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XIII.

Seit den letzten Ereignissen waren einige Tage vergangen. Der Spätherbst hatte sich noch einmal zu einem letzten Aufflammen emporgerafft. Die Sonne schoß in funkelnden Strahlen vom klar blauen Himmel und sie belebte das schon tüchtig bunt gefärbte Laub mit einem Glitzer und Glimmer, so daß man fast an den blütenprangenden Frühling erinnert wurde.

Es war Sonntag. Die Züge, die vom Schlesischen Bahnhof in der Richtung nach Friedrichshagen abgingen, waren dicht besetzt mit Ausflüglern. Ein jeder fühlte, daß er heute noch einmal hinaus in die Natur müsse, um Abschied von der schönsten Hälfte des Jahres zu nehmen. Auch Woldemar Richter hatte sich vorgenommen, den schönen Herbsttag zu benützen, und kaum hatte er sein Mittagbrot eingenommen, als er sich aufmachte, um nach Treptow hinauszufahren.

Er war eben in Schöneberg ins Kupee gestiegen, als ein junger, schneidiger Mann mit einem zierlichen, hübschen Mädchen nachfolgte und sich ihm gegenüber setzte. Richter dachte sich, auch so ein kleiner Kommis wie du, der am dienstfreien Sonntag mit seinem Mädel spazieren fährt. Plötzlich redete ihn der Herr an:

»Ach, Sie verzeihen, würden Sie vielleicht die Güte haben, mir etwas Feuer zu geben?«

Richter bot seinem Gegenüber bereitwillig die brennende Zigarre, die dieser nahm und nach der Benützung dankend zurückgab.

»Es ist doch ein wirklich schöner Tag,« begann der andere Herr wieder, »es wäre schade, wenn man sich da zu Hause herumdrückte und Grillen finge, nicht wahr, Kleine?«

Das Mädchen nickte und biß mit ihren kleinen, blanken Zähnchen in eine Marzipanstange aus dem Automaten. Dann sagte sie:

»Weißt du, Lump, und in Treptow ist es doch am allerschönsten?«

»O, das sagen Sie nicht, mein Fräulein,« beeilte sich Woldemar Richter einzuwerfen, »die weiteren Orte an den großen Seen nach Erkner zu und noch darüber hinaus, die sind am schönsten.«

»Ich weiß nicht,« meinte der fremde junge Mann: »Treptow hat alles, was man braucht: Wasser, Park, anständige Kneipen, Trubel und Jubel, und wenn man mit seinem Liebchen allein sein will, hübsch verschwiegene, einsame Plätze.«

»Aber das haben Sie weiter hinaus auch, und ich meine, noch viel schöner und besser.«

»Ja, aber wenn man in der Gegend nicht bekannt ist, so kann man tagelang herumlaufen, ohne erst das Richtige zu finden, und meine Braut fühlt sich bei keinem Ausflug zufrieden, wenn sie nicht Kaffee kochen kann. Das aber kann man da draußen, wo Sie meinen, nur in den großen Restaurants in Gegenwart von so und so viel Menschen bewerkstelligen. Und wir lieben, unser Schälchen ohne Zeugen zu trinken.«

»Na, wissen Sie, da weiß ich am Priestersee ein kleines, vereinzeltes Wirtshaus, wo es wirklich geradezu entzückend ist. Ich will heute auch mit meiner Braut dahin; Sie sehen, ich habe schon das Kuchenpaket bei mir.«

»Wenn Sie erlauben würden, daß wir uns Ihnen anschließen, würden wir Ihnen sehr dankbar sein. Bezüglich schöner Ausflugsorte lernt man ja nicht aus.«

»Es ist mir ein großes Vergnügen und ich glaube nicht, daß meine Braut etwas dagegen hat.«

»Aber wo haben Sie denn Ihre Braut; vielleicht auch im Kuchenpaket eingeschlagen?«

Alle drei lachten lustig auf.

