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Bevor man Beobachtungen anstellt, muß man sich bestimmte Regeln für dieselben bilden. Man muß sich einen Maßstab verschaffen, auf welchen man alle Messungen, die man vornimmt, zurückführen kann. Unsere Grundsätze des politischen Rechts bieten uns einen solchen Maßstab dar. Die Objecte unserer Messungen sind die politischen Gesetze eines jeden Landes.

Unsere Elemente werden klar, einfach und unmittelbar aus der Natur der Dinge geschöpft sein. Es werden Fragen zu gegenseitigen Erörterungen aufgeworfen werden, die wir nicht eher werden als Grundsätze gelten lassen, als bis sie eine genügende Lösung gefunden haben.

So werden wir z. B., indem wir zunächst bis zum Naturzustande zurückgehen, untersuchen, ob die Menschen in Knechtschaft oder Freiheit, ob sie durch die Vereinigung mit Andern in Abhängigkeit oder Unabhängigkeit geboren werden; ob sie sich freiwillig oder aus Zwang vereinigen; ob die Gewalt, welche sie vereinigt, je ein bleibendes Recht bilden kann, durch welche diese vorhergehende Gewalt eine feste Verbindlichkeit auferlegt, sogar dann noch, wenn sie selbst von einer andern überwältigt wird, dergestalt, daß seit König Nimrods Herrschaft, der zuerst fremde Völker unter seine Botmäßigkeit gebracht haben soll, jede andere Herrschaft, welche diese vernichtet hat, für eine unrechtmäßige, für eine Usurpation gelten müsse, und daß es eigentlich nur so viele legitime Könige gebe, als sich Nachkommen Nimrods oder ihre Rechtsnachfolger finden, oder ob nach Erlöschen dieser ursprünglichen Gewalt diejenige, welche in ihre Stelle tritt, nun ihrerseits neue Verbindlichkeiten auferlegt und die alten aufhebt, so daß man nur so lange Gehorsam zu leisten verpflichtet sei, als die Macht währt, welche dazu nöthigt, und daß man also denselben nicht mehr zu leisten brauche, sobald man sich im Stande fühle, das Joch abzuschütteln: ein Recht, welches, wie mir scheint, der Gewalt nicht gerade ein höheres Ansehen verleihen und nur in einem Spiele mit Worten bestehen würde.

Wir werden untersuchen, ob sich nicht behaupten läßt, daß jede Krankheit von Gott kommt, und ob es folglich nicht ein Verbrechen ist, sich an den Arzt zu wenden.

Wir werden ferner untersuchen, ob man in seinem Gewissen verpflichtet ist, einem Räuber, der uns auf der Landstraße die Börse abfordert, dieselbe auch dann zu geben, wenn es möglich gewesen wäre, sie ihm zu verbergen; denn die Pistole muß doch immerhin auch als eine Macht betrachtet werden.

Wir werden untersuchen, ob das Wort Macht bei dieser Gelegenheit etwas Anderes bezeichnen will als eine legitime Macht, und ob diese Macht folglich denselben Gesetzen unterworfen ist, durch welche jene ins Dasein gerufen ist.

Angenommen, daß man das Recht der Vernunft verwirft und das Recht der Natur oder die väterliche Autorität als Princip der Gesellschaft gelten läßt, so werden wir das Maß dieser Autorität prüfen, werden untersuchen, inwiefern sie in der Natur begründet ist und ob sie einen anderen Grund hat als den Nutzen des Kindes, seine Schwäche und die natürliche Liebe, welche der Vater für dasselbe fühlt; ob demnach nicht das Kind, sobald seine Schwäche gewichen ist und sein Verstand die gehörige Reife erlangt hat, allein der natürliche Beurtheiler dessen ist, was zu seiner Erhaltung dient, mithin sein eigener Herr und von jedem andern Menschen, sogar von seinem Vater, unabhängig wird; denn jedenfalls ist es sicherer, daß der Sohn sich selbst, als daß der Vater den Sohn liebt.

Ob die Kinder nach dem Tode des Vaters die Verpflichtung haben, dem Aeltesten aus ihrer Mitte oder irgend einem Anderen zu gehorchen, der nicht die natürliche Liebe eines Vaters für sie empfindet; und ob es von Geschlecht zu Geschlecht stets ein einziges Oberhaupt geben soll, welchem die ganze Familie zu gehorchen verbunden ist. In letzterem Falle müßte man festzustellen suchen, wie diese Autorität je getheilt werden konnte, und mit welchem Rechte es auf der ganzen Erde mehr als ein Oberhaupt gibt, da doch nur einem einzigen die Herrschaft über das Menschengeschlecht gebührte.

Bei der Voraussetzung, daß sich die Bildung der Völker nach freier Wahl vollziehe, werden wir das Recht von der Thatsache trennen müssen; und da sich dann die Menschen ihren Brüdern, Oheimen oder Verwandten nicht in Folge einer Pflicht, sondern aus eigenem Antriebe unterwerfen, so werden wir die Frage aufwerfen müssen, ob sich diese Art von Genossenschaft nicht regelmäßig in eine freie und freiwillige Genossenschaft verwandelt.

