Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI.

So weit hatte der Kriminalkommissarius Lippe in großen Zügen die Vorgeschichte der beteiligten Personen teils aus den Zeitungen jener Tage festgestellt, teils aus dem Vorhandenen kombiniert, und es war für ihn nun kein Zweifel mehr, daß Johannes Klose die Papiere des verstorbenen Dr. Ahrend unterschlagen und sich aus Grund dieser Legitimationen dem Hause des Kommerzienrats genähert hatte. Er hatte offenbar die auffallende Ähnlichkeit mit seinem Kommandanten dazu benützt, um den alten Finanzmann zu düpieren und auf diese Weise die Einwilligung zur Hochzeit mit der schönen Rita zu erhalten. Dunkel waren nur zwei Punkte. Einmal, welche Rolle die junge Dame selbst in der Affäre gespielt, und zum andern warum die beiden, die doch nun längst verheiratet sein konnten, nicht nach Berlin zurückkehrten.

Auf der langen Reise nach Wien gingen dem jungen Polizisten tausenderlei Kombinationen durch den Kopf.

Rita mußte ihren Geliebten unter jeder Maske wiedererkannt haben, denn seit der chinesischen Reise des Dr. Klose waren kaum drei Jahre verflossen. Sie war also von der Komödie unterrichtet und spielte ihre Rolle sehr geschickt. Eigentümlicherweise aber paßte diese Opferwilligkeit des reichen und vornehmen Mädchens für einen Arzt plebejischer Herkunft gar nicht in Ritas Charakter. Sie war durchaus modern, und wenn sie auch in früheren Jahren sich einer romantischen Neigung zu Johann hingegeben hatte, so zeigte sich doch in ihrem ganzen Wesen nicht im entferntesten jene Tiefe, die eine so lange und unwandelbare Treue voraussetzt.

Das waren unlösbare Widersprüche. Weit eher war Lippe jetzt geneigt zu glauben, daß ein echter Prinz die Neigung der schönen Bankierstochter gewonnen habe, aber dazu stimmte wieder das hilfreiche Handanlegen des alten Klose nicht, denn daß dieser bei der Ueberbringung des letzten Briefes an Geldern beteiligt sei, war für den Polizisten ganz zweifellos, oder man hatte annehmen müssen, die Aehnlichkeit des Prinzen Johann und des Dr. Klose sei so auffallend, daß selbst der Vater die beiden nicht auseinander kennen konnte.

Aber auch das schien ausgeschlossen, denn solche Aehnlichkeit gibt es nicht, und sollte wirklich die Natur eine derartige Dublette hervorbringen, so war doch die Lebensanschauung, die Erziehung und die Bildung der beiden Doppelgänger so verschieden, daß sie von ihren Verwandten unbedingt erkannt werden mußten.

Der zweite dunkle Punkt war, warum Rita und ihr Liebhaber nicht nach Berlin zurückkehrten, wo doch niemand gegen eine rechtsgiltig geschlossene Ehe etwas einwenden konnte. Aber auch dazu nahmen Lippes Gedanken Stellung. Zunächst war ganz klar, daß die beiden Liebenden von dem Kommerzienrat eine Summe Geldes herauslocken wollten und dafür den Schmerz des Vaters um die verschwundene Tochter in geschickter Weise ausbeuteten. Daher der auf so rätselhafte Weise an seine Adresse gelangte Brief.

Aber wozu reiste er dann nach Wien? Denn wenn das Geld die einzige Triebfeder für das Verborgenhalten der beiden war, dann würden sie im Besitz der hunderttausend Mark ohne weiteres wieder auftauchen. Dieser Gedanke wollte den jungen Polizeibeamten nicht verlassen. Wenn aber noch etwas anderes dahinter steckte, was dann? Wenn seine Kombinationen falsch waren, so gingen ihm die beiden ohne Gnade durch die Lappen.