»Aber nein, sie wohnt in Treptow, wo ich sie erst abholen werde.«

»Ach so. Nun, wenn Sie erlauben, mein Name ist Müller … meine Braut.«

»Mein Name ist Richter.«

»Ja, wenn Sie erlauben, so werden wir Sie auf dem Schlesischen Bahnhofe erwarten, es steht Ihnen dann frei, unser Führer zu sein oder uns zu versetzen. Wir nehmen Ihnen nichts übel und für zwei lustige Kameraden garantiere ich. Was meinst du, Lumpchen?«

»Na und ob.«

Da war man auch schon in Treptow angekommen und Woldemar Richter stieg aus. Er lief eiligst dem Ausgange zu und bemerkte daher nicht, daß das junge Pärchen gleichfalls das Kupee verlassen hatte. Müller flüsterte seiner Braut zu:

»Daß du mir hübsch vorsichtig bist, Kleine, und dein Mäulchen nicht zu weit auftust.«

»Ohne Sorge, ich passe schon auf, Sie kennen meine Fähigkeiten noch gar nicht.«

»Nun, aber verplappre dich nicht mit deinem dummen ›Sie‹, du bist für heute mein Mädel und sagst, auch wenn wir allein sind, ›Du‹, damit du dich dran gewöhnst.«

»Aber, Herr Kriminalkommissar, das kann ich doch nicht?«

»Also tu mir den Gefallen und laß mir deine Ehrerbietung zu Hause und merke dir, daß ich den Kriminalkommissar im Polizeipräsidium aufgehängt habe. Ich bin nur der Müller und bin Verkäufer bei Wertheim und dein Bräutigam.«

»Wirklicher Bräutigam?«

»Wirklicher Bräutigam.«

»Na, da gratuliere ich dir zu deiner Braut. Eifersüchtig brauchst du nicht zu sein und zu ängstigen brauchst du dich auch nicht um mich, denn die Berliner Sittenpolizei wacht über mein Leben.«

»Ja, mein kleines Lumpchen, ich weiß wohl, daß du wie ein schöner rotbäckiger Apfel bist, den man aber nur von außen ansehen darf. Wenn man ihn durchschneidet, ist er wurmstichig, aber davon haben wir jetzt nicht zu reden. Heute bist du meine kleine erklärte Braut und im Nebenamte Vigilantin des Königlichen Polizeipräsidiums Berlin. Nur bitt' ich dich, mach' vor allen Dingen deine Sache gut und falle nicht aus der Rolle.«

»Außer Sorge, aber da kommt unser Pärchen schon zurück, marsch, marsch hinter das Beamtengebäude.«

»Nein, nein, wir werden hineingehen.«

Der vermeintliche Herr Müller trat auf den Assistenten zu und stellte sich vor:

»Kriminalkommissar Lippe.«

Danach bat er ihn, sich bis zum Abgehen des nächsten Zuges im Beamtenraum aufhalten zu dürfen. Er sagte zugleich, daß es ihm darauf ankomme, unbemerkt von dem eben den Bahnsteig betretenden Pärchen, mit diesem, in denselben Zug einsteigen zu können. Der Beamte sah ihn ungläubig an und meinte:

»Das ist ja Fräulein Neudorf. Was hat denn die Polizei mit ihr zu tun? Möchten Sie mir nicht einmal Ihre Legitimation zeigen?«

»Aber mit großem Vergnügen, Herr Assistent.«

Und Lippe reichte dem Beamten seinen Ausweis, den dieser sofort mit einer höflichen Entschuldigung zurückgab.