Indem wir nun zu dem Rechte der Sklaverei übergehen, werden wir untersuchen, ob sich ein Mensch an einen andern rechtmäßig veräußern darf, ohne Einschränkung, ohne Vorbehalt, ohne irgend eine gewisse Bedingung; das heißt, ob er auf seine Person, sein Leben, seine Vernunft, sein Ich, auf den sittlichen Werth seiner Handlungen verzichten und mit einem Worte schon vor seinem Tode seine Existenz aufgeben darf, der Natur zum Trotze, die ihm seine eigene Erhaltung als seine unmittelbare Pflicht auferlegt hat, und seinem Gewissen und seiner Vernunft zum Trotze, welche ihm sein Thun und Lassen vorschreiben.

Findet sich dagegen in dem Abkommen, durch welches sich der Mensch in das Joch der Sklaverei begibt, irgend ein Vorbehalt, irgend eine Einschränkung, so haben wir zu erörtern, ob dieses Abkommen dadurch nicht den Charakter eines wirklichen Vertrages annimmt, in welchem die beiden Contrahenten, da sie als solche keinen gemeinsamen Oberen Hätten sie einen gemeinsamen Oberen, so würde derselbe nichts Anderes als ihr Souverain sein, und dann würde sich das Recht der Sklaverei auf das Recht der Oberherrlichkeit gründen, nicht aber das Princip derselben bilden. haben, hinsichtlich der Bedingungen des Vertrages ihre eigenen Richter bleiben, haben folglich zu erörtern, ob nicht Jeder seinerseits frei und befugt ist, denselben zu lösen, sobald er sich für geschädigt hält.

Wenn sich nun ein Sklave nicht ohne Vorbehalt an seinen Herrn veräußern darf, wie darf sich dann ein Volk ohne Vorbehalt an seinen Oberherrn veräußern? Und wenn dem Sklaven das Richteramt darüber zusteht, ob sein Herr den Vertrag innehält, wie sollte es dann einem Volke nicht zustehen zu entscheiden, ob sein Oberhaupt den Vertrag beobachtet?

Auf diese Weise gezwungen, zu unserm Ausgangspunkte zurückzukehren, wird uns, da wir auch den Sinn des Collectivnamens »Volk« betrachten müssen, noch zu untersuchen bleiben, ob die Gründung eines solchen einen Vertrag, wenigstens einen stillschweigenden erheischt, der demjenigen, welchen wir voraussetzen, vorangeht.

Da das Volk schon vor der Wahl eines Königs ein Volk ist, was anders hat es dann wol zu einem solchen machen können als der sociale Vertrag? Der sociale Vertrag ist folglich die Grundlage aller bürgerlichen Gesellschaft, und in dem Wesen dieses Actes hat man das Wesen der Gesellschaft zu suchen, von welcher er ausgeht.

Wir werden untersuchen, welchen Inhalt dieser Vertrag hat, und ob er sich nicht ungefähr folgendermaßen ausdrücken ließe: »Wir stellen sämmtlich unsere Güter, unsere Personen, unser Leben und unsere ganze Macht unter die Oberleitung des allgemeinen Willens und wir betrachten Alle insgesammt jedes einzelne Glied als einen vom Ganzen untrennbaren Theil.«

Dies vorausgesetzt, wollen wir zur Definition der Ausdrücke, welche wir bedürfen, bemerken, daß dieser Act der Vereinigung an Stelle der besonderen Person jedes einzelnen Contrahenten einen moralischen und collectiven Körper setzt, der aus eben so vielen Gliedern gebildet wird, als die Vereinigung Stimmen zählt. Dieses Gemeinwesen führt im Allgemeinen den Namen politischer Körper, wird aber von seinen Gliedern Staat genannt, wenn er passiv, Souverain, wenn er activ ist, und Macht im Vergleiche mit andern politischen Körpern. Was die Glieder selbst anlangt, so nehmen dieselben in ihrer Gesammtheit den Namen Volk an, während sie sich im Besonderen als Glieder des Gemeinwesens oder als Theilhaber der höchsten Gewalt Bürger, dagegen als dieser Gewalt unterworfen Unterthanen nennen.

Wir werden die Wahrnehmung machen, daß dieser Act der Vereinigung eine gegenseitige Verpflichtung zwischen dem Staate und den Einzelnen in sich faßt, und daß sich also jedes Individuum, indem es gleichsam mit sich selbst einen Vertrag abschließt, in doppelter Beziehung verbindlich macht, nämlich als Glied der höchsten Gewalt den Einzelnen gegenüber, und als Glied des Staates der souverainen Gewalt gegenüber.

Wir werden ferner bemerken, daß, da Niemand an Verpflichtungen gebunden ist, welche er nur mit sich selbst eingegangen, gerade wegen dieser beiden verschiedenen Beziehungen, unter welchen Jeder von ihnen betrachtet werden muß, ein öffentlicher Beschluß, welcher im Stande ist alle Unterthanen gegen ihren Souverain zu verpflichten, nie den Staat gegen sich selbst verbindlich machen kann. Hieraus ist ersichtlich, daß es kein anderes Grundgesetz im eigentlichen Sinne des Wortes gibt noch geben kann als den socialen Vertrag. Das soll jedoch nicht etwa heißen, daß sich der politische Körper nicht in gewisser Hinsicht gegen Andere verpflichten könne, denn in Beziehung auf Fremdes wird er alsdann ein einfaches Wesen, ein Individuum.