Er mußte also nach Wien. Er hatte die geheime Hoffnung, daß er dort auch auf eine Spur des echten Prinzen von Toscana stoßen mußte, und er war bereit, eine derartige Spur bis ans Ende der Welt zu verfolgen. Hatte er erst, den echten Prinzen von Toscana und fand sich Rita nicht in dessen Begleitung, so war das große Problem gelöst und es handelte sich nur um das Auffinden der beiden Flüchtlinge, falls sie bis dahin noch nicht freiwillig zu den häuslichen Penaten zurückgekehrt waren. Wenn das nicht der Fall war, so mußte er sich in dem Motiv der beiden getäuscht haben. Des Geldes wegen blieben sie dann nicht zurück. Dann erst galt es weiter zu forschen. Vorläufig wollte er gar nicht an die Sache denken und sich frisch erhalten für die Eindrücke, die in Wien auf ihn warteten. Trotz dieses guten Vorsatzes kehrten seine Gedanken immer wieder zu Rita und Johann zurück. Es war gar nicht ausgeschlossen, daß die schöne Bankierstochter aus Furcht vor einem Skandal das Vaterhaus mied, denn sie wußte doch nicht, mit welcher liebevollen Vorsicht der Vater ihre Abwesenheit erklärte. Aber der Vater war nicht der einzige Mitwisser. In Berlin gab es mindestens noch drei, wenn nicht gar vier Personen, die in das Geheimnis eingeweiht waren. Außer Klose und seiner Schwester gehörte bestimmt noch eine dritte Person in das Komplott. Ob diese dritte Person selbst in der Verkleidung eines Fensterreinigers – – sie war in jedem Maskenverleihinstitut zu haben – – die Ueberbringung des Briefes kaschiert oder ob sie bei dem Institut einen Auftrag zur Fensterreinigung erteilt hatte, das war vorläufig noch dunkel.

Bei diesem Gedanken umwölkte sich unwillkürlich die Stirn des Detektivs. Da hatte er etwas vergessen, das war unangenehm. Eine Frage bei der rot-weißen Fensterreinigungskompagnie hätte ihm ohne weiteres Klarheit verschafft. Klarheit? Lippe grübelte sofort weiter. Wenn die dritte Person sich bei dem Berliner Institut einen Fensterreiniger bestellt hatte, so war die Finte in dem Augenblick offenkundig, wo eine Anfrage erfolgte, denn das Institut konnte den Arbeiter sofort namhaft machen, und dieser wäre schwerlich in der Lage gewesen, lange zu leugnen. Der Fensterreiniger war also logischerweise die dritte Vertrauensperson; vielleicht gar eine vierte?

Mit dieser Möglichkeit aber wäre die Wahrung des Geheimnisses der beiden Flüchtlinge sehr problematisch geworden, denn erfahrungsgemäß ist unter vier Menschen immer ein Schwätzer. Es war also ziemlich wahrscheinlich, daß Rita Geldern aus Furcht vor einem öffentlichen Skandal ihre Vaterstadt mied. Ganz zweifellos hatte er jetzt, so dachte Lippe, das Richtige getroffen; ein Gerede gab es ja in jedem Fall, wenn das schöne Fräulein Geldern, längere Zeit abwesend, plötzlich mit einem Gemahl in Berlin auftauchte.

Aber die Welt war groß und Geldern reich; er hätte der Tochter sicher in einem lauschigen Winkel Europas ein Schloß gebaut, wo sie vor dem Geklatsch ihrer Berliner Freundinnen sicher war. Und der Verzeihung des alten Kommerzienrats war Rita in dem Fall sicher, wo sie den Prinzen von Toscana geheiratet hatte. Denn diese Ehe hatte ja den Beifall des alten Herrn, und er hätte sicherlich auch eine namhafte Summe als Heiratsgut ausgesetzt, wenn Rita nur offen und ehrlich gebeichtet hätte. Also trotz des eigentümlichen Zufalles, daß auch der Aufenthalt des Prinzen von Toscana unbekannt blieb, unterlag es keinem Zweifel, daß der Gemahl Ritas keine Fürstenkrone im Wappen trug. Mit diesen Erwägungen war Lippe ziemlich am Ende seiner theoretischen Schlüsse angelangt, und die bereits tüchtig vorgeschrittene Nacht verlangte nunmehr auch ihr Recht. Der Kommissar streckte sich behaglich auf dem Sitzpolster des Kupees aus und schlummerte bei dem regelmäßigen Takte der unaufhaltsam dahinrollenden Räder sanft ein.

Etwa um acht Uhr früh traf er in Wien ein. Der Brief mit dem Scheck konnte höchstens zwei Stunden Vorsprung vor ihm haben. Er nahm daher einen Fiaker und fuhr direkt nach dem Hauptpostamte, wo er sich legitimierte und nach dem betreffenden Brief frug. Die Beamten stellten sich ihm mit größter Bereitwilligkeit zur Verfügung. Man konnte ihm aber vorläufig noch keine Auskunft erteilen, da die Berliner Briefe von den Bahnpostämtern noch nicht weitergegeben waren. Lippe mußte also Geduld haben. Er begab sich in den Raum, wo das Publikum zu den Schaltern drängte, und hielt besonders die Briefausgabe scharf im Auge.

Da bemerkte er einen sehr eleganten Herrn, der, wie es schien, sich erst scheu umsah, ehe er auf den Schalter zutrat. Wie der Blitz war Lippe hinter ihm, aber er hörte nur noch den Schalterbeamten sagen, daß die Berliner Briefe noch nicht ausgepackt seien.

