die Berliner Polizei ahnte ja nicht, daß dieser längst am Strande des Gelben Meeres begraben war. Es bleibt daher immer noch außerordentlich zweifelhaft, ob der wirkliche Toscana oder der Berliner Doktor der gesuchte Entführer ist.«

Jauner schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein,« sagte er dann nach einer Weile, »über die Person ist mir nichts zweifelhaft. Was Sie mir von dem Tun des Entführers berichtet haben, entspricht durchaus nicht dem Charakter Toscanas. Er ist ein Mann, der lieber den Tod wählen würde, als das geringste gegen seine aristokratische Ueberzeugung zu tun. Er ist sozusagen der stolzeste Fürst Oesterreichs und dabei von einer geradezu bestrickenden Liebenswürdigkeit gegen Untergebene. Wollte sich aber einer von ihnen dazu verleiten lassen, die Schranke, die zwischen dem Fürsten und dem gewöhnlichen Sterblichen besteht, zu überschreiten, er würde ihn mit den härtesten, rücksichtslosesten Worten zurückweisen. Toscana bleibt immer der gnädige Herr. Sollte er in der Tat die Ehe mit einer bürgerlichen Millionärin eingegangen haben, so müßten sich in seinem Innern vulkanische Veränderungen vollzogen haben. Und daran ist nicht zu denken; lassen Sie also Toscanas Spur unverfolgt.«

»Ja, lieber Herr Kollege, könnte nicht die Liebe eine vulkanische Veränderung im Innern des Prinzen hervorgebracht haben und mußte er denn Rita Geldern heiraten, um in ihren Besitz zu gelangen? Ich halte die extravagante junge Dame für fähig, einem Prinzen als Geliebte zu folgen, wenn ihr nur die entfernteste Hoffnung bleibt, dereinst vielleicht des Geliebten morganatische Gattin zu werden.«

»Aber Toscana würde nie eine Messalliance eingehen, und solche Infamie, einem Mädchen die Ehe zu versprechen, um sie seinen Liebesplänen gefügig zu machen, ist der Prinz von Toscana zu begehen nicht imstande. Das wäre ungefähr dasselbe, wie wenn ein Eichbaum plötzlich Kirschen tragen würde.«

»Gut, lassen wir den Prinzen von Toscana fallen, beschäftigen wir uns mit Dr. Ahrend-Klose.«

»Ja, das halte ich auch für fruchtbringender. Man muß bei allen kriminalistischen Untersuchungen stets das Unmögliche ausscheiden; was dann übrig bleibt, ist die Wahrheit, so unwahrscheinlich es auch aussehen mag. Aber selbst, wenn wir uns über die Person des Entführers einig sind, bleibt der Fall doch immerhin noch außerordentlich rätselhaft. Ich will von dem Bankdiebstahl zunächst ganz absehen, denn er scheint mir, wenn auch zeitlich, doch keineswegs sachlich mit der Entführung zusammenzuhängen. Sie müßten mir denn den Beweis erbringen, daß aus dem erbrochenen Geldspind ein für Dr. Klose oder Rita Geldern wichtiges Dokument verschwunden sei. Es bleiben zunächst – die Sache soll doch als Privatsache des Bankiers behandelt werden – nur die Fragen: wo halten sich die Entflohenen auf, und warum kehren sie nicht zurück.«

»Und wie denken Sie zu der dritten Frage, die ich stellen möchte. Warum hat der Doktor die Begleitung Gelderns, zur Trauung, nach London verschmäht?«

Das alte Gesicht des Wiener Polizisten erhellte ein feines Lächeln und er blitzte den Berliner Kollegen schalkhaft aus seinen groben, blauen Augen an. Als er sich eine kleine Weile an dem erstaunten Gesicht seines Gegenüber ergötzt hatte, sagte er:

»Nun, ich habe ja die Sache nicht untersucht und kombiniere nur auf Grund Ihrer Mitteilungen. Nehmen Sie an, Rita Geldern, ihr Vater und ihr Bräutigam wären nach London zur Trauung gereist. Der Standesbeamte hätte folgende Frage an das Ehepaar gerichtet: ›Wollen Sie, Prinz Johann von Toscana, Kaiserlich Königlicher Kapitän zur See, Hoheit, die Jungfrau Rita Geldern zu Ihrer rechtmäßigen Ehegattin machen.‹ Es leuchtet Ihnen ein, daß, wenn der Doktor nun ›ja‹ gesagt hätte, die Ehe ungültig gewesen wäre.«

»Ja, ja, Sie haben recht, Kollege Jauner.«

»Hätte er aber seinen richtigen Namen angegeben, so wäre der alte Kommerzienrat wie ein Donnerwetter dazwischen gefahren. Ein Riesenskandal war fertig und die beiden Liebesleute vielleicht für ewige Zeiten getrennt; dem wollten sie vorbeugen und haben deshalb den Papa zu Hause gelassen. Denn wenn ihnen auch nach endlich erlangter Großjährigkeit das Heiraten nicht verwehrt werden konnte, so ist ein öffentlicher Skandal auf dem Standesamte immer eine sehr mißliche Sache und wirft auf beide jungen Leute ein schlechtes Licht. Ich weiß nicht, wie man in Berlin über dergleichen Dinge denkt. In der Wiener Gesellschaft waren die beiden unmöglich gewesen.«