Da es den beiden den Vertrag schließenden Theilen, nämlich jedem Einzelnen und dem Staatskörper, an einem gemeinsamen Oberen fehlt, der über ihre Zwistigkeiten zu entscheiden vermöchte, so werden wir zu untersuchen haben, ob es Jedem von Beiden zusteht, den Vertrag zu brechen, sobald es ihm beliebt, d. h. sich für seinen Theil von demselben loszusagen, wenn er sich für beeinträchtigt hält.

Um in diese Frage Licht zu bringen, werden wir nicht außer Acht lassen, daß die Handlungen des Souverain:, da derselbe dem socialen Vertrage zufolge nur nach dem gemeinsamen und allgemeinen Willen handeln kann, gleichfalls nur allgemeine und gemeinsame Zwecke haben dürfen, woraus sich ergibt, daß ein Einzelner von dem Souverain nicht unmittelbar beeinträchtigt werden kann, so lange es nicht Alle werden. Hierin liegt aber eine Unmöglichkeit, da dies hieße, sich selbst ein Uebel zufügen wollen. Deshalb bedarf der sociale Vertrag keiner anderen Bürgschaft als der allgemeinen Macht, weil die Verletzung immer nur von Einzelnen ausgehen kann; und dann sind sie um deswillen nicht etwa ihrer Verpflichtung los und ledig, sondern werden vielmehr bestraft, weil sie gegen dieselbe verstoßen haben.

Um uns über alle ähnliche Fragen ein richtiges Urtheil zu bilden, werden wir stets eingedenk bleiben, daß der sociale Vertrag von besonderer, nur ihm eigenthümlicher Natur ist, insofern als das Volk nur mit sich selbst einen Vertrag abschließt, d. h. das Volk in seiner Gesammtheit als Souverain mit den Einzelnen als Unterthanen, ein Verhältnis, welches das ganze künstliche Spiel der politischen Maschine hervorruft und allein im Stande ist Verpflichtungen rechtmäßig, vernünftig und gefahrlos zu machen, welche sonst ungereimt, tyrannisch und den grenzenlosesten Mißbräuchen ausgesetzt sein würden.

Da die Einzelnen sich nur dem Souverain unterworfen haben, und die souveraine Autorität lediglich in dem allgemeinen Willen besteht, so werden wir sehen, wie jeder Mensch, indem er dem Souverain gehorcht, nur sich selbst gehorcht, und wie man sich unter dem socialen Vertrage freier befindet als im Naturzustande.

Nachdem wir einen Vergleich zwischen der natürlichen Freiheit und der bürgerlichen Freiheit hinsichtlich der Personen angestellt haben, werden wir in Bezug auf den Besitz das Recht des Eigenthums mit dem Rechte der Souverainität und das Privateigentum mit dem Staatseigenthume vergleichen. Ist die souveraine Autorität auf das Recht des Eigenthums gegründet, so muß sie gerade dieses Recht am höchsten achten. Es ist für sie, so lange es ein besonderes und individuelles Recht bleibt, unverletzlich und heilig. Wird es jedoch als allen Bürgern gemeinschaftlich angesehen, so ist es dem allgemeinen Willen unterworfen, und dieser Wille kann es aufheben. So steht dem Souverain nicht das Recht zu, sich an dem Besitze eines Einzelnen oder Mehrerer zu vergreifen, wol aber kann er sich völlig gesetzmäßig des Besitzes Aller bemächtigen, wie dies in Sparta zur Zeit des Lykurgus geschah, während der von Solon angeordnete Schuldenerlaß eine ungesetzliche Handlung war.

Da nur der allgemeine Wille für die Unterthanen verbindlich ist, so werden wir untersuchen, wie sich dieser Wille zu erkennen gibt, an welchen Zeichen man sich mit Sicherheit von demselben überzeugen kann, was ein Gesetz ist und worin die eigentlichen Merkmale des Gesetzes bestehen. Hier handelt es sich um einen ganz neuen Gegenstand, denn eine Definition des Gesetzes gibt es noch nicht.

Sobald das Volk auf eines oder mehrere seiner Glieder besondere Rücksicht nimmt, wird es uneins. Es bildet sich zwischen dem Ganzen und seinem Theile ein Verhältniß, welches aus ihnen zwei getrennte Wesen macht, von denen der Theil das eine und das um diesen Theil verminderte Ganze das andere bildet. Aber dies um einen Theil verkleinerte Ganze ist nun nicht mehr das Ganze. So lange dies Verhältnis besteht, gibt es folglich kein Ganzes mehr, sondern nur zwei ungleiche Theile.