Der Detektiv folgte dem Herrn in gemessener Entfernung, und als er in ein nahegelegenes Café trat, ging Lippe gleichfalls dorthin. Er nahm in unauffälliger Weise in der Nähe des Gastes Platz und sann darüber nach, auf welche Art er mit ihm in ein Gespräch kommen könnte. Das war verhältnismäßig leicht, wenn der elegante Herr, was nach seinem Aeußern nicht unmöglich schien, ein Geschäftsreisender war. Er brauchte ihn dann nur anzusprechen und nach einem anständigen Hotel zu fragen. Lippe machte sich auch sofort an die Ausführung seines Vorhabens. Zunächst rückte er heran, und seine Uhr ziehend, fragte er ganz naiv, ob er ihm nicht die genaue Zeit angeben könnte, seine Uhr sei auf der Reise stehen geblieben.

Der fremde Herr gab höflich in unleugbarem Wienerdialekt Auskunft. Damit war für den Polizisten sofort ein weiterer Anknüpfungspunkt gegeben.

»Ach mein Herr, Sie sind wohl Wiener Kind, wie ich aus Ihrer Sprache höre, könnten Sie mir nicht einen Rat geben bezüglich der Unterkunft?«

»Gewiß, mit großem Vergnügen,« antwortete der Fremde, »wenn Sie mich nur auf die Post begleiten wollen, ich erwarte Briefe von Berlin, die für mich von großer Wichtigkeit sind. Ich reise nämlich für ein Berliner Haus in der ganzen österreich-ungarischen Monarchie.«

Lippe war sehr enttäuscht. Die Ruhe und Sorglosigkeit des Mannes stimmten durchaus nicht mit dem Bilde überein, das er sich von dem Vertrauten der Flüchtlinge gemacht hatte. Trotzdem begleitete er den Reisenden nach dem Postschalter und sah, wie er eine Anzahl Briefe, die nicht im entferntesten die Adresse der Gräfin Laufenburg trugen, in Empfang nahm. Er ließ sich natürlich nichts merken und hörte ruhig den Vortrag seines neuen Bekannten über Wiener Hotels und Geschäftshäuser an. Um gar keinen Verdacht zu erregen, notierte er sich einige Namen und verabschiedete sich mit ausgesuchter Höflichkeit von dem »Kollegen«.

Sein nächster Gang galt nun wieder dem Vorstand des Hauptpostamtes. Dieser hatte bereits überall hin telephoniert, ob irgendwo der gesuchte Brief eingetroffen wäre, aber es wollte sich keine Spur davon entdecken lassen.

»Fragen wir doch einmal telegraphisch in Berlin an, ob der Brief abgegangen ist.« Und schon hatte der liebenswürdige Beamte die betreffende Depesche aufgesetzt. Lippe wollte die Zeit bis zum Eintreffen des Telegramms dazu verwenden, sich Wien anzusehen, aber der Postbeamte nötigte ihn, da zu bleiben und eine echte Virginia mit ihm zu rauchen. Lippe, der nie untätig sein konnte, ließ sich auch jetzt ein bißchen von dem Prinzen von Toscana erzählen. Was er da erfuhr, paßte durchaus nicht in seine Kombinationen. Der Prinz war ein sehr leutseliger Mann, aber durchaus Aristokrat, der nie und nimmer eine Bürgerliche heiraten würde, und wenn sie so viel Millionen wie Tage im Jahre besähe. Er schien überhaupt, so erzählte der Beamte, den Frauen wenig gewogen und ging ganz im Seemannsberuf auf.

Er war Soldat von Kopf bis zu Fuß, eine offene, ehrliche Natur, der alle Unwahrheiten und Winkelzüge ein Greuel waren.

Während sie noch sprachen, wurde an der Tür des Vorstandszimmers geklopft und ein Bureaubote brachte die Antwort von Berlin. Der Postbeamte las sie und reichte sie dem Detektiv mit der Bemerkung, das sei allerdings eine schöne Ueberraschung. Als Lippe die Depesche gleichfalls gelesen hatte, geriet er in eine sichtliche Aufregung. Donnerwetter, so etwas mußte ihm passieren. Ja, ja, bei den Spitzbuben lernt man nie aus. Aber nun hatte sich der Mittelsmann des flüchtigen Paares verraten. Die Depesche enthielt nur die kurze Mitteilung:

»Der gesuchte Brief ist hier allerdings aufgeliefert worden. Eine Stunde später aber meldete sich ein junger Mann, der ein Kuvert vorzeigte, das genau dieselbe Adresse wie der gesuchte Brief hatte und ohne Zweifel von derselben Hand geschrieben war. Der junge Mann forderte den Brief zurück, da er nicht abgehen sollte. Wir hatten keinen Grund, die Rückgabe des Briefes zu verweigern, da unsern Vorschriften in jeder Beziehung genügt war.«


 << zurück weiter >>