»Ich werde den Zug weit vorfahren lassen,« sagte er alsdann, »und den Aufenthalt um eine halbe Minute verlängern, dann können Sie unbemerkt ein Kupee erreichen. Die Frage ist nur, ob Sie, ohne gesehen zu werden, am Schlesischen Bahnhofe den Zug verlassen können.«

»Darüber machen Sie sich keine Sorge. Wir sind im vordersten Wagen und verlassen so schnell als möglich das Kupee, und es ist anzunehmen, daß der Bahnsteig von Menschen derart überfüllt ist, daß wir ganz ohne jede Störung unsern Zweck erreichen können.«

Da fuhr auch schon der Zug ein. Woldemar Richter und Klara Neudorf beeilten sich, einen Platz zu finden, und als sich die Kupeetür hinter ihnen geschlossen hatte, verließen Lippe und die kleine Vigilantin das Bahnhofsbureau, um schnell und ungesehen in den Zug zu schlüpfen. Bis jetzt war alles geglückt, es war nur die Frage, ob das Liebespaar in die Begleitung der beiden willigen würde. Sie konnten nicht lange über die Frage diskutieren, denn schon hielt der Zug an seinem Bestimmungsort und blitzschnell standen beide auf dem Bahnsteig. Das kleine Mädchen hing sich zärtlich an den Arm ihres Begleiters und machte ein so glückstrahlendes Gesicht, daß kein sterblicher Mensch ahnen konnte, in welchem Verhältnis die beiden standen. Jetzt erreichten sie in nachlässigem Schlendergang Woldemar Richter und seine Braut.

»Ah, da sind Sie ja! Gestatten Sie … meine Braut … Herr Müller und Braut.«

Klara Neudorf war ein sehr schönes Mädchen und man durfte sich nicht wundern, daß der junge Bankkommis alles daran setzte, um mit oder ohne Willen des Vaters ihre Hand zu erringen.

Während der nun folgenden Fahrt nach Erkner trugen Woldemar Richter, seine Braut und die kleine Vigilantin allein die Kosten der Unterhaltung. Lippe war beim Einsteigen durch andere Fahrgäste von seiner Gesellschaft getrennt worden. Er stand in dem stark überfüllten Wagen am Fenster und blickte in die sonnendurchflutete, herbstlich bunte Landschaft hinaus. Von Station zu Station verringerte sich die Zahl der Kupeeinsassen und hinter Friedrichshagen waren die beiden Paare vollständig allein. Woldemar Richter und seine Braut begannen sofort ein zärtliches Spiel. Sie aßen von einem Stück Schokolade, drückten sich verliebt die Hände, und es dauerte nicht lange, hatte der junge Mann das schöne Mädchen um die Taille gefaßt und küßte die über und über Erglühende, so sehr sie sich auch sträubte.

»Aber was willst du denn? Wir können uns das doch leisten, und Herr Müller wird auch wissen, was ein Kuß ist.«

»Aber sehr,« antwortete Lippe und lachte vergnügt.

Mit einer chevaleresken Bewegung faßte er seine kleine Begleiterin um die Schulter, zog sie in seinen Arm und küßte ihr die frischen, rosigen Lippen. Dabei flüsterte er ihr ins Ohr, so leise, daß die andern es nicht hören konnten: »Bist eigentlich ein ganz prächtiges Mädel, schade, daß du so lüderlich bist.«

Die kleine kräuselte schmollend die Lippen und mit einem koketten Augenblitz sagte sie:

»Na warte, du Lump, wenn du nicht gleich brav bist, springe ich aus dem Zug.«

Dabei hüpfte sie auf den Sitz und setzte ihr kleines Füßchen auf das Fensterbrett.

»Wirst du gleich hierherkommen, du Racker,« und Lippe faßte sie am Jackett, zog sie neben sich und hielt sie fest.

Während der langen Fahrt waren ihm mancherlei Gedanken durch den Kopf gegangen. Vor allem suchte er sich die Tatsache zu erklären, warum Woldemar Richter, der doch seine Liebe lange Zeit sorgfältig geheim gehalten, nun plötzlich ganz öffentlich mit der Treptower Fabrikantentochter spazieren ging. Lippe wußte genau, daß Klaras Vater eine derartige Heirat nie billigen würde und daß Rita Geldern, als die Beziehungen der beiden jungen Leute entdeckt waren und die Schritte des Mädchens peinlich bewacht wurden, den Schutzengel spielte und geheime Zusammenkünfte der beiden ermöglichte. Inzwischen mußte also etwas Bedeutungsvolles geschehen sein; das herauszufinden, war der Zweck des heutigen Ausfluges.