Wenn dagegen das ganze Volk über das ganze Volk Beschlüsse faßt, so nimmt es nur auf sich selbst Rücksicht. Bildet sich nun ein Verhältniß, so ist es das des Ganzen unter einem Gesichtspunkte zum Ganzen unter einem andern Gesichtspunkte, ohne irgend eine Spaltung des Ganzen. Dann ist der Gegenstand, über welchen man Beschlüsse faßt, ein allgemeiner, und der Wille, welcher beschließt, ebenfalls ein allgemeiner. Wir werden untersuchen, ob es noch irgend eine andere Art der Beschlußfassung gibt, welche auf den Namen Gesetz Anspruch machen darf.

Wenn der Souverain nur durch Gesetze sprechen darf, und wenn das Gesetz immer nur einen allgemeinen Inhalt haben kann, der sich auf alle Staatsglieder gleichmäßig bezieht, so folgt hieraus, daß der Souverain niemals die Berechtigung hat, über einen besonderen Gegenstand zu beschließen. Da es zur Erhaltung des Staates indeß von Wichtigkeit ist, daß auch über besondere Angelegenheiten entschieden werde, so werden wir untersuchen, in welcher Weise sich dies ausführen läßt.

Die Acte des Souverains können nur Acte des allgemeinen Willens, der Gesetze sein; nun sind aber sodann auch noch entscheidende Acte nöthig, Acte der ausübenden Gewalt oder der Regierung zur Ausführung eben dieser Gesetze, und diese haben es stets mit besonderen Angelegenheiten zu thun. So ist der Act, nach welchem der Souverain die Wahl eines Oberhaupts anordnet, ein Gesetz, während der Act der Wahl dieses Oberhauptes in Ausführung des Gesetzes nur ein Regierungsact ist.

Hier zeigt sich uns also noch eine dritte Beziehung, unter welcher das gesammte Volk betrachtet werden kann, nämlich als Obrigkeit oder Vollstrecker des Gesetzes, welches es als Souverain erlassen hat. Diese Fragen und Sätze sind größtentheils Auszüge aus der Abhandlung über den Gesellschaftsvertrag, die wiederum nur ein Auszug aus einem größeren Werke ist, welches ich, ohne meine Kräfte zu erwägen, unternommen, allein schon vor längerer Zeit habe liegen lassen. Die kurze Abhandlung, die ich demselben entnommen habe und deren summarische Uebersicht ich in Obigem gegeben habe, wird besonders erscheinen.

Wir werden untersuchen, ob es möglich ist, daß sich das Volk seines Souverainitätsrechtes begibt, um eine oder mehrere Persönlichkeiten mit demselben zu bekleiden, denn da der Wahlact kein Gesetz und das Volk bei diesem Acte nicht selbst Souverain ist, so läßt sich nicht einsehen, wie es dann ein Recht, welches es gar nicht besitzt, zu übertragen vermag.

Da das Wesen der Souverainität in dem allgemeinen Willen besteht, so ist noch weniger ersichtlich, wie man sich die Gewißheit verschaffen kann, daß sich ein Einzelwille stets mit diesem allgemeinen Willen in Übereinstimmung befindet. Man hat weit mehr Berechtigung zu der Annahme, daß er demselben im Gegentheile gar oft entgegen sein wird, da das Privatinteresse stets nach Bevorzugung strebt, während das Gesammtinteresse auf Gleichheit ausgeht. Wäre diese Übereinstimmung aber auch möglich, so würde doch schon der Umstand, daß sie nicht nothwendig und unzerstörbar wäre, hinreichen, die Bildung des souverainen Rechts zu verhindern.

Wir werden untersuchen, ob ohne Verletzung des socialen Vertrages die Oberhäupter des Volks, unter welchem Namen sie auch immer erwählt sein mögen, je etwas Anderes als Beamte des Volkes sein können, die dasselbe mit der Vollstreckung der Gesetze betraut hat, ob ihm diese Oberhäupter nicht Rechenschaft über ihre Verwaltung schuldig sind und nicht selbst unter den Gesetzen stehen, deren Geltendmachung ihnen übertragen ist.

Wenn das Volk nie auf sein Hoheitsrecht völlig verzichten kann, darf es dasselbe dann nicht wenigstens auf einige Zeit auf Andere übertragen? Wenn es sich keinen Herrn geben kann, ist es dann berechtigt, sich Stellvertreter zu erwählen? Diese Frage ist unstreitig wichtig und verdient eine eingehende Untersuchung.

Kann das Volk weder Souverain noch Stellvertreter haben, so werden wir untersuchen, wie es im Stande ist, selbst seine Gesetze zu ertheilen; ferner, ob es vieler Gesetze bedarf; ob es dieselben oft abändern muß; ob es vortheilhaft ist, wenn ein großes Volk sein eigener Gesetzgeber ist;

ob das römische Volk nicht ein großes Volk war;

ob es gut ist, daß es große Völker gibt.

Aus den vorhergehenden Betrachtungen ergibt sich, daß es im Staate zwischen den Unterthanen und dem Souveraine einen Zwischenkörper gibt; und dieser aus einem oder mehreren Gliedern gebildete Zwischenkörper ist mit der öffentlichen Verwaltung, der Vollstreckung der Gesetze und der Aufrechterhaltung der bürgerlichen und der politischen Freiheit betraut.