»Nun in Berlin ist man etwas duldsamer. Man hätte den beiden, die doch das ehrlichste Motiv von der Welt, die Liebe, zusammengeführt, den schlechten Streich gegen den Papa bald verziehen. Gleichwohl erscheint mir diese Motivierung der heimlichen Abreise durchaus zutreffend, denn Rita Geldern hängt mit großer, kindlicher Liebe an ihrem Vater, und da dieser die Gefühle seiner Tochter mit verzehnfachter Zärtlichkeit erwidert, so ist anzunehmen, daß er seine nachträgliche Einwilligung zur Ehe gegeben hätte, wenn Rita ihn recht eindringlich darum gebeten. Anders lag die Sache, wenn es vor der Ehe zum öffentlichen Skandal gekommen wäre. Darüber also sind wir einig. Warum aber kehren die beiden nicht zum Vater zurück?«

»Nun, offenbar weil die Ehe noch nicht Vollzogen ist.«

Lippe lachte laut auf.

»So einfach stellen Sie sich die Lösung vor?«

»Nun, das Einfachste ist doch nicht immer ohne weiteres das Falsche. Hätten Sie das Einfache zunächst in den Kreis ihrer Beurteilungen gezogen, so wären Sie unter keinen Umständen nach Wien gekommen, denn Sie hätten vorausgeahnt, daß man einen gewöhnlichen Brief, nachdem man ihn zur Post gegeben, vor der Versendung wieder abholen kann, zumal Sie schon einen Verdacht gegen den Vater Klose hatten.«

»Ja, Sie haben zweifellos recht. In diesem Falle bin ich entschieden der Dumme gewesen. Trotzdem bedaure ich meine Wiener Reise nicht, denn es ist mir vergönnt gewesen, den genialsten Polizisten des Kontinents kennen zu lernen.«

»Nun verfallen Sie schon wieder in Ihren Fehler, Komplimente zu drechseln. Ein junger Mensch kann immer von einem alten lernen, das ist der Welt Lauf und dabei ist nichts besonderes. Aber gehen wir Ihrem Fall weiter nach. Zuverlässig ermittelt haben wir nun, daß der langjährige Liebhaber der schönen Rita, Dr. Klose, sich unter der Maske des Prinzen von Toscana die Einwilligung des Vaters zur Ehe verschafft und diese nach Entführung der Braut heimlich vollzogen hat oder im Begriff steht, zu vollziehen. Das Braut- oder Ehepaar wußte sich durch geschickte Manipulationen unter den Augen des wachsamen Detektivs – Jauner gab seinem Ton eine ganz leicht boshafte Färbung – hunderttausend Mark aus der Tasche des Vaters zu verschaffen, und zwar mit Hilfe des Mitvaters, der Tante und vermutlich noch einer dritten Person. Weiter wissen wir zurzeit nichts, aber wir haben einen Anhaltspunkt in Vater Klose.«

Der Detektiv wurde plötzlich ganz ruhig. Er starrte vor sich hin, dann sagte er plötzlich:

»Vielleicht ist diese dritte Person, die wir suchen, der Bräutigam selbst. Passen Sie auf, die beiden Liebesleute haben Berlin noch gar nicht verlassen. Haben sie sich schon von London und Helgoland die Eheschließungslisten schicken lassen?«

Lippe starrte seinen Kollegen erschreckt an.

»Aber um Gottes willen, sie haben ja recht, das Nächstliegende vergaß ich. Ich bin unglücklich darüber. Mein Chef hat recht, ich lese zu viel Detektivromane, ich werde wohl besser tun, Schuster zu werden.«

Jauner lächelte freundlich.

»Lassen Sie sich das nicht anfechten, mein junger Freund. Der berauschende Most schäumt über, und wer noch keine großen Dummheiten im Leben gemacht, hat auch noch nie eine große Tat getan. Wo viel Licht ist, ist viel Schatten, wo viel Wahrheit, viel Irrtum. Noch ist nichts verloren. Ich bin fest überzeugt, daß die beiden jungen Leute die Ehe noch nicht vollzogen haben. Denn denken Sie mal, welche Schwierigkeiten konnten ihnen erwachsen, wenn Geldern sofort nach ihrem Verschwinden in London und Helgoland hätte recherchieren lassen. Dem wollten die klugen Ausreißer vorbeugen und verbargen sich irgendwo, bis sie annehmen konnten, England und Helgoland seien unbewacht. Dann heiraten sie und kehren seelenvergnügt zum Papa zurück.«

»Gewiß, Sie haben recht, anders kann es gar nicht sein. Aber ich will doch sofort telegraphisch in London und Helgoland anfragen, ob die Trauung unseres Pärchens bereits stattgefunden hat.«

Lippe erhob sich. Er schüttelte dem klugen alten Manne herzlich die Hand.

»Ich danke Ihnen vieltausendmal, lieber Kollege, Ihr Rat war gut, sehr gut, und die Lektion, die Sie mir erteilt haben, werde ich so bald nicht vergessen.«

Wieder spielte das feine, halb liebenswürdige, halb ironische Lächeln um den schmalen, faltigen Mund des alten Polizisten.

»Lassen Sie's gut sein,« sagte er, »wenn ich einmal nach Berlin komme, werden Sie mir helfen, wie ich Ihnen heute geholfen habe.«

Noch einmal schüttelten sich die beiden Herren freundschaftlich die Hände, dann verließ Lippe das Bureau und Sekretär Jauner wandte sich wieder seiner Arbeit zu.


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