Endlich fuhr auch der Zug im Bahnhofe Erkner ein. Bis bisher hatten sich die Berliner Ausflügler, trotz des wirklich herrlichen Novembertages, nicht gewagt. Nur ganz wenige bestiegen den Dampfer, um nach der Woltersdorfer Schleuse zu fahren. Die beiden Pärchen ließen die Dampferfähre links liegen und gingen die Hauptstraße von Erkner entlang, bis sie zu einer Straßenkrümmung kamen, an der ein großes Gartenrestaurant lag. Sie blickten durch die Eisengittertür und sahen, daß nur wenige Gäste im Garten Platz genommen hatten. Dagegen lagen auf Tischen und Stühlen und auf den breiten, festen Kieswegen die großen verdorrten Kastanienblätter in Massen umher. Anfänglich wollte man in diesem Gartenrestaurant eine erste Station machen; angesichts dieser traurigen Verödung aber beschloß man, in einem Zuge dem Bestimmungsorte zuzuwandern.

Ein schmaler Weg zog sich links durch die Feldmark an kleinen roten Ziegelbauten vorüber und mündete auf das stille, verschwiegene Waldflüßchen, die Löcknitz. Denn wenn der Weg auch mitten durch den Forst führt, so ist er doch erheblich näher als die Chaussee, die im großen Bogen dem Lauf der Löcknitz folgt.

Mit einem lustigen Juch-Schrei sprangen die vier jungen Menschenkinder in den Wald hinein. Ein würziger Duft von Harz und feuchter Walderde quoll ihnen entgegen, und wenige Minuten später hatte die grüne Tiefe die Ausflügler vollständig umfangen.

»Es ist wirklich imposant schön hier,« meinte Müller-Lippe, »ich begreife die Berliner nicht, daß sie diesem herrlichen Walde fern bleiben. Die Natur ist doch in jeder Jahreszeit großartig und fesselnd.«

»Sie haben recht, Herr Müller. Meine Braut und ich gehen sehr oft hierher, schon um der Einsamkeit willen. Und warten Sie erst, wenn wir an den Wupatzsee kommen, der wie ein blaues Auge aus dem Waldtal heraufblickt.«

»Liebt denn Ihre Braut die Einsamkeit so sehr?«

»Das könnte ich eigentlich nicht sagen.«

»Nun, dann schwärmen Sie dafür?«

»Auch nicht so unbedingt, aber wissen Sie, es gibt Verhältnisse, besonders in einem Liebesbund, die es oft nötig machen, verborgene Weltwinkel aufzusuchen.«

»Ja ja, wenn so eine böse Schwiegermutter oder ein böser Schwiegervater die Geliebte auf Schritt und Tritt bewacht.«

»Ach, mit dem Bewachen ist es nicht so schlimm. Die jungen Mädchen sind gar schlau und es findet sich immer eine Freundin, die gegen ähnliche Dienstleistungen ein bißchen kuppelt.«

Die beiden jungen Männer lachten lustig auf.

»Wissen Sie, Herr Müller, wir haben Zeiten durchgemacht, Zeiten sag' ich Ihnen, unter hundert Liebespaaren hält da höchstens eins aus. Ich muß Ihnen nämlich erklären, daß meine Braut die Tochter eines reichen Fabrikanten in Treptow ist. Ich bin nur ein armer Kommis, und da hat es Kämpfe und Tränen gekostet, bis wir die Einwilligung des gestrengen Papas hatten.«

»Ja, das glaube ich. Da haben Sie wohl Ihrem Schwiegervater oder Ihrer Schwiegermutter das Leben gerettet?«