Die Glieder dieses Körpers heißen Obrigkeiten oder Könige, d. h. Regierende. Im Hinblick auf die Person, welche diesen Körper bildet, wird er Fürst genannt, und im Hinblick auf seine Thätigkeit Regierung.

Wenn wir die Handlung des ganzen Körpers in seiner Wirkung auf sich selbst, d. h. die Beziehung des Ganzen auf das Ganze oder des Souverains auf den Staat betrachten, so können wir diese Beziehung mit den äußeren Gliedern einer stetigen Proportion vergleichen, deren mittleres Glied dann die Regierung bildet. Die Obrigkeit erhält von dem Souveräne die Befehle, die sie dem Volke übermittelt, und Alles richtig gegen einander abgewogen, so beläuft sich ihr Product oder ihre Potenz eben so hoch wie das Product oder die Potenz der Bürger, welche auf der einen Seite Unterthanen und auf der anderen Souveraine sind. Man kann den Werth keines dieser drei Glieder verändern, ohne die Proportion augenblicklich aufzuheben. Wenn der Souverain regieren will, oder wenn der Fürst sich für berechtigt hält, Gesetze zu ertheilen, oder wenn der Unterthan den Gehorsam verweigert, so folgt der Ordnung Unordnung und der sich auflösende Staat wird eine Beute des Despotismus oder der Anarchie.

Wir wollen einmal annehmen, der Staat bestehe aus zehntausend Bürgern. Der Souverain läßt sich nur collectiv und in der Gesammtheit denken; in der Eigenschaft eines Unterthanen hat jedoch jeder Einzelne ein individuelles und unabhängiges Dasein. Deshalb verhält sich der Souverain zum Unterthanen wie zehntausend gegen eins, d. h. jedes Glied des Staates hat nur auf den zehntausendsten Theil der souverainen Autorität Anspruch, während es ihr völlig unterworfen ist. Wird der Staat aus hunderttausend Menschen gebildet, so ändert sich in der Stellung der Unterthanen dadurch nichts, und Jeder hat sich fortwährend der ganzen Herrschaft der Gesetze zu fügen, während seine Stimme, die jetzt auf das Hunderttausendstel reducirt ist, auf ihre Abfassung einen zehnmal geringeren Einfluß ausübt. Während so der Unterthan beständig eins bleibt, nimmt das Verhältniß zu Gunsten des Souverains in gleichem Maße mit der Zahl der Bürger zu, woraus folgt, daß sich die Freiheit mit der Vergrößerung des Staates vermindert.

Je weniger der Wille der Einzelnen mit dem allgemeinen Willen, d. h. je weniger die Sitten mit den Gesetzen in Übereinstimmung stehen, desto mehr muß die hemmende Gewalt zunehmen. Je mehr auf der anderen Seite die Inhaber der Staatsgewalt bei der Größe des Staats Versuchungen ausgesetzt sind und Mittel, ihr Amt zu mißbrauchen, besitzen, und eine je größere Gewalt die Regierung zur Zügelung des Volkes in Händen hat, über desto mehr Gewalt muß seinerseits der Souverain verfügen können, um die Regierung in Schranken zu halten.

Aus dieser doppelten Beziehung ergibt sich, daß die stetige Proportion zwischen Souverain, Fürst und Volk durchaus nicht auf einer willkürlichen Idee, sondern auf einer nothwendigen Folge der Natur des Staates beruht. Es ergibt sich ferner daraus, daß, da das eine der äußeren Glieder, nämlich das Volk, einen unveränderlichen Werth hat, sich bei jeder Vergrößerung oder Verringerung des doppelten Verhältnisses auch seinerseits das einfache Verhältniß vergrößert oder verringert, was nicht geschehen kann, ohne daß sich das mittlere Glied eben so oft ändert. Hieraus können wir den Schluß ziehen, daß es nicht etwa eine einzige und unbedingte Regierungsform gibt, sondern daß es vielmehr eben so viele, ihrer Natur nach verschiedene Regierungsformen geben muß, als sich ihrer Größe nach verschiedene Staaten vorfinden.

Wenn die Sitten eines Volkes um so weniger mit seinen Gesetzen in Einklang stehen, je zahlreicher es ist, so bleibt uns zu untersuchen, ob man nicht auch nach einer ziemlich klaren Analogie behaupten kann, daß die Regierung um so schwächer ist, je zahlreicher die Obrigkeiten sind.

Um uns über diesen Grundsatz klar zu werden, müssen wir in der Person jeder Obrigkeit dreierlei wesentlich von einander verschiedene Willensmeinungen unterscheiden: erstens den eigenen Willen des Individuums, der nur auf den besonderen Vortheil desselben ausgeht; zweitens den gemeinsamen Willen der Obrigkeiten, der einzig und allein den Vortheil des Fürsten im Auge hat, ein Wille, den man füglich Corpswille nennen kann, und der in Beziehung auf die Regierung ein allgemeiner und in Beziehung auf den Staat, von dem die Regierung einen Theil bildet, ein besonderer ist; in dritter Stelle der Wille des Volks oder der souveraine Wille, welcher sowol in Bezug auf den Staat, als Ganzes betrachtet, als auch in Bezug auf die Regierung, als Theil des Ganzen betrachtet, ein allgemeiner ist. In einer vollkommenen Gesetzgebung muß der besondere und individuelle Wille völlig zurücktreten, der der Regierung eigene Corpswille ganz untergeordnet sein, und folglich der allgemeine und souveraine Wille den beiden anderen als Richtschnur dienen. Nach der natürlichen Ordnung dagegen wird die Wirksamkeit dieser verschiedenen Willensmeinungen von dem Grade ihrer Concentrirung bedingt. Der allgemeine Wille ist stets der schwächste, der Corpswille nimmt den zweiten Rang ein, und dem besonderen Willen wird der Vorzug vor jedem anderen eingeräumt, dergestalt, daß Jeder zuerst er selbst, dann Obrigkeit und erst zuletzt Bürger ist, ein Stufengang, welcher dem von der socialen Ordnung verlangten diametral entgegengesetzt ist.

Dies vorausgesetzt, wollen wir einmal annehmen, die Regierung ruhe in den Händen eines einzigen Mannes. Dann ist der besondere Wille und der Corpswille vollkommen vereinigt, und dieser besitzt folglich den höchsten Grad von Kraftentfaltung, den er je erlangen kann. Da nun aber von diesem Grade der Gebrauch der Gewalt abhängt, und die absolute Gewalt der Regierung, die doch stets mit der des Volkes zusammenfällt, keinem Wechsel unterworfen ist, so ergibt sich daraus, daß unter allen Regierungen die eines Einzigen am wirksamsten ist.

Verlegen wir dagegen umgekehrt die höchste Autorität in die Regierung, machen wir den Fürsten zum Souverain und die Bürger zu eben so vielen obrigkeitlichen Personen, so wird der Corpswille, der dann vollkommen in dem allgemeinen Willen aufgeht, nicht mehr Wirksamkeit als dieser haben und die Gewalt des besonderen Willens nicht zu schwächen vermögen. Daher wird dann die Regierung, trotzdem sie immer noch mit der gleichen absoluten Gewalt ausgerüstet ist, den geringsten Grad von Wirksamkeit entfalten.

Diese Grundsätze sind unbestreitbar und auch noch andere Betrachtungen dienen zu ihrer Bestätigung. So kann man die Beobachtung machen, daß die obrigkeitlichen Personen in ihrer Körperschaft eine weit größere Thätigkeit entwickeln als die Bürger in der ihrigen, und daß demgemäß der besondere Wille einen weit größeren Einfluß in letzterer ausübt. Denn jede obrigkeitliche Person ist fast regelmäßig mit irgend einer besonderen Funktion der Regierung beauftragt, während kein Bürger für sich mit einer Function der Souverainität betraut ist. Mit der Ausdehnung des Staates nimmt übrigens seine wirkliche Gewalt zu, wenn sie auch nicht nach Verhältniß seiner Ausdehnung wächst. Wenn aber der Staat derselbe bleibt, so wird die Regierung auch durch die Vermehrung der obrigkeitlichen Personen keine größere wirkliche Gewalt erhalten, weil sie die Inhaberin der Staatsgewalt ist, die, wie wir ja voraussetzen, stets gleichmäßig ist. Deshalb nimmt die Wirksamkeit der Regierung in Folge dieser großen Zahl ab, ohne daß sich ihre Gewalt vergrößern kann.

Nachdem wir uns nun davon überzeugt haben, daß die Regierung in dem Maße schwächer wird, in welchem die Zahl der obrigkeitlichen Personen zunimmt, und daß sich die zügelnde Gewalt der Regierung um so mehr erhöhen muß, je mehr die Volkszahl wächst, so werden wir den Schluß ziehen, daß das Verhältniß der obrigkeitlichen Personen zur Regierung das umgekehrte von dem der Unterthanen zum Souverain sein müsse, d. h. daß sich die Regierung, je mehr sich der Staat vergrößert, um so mehr concentriren muß, so daß sich die Zahl der Oberhäupter nach Maßgabe der Volkszunahme vermindert.

Um nun diese Verschiedenheit der Formen unter festen Benennungen genauer zu bestimmen, wollen wir zunächst bemerken, daß der Souverain die Regierung dem ganzen Volke oder doch dem größten Theile desselben dergestalt übertragen kann, daß es mehr mit obrigkeitlicher Macht bekleidete Bürger als einfache Privatleute gibt. Dieser Regierungsform gibt man den Namen Demokratie.

Aber eben so gut kann er die Regierung in die Hände einer kleineren Anzahl legen, so daß es also mehr einfache Bürger als obrigkeitliche Personen gibt; und diese Form führt den Namen Aristokratie.

Endlich kann er die ganze Regierung in den Händen einer einzigen Person concentriren. Diese dritte Form ist die gewöhnlichste und heißt Monarchie oder königliche Regierung.