»Na, etwas ähnliches.«

»Ach, das müssen Sie mir aber erzählen, so was interessiert mich mächtig.«

»Eigentlich sollte ich darüber gar nicht sprechen, aber Sie kennen ja weder den Namen meines Schwiegervaters, noch wissen Sie, in welchem Geschäfte ich tätig bin. Ich brauche Ihnen daher nur die Tatsache ohne Namen zu berichten. Sehen Sie, mein Schwiegervater hatte sich bei einem Unternehmen ziemlich stark engagiert, aber die Hoffnung, daraus großen Gewinn zu ziehen, schlug fehl, und er war in der Tat in große Bedrängnis geraten. Meine Braut informierte mich in indiskreter Weise« – Klara Neudorf warf ihrem Geliebten einen unzufriedenen Blick zu, er aber ließ sich dadurch keineswegs beirren, sondern fuhr mit einem gewissen Nachdruck fort – »aber diese Indiskretion hat uns Glück gebracht.«

»Wie kam denn das,« fragte Lippe lebhaft interessiert. Er mußte sich gewaltsam zur Ruhe zwingen, denn der Augenblick schien gekommen, wo er vielleicht die wichtigste Entdeckung machen sollte.

»Gott, wie so etwas kommt. Ich bin, wie gesagt, in einem großen Berliner Bankhause angestellt, das einen ziemlichen Einfluß auf die Börsenverhältnisse ganz Europas auszuüben imstande ist.«

»Doch nicht bei Bleichröder?«

Woldemar Richter lächelte geheimnisvoll, als ob er sagen wollte: »Du hast's erraten, mein Junge,« aber er sagte trotzdem: »Darüber möchte ich nicht reden.«

In jedem andern hätte er durch diese eigenartige Wendung die feste Ueberzeugung hervorgebracht, daß er bei Bleichröder engagiert sei. Und Lippe, der ja in keinem Punkte merken lassen durfte, wie genau er über Woldemar Richters Persönlichkeit unterrichtet war, lächelte seinerseits nun verständnisinnig und sagte dann:

»Also nicht bei Bleichröder.«

»Es tut ja auch nichts zur Sache, Herr Müller. Jedenfalls war ich in der Lage, wenn ich die Geheimnisse der Finanzaktionen meines Chefs mit einem doch kreditfähigen Fabrikanten teilte, viel Geld gewinnen konnte. Ich setzte mich also hin und schrieb einen Brief.«

»Das war sehr unvorsichtig, Herr Richter. Wenn Ihr Schwiegervater nun diesen Brief Ihrem Chef gezeigt hätte?«

»Was war da weiter dabei? Ich hatte meine Stelle verloren; daran lag mir wenig, wenn ich das Mädchen meiner Liebe doch nicht bekommen sollte.«

»Also Sie schrieben einen Brief? Die Sache interessiert mich wirklich.«

»Ja, ich schrieb einen Brief, und in diesem Briefe teilte ich meinem Schwiegervater mit, daß trotz seines Verbotes und trotz seiner Aufmerksamkeit Zusammenkünfte zwischen mir und seiner Tochter stattgefunden hätten.

Ich deutete auch an, daß meine Braut mir über den Rückgang seines Vermögens und auch über seine augenblicklichen Geschäftsschwierigkeiten Mitteilung gemacht, und dann erzählte ich ihm ausführlich die Fabel von dem Löwen und der Maus. Sie wissen doch, wo die Maus den gefangenen Löwen durch Nagen befreit.«

»Ja, ja, ich weiß.« Lippe lachte.