Wir werden die Wahrnehmung machen, daß alle diese Formen, oder doch wenigstens die beiden ersten, eine größere oder geringere Ausdehnung annehmen können und sogar einen ziemlich weiten Spielraum gestatten. Denn die Demokratie kann das ganze Volk umfassen oder sich bis auf die Hälfte beschränken. Die Aristokratie ihrerseits kann, von der Hälfte des Volkes an, in unbegrenzter Weise immer engere Kreise ziehen und sich auch mit der kleinsten Zahl begnügen. Selbst das Königthum läßt bisweilen eine Theilung zu, sei es zwischen Vater und Sohn, sei es zwischen zwei Brüdern oder auch sonst in einer andern Weise. In Sparta regierten stets zwei Könige, und im römischen Reiche hat man gleichzeitig acht Kaiser sehen können, ohne daß von einer Theilung des Reiches die Rede gewesen wäre. Es gibt einen gewissen Punkt, wo jede Regierungsform in die folgende übergeht. Unter den angeführten drei spezifischen Namen ist die Regierung in Wirklichkeit eben so vieler Formen fähig, als der Staat Bürger zählt.

Ja noch mehr: da sich in gewisser Beziehung jede dieser Regierungen in verschiedene kleinere Unterabtheilungen zerlegen läßt, von denen die eine auf diese und die andere auf jene Weise verwaltet wird, so kann sich aus der Combination dieser drei Formen eine beträchtliche Zahl gemischter Formen bilden, deren jede mit Hilfe all der einfachen Formen wieder vervielfältigt werden kann.

Zu allen Zeiten hat man über die beste Regierungsform viel gestritten, ohne daran zu denken, daß in gewissen Fällen jede die beste und in anderen wieder die schlechteste ist. Wenn nun, wie wir gesehen haben, in den verschiedenen Staaten die Anzahl der obrigkeitlichen Personen Man möge nicht vergessen, daß ich hier nur von den höchsten obrigkeitlichen Personen oder den Häuptern der Nation sprechen will, da die übrigen blos in diesem oder jenem Theile ihre Vertreter sind. im umgekehrten Verhältnisse zu der der Bürger stehen muß, so werden wir unsererseits den Schluß daraus ziehen, daß im Allgemeinen die demokratische Regierung für die kleinen Staaten, die aristokratische für die mittelgroßen, die monarchische für die großen Staaten am geeignetsten ist.

An dem Faden dieser Untersuchungen werden wir zu der Kenntniß gelangen, worin die Pflichten und Rechte der Bürger bestehen, und ob sich die einen von den andern trennen lassen, werden lernen, was Vaterland ist, was eigentlich das Wesen desselben ausmacht, und woran ein Jeder erkennen kann, ob er ein Vaterland hat oder nicht.

Nachdem wir auf diese Weise jede Art der bürgerlichen Gesellschaft an sich betrachtet haben, werden wir sie zur Wahrnehmung ihrer verschiedenen Beziehungen zu einander vergleichen, die Größe und Stärke der Einen mit der Kleinheit und Schwäche der Andern, werden unsere Aufmerksamkeit auf ihre Angriffsweise, auf ihre Sucht, einander zu verletzen, so wie auf ihre gegenseitige Zerstörungswuth richten und uns davon überzeugen, daß sie bei dieser beständigen Wirkung und Gegenwirkung mehr Menschen elend machen und dem Tode entgegenführen, als wenn sie alle ihre ursprüngliche Freiheit bewahrt hätten. Wir werden untersuchen, ob man nicht in der socialen Einrichtung zu viel oder zu wenig gethan hat; ob nicht, während die Genossenschaften unter einander die Unabhängigkeit der Natur bewahren, die den Gesetzen und den Menschen unterworfenen Individuen den Uebeln beider Stände preisgegeben bleiben, ohne sich zugleich deren Vortheile aneignen zu können, und ob es nicht ungleich besser wäre, wenn überhaupt gar keine bürgerliche Gesellschaft in der Welt existirte, als daß es deren mehrere gibt. Ist es nicht gerade dieser gemischte Zustand, welcher an allen beiden Theil hat und eben deshalb keinem von ihnen Sicherheit gewährt, per quem neutrum licet, nec tanquam in bello paratum esse, nec tanquam in pace securum? Senec., de tranqu. animi, cap. 1. Ist es nicht gerade jene partielle und unvollkommene Vereinigung, welche die Tyrannei und den Krieg in ihrem Gefolge hat? Und sind nicht Tyrannei und Krieg die größten Geißeln der Menschheit?

Endlich werden wir noch die Art von Mitteln untersuchen, welche man zur Abhilfe dieser Uebelstände in Bündnissen und Staatsverträgen aufgefunden haben will, welche jeden Staat, trotzdem sie ihm in innern Angelegenheiten freie Hand lassen, nach Außen gegen jeden ungerechten Angriff waffnen. Wir werden untersuchen, wie man ein gutes Bündniß abschließen kann, was im Stande ist, demselben Dauer zu gewähren, und bis zu welchem Punkte man das Recht des Bundesstaates auszudehnen vermag, ohne das Recht der Souverainität zu verletzen.