»Und nun kurz; als der Schwiegervater aus diesem Gleichnis erfahren hatte, daß auch ein unbedeutender Mensch mit Energie und Zähigkeit etwas erreichen könne, teilte ich ihm mit, daß ich in der Lage sei, ihm gewisse Börsenkonjunkturen mitzuteilen, mit deren Benützung er nicht nur seine augenblicklichen Schwierigkeiten überwinden, sondern auch große finanzielle Erfolge erringen würde.«

»Das war sehr gewagt, sehr gewagt!«

»Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich nichts zu verlieren hatte. Gab er diesen Brief meinem Chef, dessen Tochter übrigens mit meiner Braut sehr befreundet ist, so war ich natürlich meine Stelle los. Aber ich durfte mit ziemlicher Sicherheit voraussetzen, daß der alte Herr die ihm dargereichte Hand fest ergreifen wurde. Ich machte allerdings zur Bedingung meiner Hilfe, die Einwilligung zu unserer Verbindung. Umgehend erhielt ich Antwort, ich möge mich an dem und dem Tage zu einer Besprechung im Bureau einfinden. Glücklicherweise hatte ich erfahren, daß mein Chef eine Million flüssig gemacht hatte, um einem Bergwerk, das ungeheure Ausbeute versprach, aber in den Händen einer insolventen Gesellschaft war, aufzuhelfen. Diese Industriepapiere wurden an der Börse mit etwa zweiunddreißig gehandelt, mußten aber, wenn mein Chef sich mit einer Million engagierte, augenblicklich in die Höhe gehen.«

»Sehr interessant, sehr interessant. Ich bin doch gespannt, wie die Sache auslief.«

»Vollkommen programmäßig. Ich erklärte meinem Schwiegervater, wie die Verhältnisse zurzeit lagen und er sagte mir die Hand seiner Tochter zu, falls ich ihm auf die angebotene Weise helfen würde. Was soll ich Ihnen sagen: mein Schwiegervater schenkte mir Vertrauen und engagierte sich zuerst mit einer verhältnismäßig kleinen Summe. Er kaufte für etwa 10,000 Mark jene von mir vorgeschlagenen Bergwerkspapiere und hatte die Freude, sie schon wenige Tage darauf mit pari gehandelt zu sehen. Er wollte nun verkaufen, denn die gewonnenen zwanzigtausend Mark konnten ihm im Geschäft treffliche Dienste leisten. Ich wehrte mich energisch dagegen, und was soll ich Ihnen sagen: das Bergwerk produziert Unsummen einer Anthrazit ähnlichen Kohle, und seine Papiere stehen heute weit über zweihundert.«

»War das in jüngster Zeit?«

»Erst vor ungefähr drei Wochen.«

Lippe triumphierte. Es handelte sich hier offenbar um die aus dem Geldschrank gestohlenen Aktien und Woldemar Richter hatte mit Harsley zusammengewohnt. Wer weiß, was da nicht noch weiter geschehen war.

»Und weiter haben Sie für Ihren Schwiegervater nichts getan?«

»O, noch sehr viel. Ich wußte, daß mein Chef … aber das sollte ich Ihnen gar nicht erzählen.«

»Wieso denn? Ich weiß ja gar nicht, um wen es sich handelt.«

»Aber Sie könnten es doch erfahren, da Sie meinen Namen wissen.«

Lippe lachte wieder lustig.

»Ich habe auch weiter nichts zu tun, vor mir brauchen Sie keine Angst zu haben. Sehen Sie, ich bin Verkäufer bei Wertheim, und man hat doch auch davon geträumt, einmal ein großer Handelsherr zu werden, leider vergeblich, aber das Interesse für derartige Finanzmanöver ist einem doch geblieben.«

»Ja, das kann ich verstehen. Gott, es tut ja auch weiter nichts zur Sache, ich kann Ihnen die Geschichte immerhin erzählen, Gebrauch machen können Sie davon doch nicht. Sehen Sie, mein Chef stand im Begriff, einen ungemein wichtigen Vertrag abzuschließen. Ich will Ihnen keine nähern Details geben, kurz, die Kenntnis dieses Vertrages war Millionen wert. Es gelang mir durch geschickte Manipulationen, eine Kopie dieses Vertrages in die Hände zu bekommen, und als mein Chef an der Börse seine Mine springen lassen wollte, explodierte unsere Gegenmine, und wir waren mit einem Male reiche Leute.«

»Donnerwetter, das nenne ich eine glückliche Hand.«

»Ja, ja, und wem dankt der alte Löwe alles? Der unscheinbaren Maus.«

»Und seiner Tochter,« warf Lippe mit einer galanten Verbeugung gegen Fräulein Neudorf ein.

»Du, du,« drohte die kleine Vigilantin, in richtiger Ausführung ihrer Rolle die Eifersüchtige spielend.

Lippe wäre am liebsten jetzt sogleich nach Hause gefahren, denn was er zu wissen nötig hatte, lag wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihm. Aber er durfte nicht, ohne Verdacht zu erregen, die Partie unterbrechen und wenn er auch nichts mehr von Bedeutung erfahren konnte, so war es nicht unmöglich, daß einzelne Details, die Woldemar Richter noch erzählte, ihm die Entdeckung des äußersten Endes der Intrigue wesentlich erleichterte. Er glaubte zwar schon vollständig klar zu sehen, denn er erinnerte sich, als er Geldern an der Börse aufgesucht, ihn äußerst aufgeregt und mißmutig gefunden zu haben. Er schrieb diesen Nervenzustand einzig und allein dem Verschwinden der Tochter zu, denn Geldern, nahm er an, konnte von geschäftlichen Fehlschlägen nicht besonders aus der Stimmung gebracht werden. Aber daß ein so wohlvorbereiteter und streng geheim gehaltener Vertrag einer gegnerischen Börsenkoterie bekannt geworden war, mußte auch den ruhigsten und kaltblütigsten Geschäftsmann in Aufregung versetzen.

Warum hatte der Kommerzienrat aber nie mit Lippe darüber gesprochen? Es hätte ihm doch seine Nachforschungen wesentlich erleichtert. Der Kriminalist gab sich gleich selbst die Antwort auf seine Frage. Er hatte den Finanzier ja gar nicht danach gefragt, war überhaupt erst nach dieser Richtung hin gesteuert, als ihm der Wiener Polizeisekretär die Frage vorgelegt hatte, ob denn bei dem Bankdiebstahl kein wichtiges Dokument verschwunden sei. Die Sache lag jetzt ziemlich klar, vorausgesetzt, daß der betreffende Vertrag in dem erbrochenen Geldspind aufbewahrt gewesen war. Nahm Lippe nun eine Verbindung zwischen Harsley und Richter an, so konnte der letztere sich ganz gut in den Besitz des wertvollen Aktenstückes gesetzt und sich die wesentlichen Punkte daraus skizziert haben. Das Aktenstück wurde dann einfach wieder in das Geldspind zurückgelegt und Harsley machte sich mit den Industriepapieren davon. Vielleicht hatte auch schon eine Abschrift des Vertrages existiert, die dann einfach gestohlen worden war. Gelderns Untersuchungen nach fehlenden oder abgeänderten Urkunden mußten übrigens jetzt beendet sein, und so durfte Lippe für diese Angelegenheit bald volles Licht erwarten.

»Sie sind ja auf einmal so still,« sagte Woldemar Richter.

»Ja, Ihre Geschichte hat mir zu denken gegeben. Sie sind doch ein Glückspilz.«

»Kann Ihnen auch noch passieren.«

»Wollens hoffen. Was meinst du, Muckchen, wenn wir eine Million hätten?«

»Na, da heirateten wir gleich auf der Stelle.«

»Vielmehr aber auch nicht,« entgegnete Lippe und lachte. – – –

Der Ausflug verlief ohne Zwischenfall. Lippe und die kleine Vigilantin führten ihre Rollen getreu bis zu Ende durch und blieben mit dem wirklichen Liebespaar bis zum späten Abend zusammen.

Als man sich verabschiedet hatte, fragte das kleine Mädchen:

»Nun, Herr Kriminalkommissar, habe ich meine Sache gut gemacht?«

»Sogar sehr gut. Sie haben Ihre acht Groschen redlich verdient?«


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