Der Abbé von Saint-Pierre hatte ein Bündniß aller Staaten Europas vorgeschlagen, um einen ewigen Frieden unter ihnen aufrecht zu erhalten. Wäre ein solches Bundesverhältniß wol ausführbar? Ließe sich, falls es bereits in das Leben gerufen wäre, wol annehmen, daß es Bestand haben könnte? Seitdem ich dieses niedergeschrieben habe, sind die Gründe dafür in dem Auszuge jenes Planes ausführlich erörtert worden; die Gründe dagegen aber, wenigstens diejenigen, welche mir stichhaltig zu sein schienen, werden sich in der Sammlung meiner Schriften und zwar im Anhange jenes Auszuges finden. Diese Untersuchungen führen uns unmittelbar auf alle Fragen des gemeinen Rechts, welche dazu beitragen können, über die des Staatsrechtes Licht zu verbreiten.

Endlich werden wir die wahren Grundsätze des Kriegsrechtes aufstellen und uns darüber klar zu werden suchen, weshalb Grotius und Andere nur falsche angegeben haben.

Es würde mich nicht in Erstaunen setzen, wenn mich Emil, dem es nicht an richtigem Urtheile fehlt, inmitten dieser Untersuchungen unterbrechen und sagen würde: »Man sollte meinen, wir errichteten unser Gebäude von Holz und nicht von Menschen, so genau richten wir jedes Stück nach der Schnur!« – »Wol wahr, mein Freund, indeß bedenke, daß sich das Recht nicht in die Leidenschaften der Menschen fügt, und daß es uns darum zu thun war, zunächst die wahren Grundsätze des Staatsrechtes aufzustellen. Nachdem jetzt der Grund gelegt ist, wollen wir prüfen, was die Menschen auf demselben aufgeführt haben, und du wirst schöne Dinge zu sehen bekommen.«

Nun lasse ich ihn den Telemach lesen und denselben auf seiner Reise im Geiste begleiten. Wir suchen das glückliche Salentum und den guten Idomeneus auf, welcher in seinem Unglück die Quelle der Weisheit fand. Unsern Weg verfolgend, treffen wir mit vielen Protesilaus, aber mit keinem Philokles zusammen. Adrast, der König der Daunier, ließe sich auch wol noch entdecken. Ich überlasse es jedoch den Lesern, sich unsere Reise selber auszumalen, oder sie mit einem Telemach an der Hand selbst zu machen. Ich habe nicht Lust, Veranlassung zu verletzenden Auslegungen zu geben, von welchen sich der Verfasser selbst fern hält oder die er wenigstens gegen seinen Willen macht.

Da Emil übrigens kein König ist und ich eben so wenig ein Gott bin, so fühlen wir uns nicht beunruhigt darüber, daß wir mit Telemach und Mentor in dem Guten, welches sie den Menschen erwiesen, nicht wetteifern können. Niemand versteht besser als wir, in der ihm angewiesenen Stellung zu verharren, Niemand hegt weniger Verlangen, aus ihr herauszutreten. Wir wissen, daß Allen dieselbe Aufgabe gestellt ist, wissen, daß Jeder, der das Gute von ganzem Herzen liebt und es nach bestem Vermögen thut, sie erfüllt. Wir wissen, daß Telemach und Mentor Gebilde der Phantasie sind. Emil reist nicht wie ein Müßiggänger und thut mehr Gutes als wenn er ein Fürst wäre. Selbst in der Stellung von Königen könnten wir nicht wohlthätiger sein. Wenn wir Könige und wohlthätig wären, würden wir für eine einzige scheinbar gute Handlung, die wir zu thun glaubten, unwissentlich tausend wirkliche Schlechtigkeiten ausführen. Wären wir Könige und Weise, so würde das erste Gute, das wir uns selbst und Anderen erweisen könnten, darin bestehen, die Krone freiwillig niederzulegen und wieder das zu werden, was wir jetzt sind.

Ich habe die Gründe angegeben, aus welchen das Reisen im Allgemeinen so unfruchtbar bleibt. Was es jedoch für die Jugend noch unfruchtbarer macht, ist die Art und Weise, in der man sie ihre Reisen zur Ausführung bringen läßt. Die Erzieher, welche sich mehr ihr eigenes Vergnügen als die Belehrung ihres Zöglings angelegen sein lassen, führen ihn rastlos von Stadt zu Stadt, von Palast zu Palast, von Gesellschaft zu Gesellschaft, oder lassen ihn, wenn sie dem Stande der Gelehrten und Schriftsteller angehören, seine Zeit damit hinbringen, Bibliotheken zu durchlaufen, Alterthumsforscher zu besuchen, alte Denkmäler auszugraben und alte Inschriften abzuschreiben. In jedem Lande beschäftigen sie sich mit einem andern Jahrhunderte, was eben so viel sagen will, als beschäftigten sie sich mit einem andern Lande. Die Folge davon ist, daß sie, nachdem sie Europa mit großen Kosten durchstreift haben und dabei entweder eine Beute des Leichtsinns oder der Langenweile geworden sind, zurückkehren, ohne etwas gesehen zu haben, was ihr Interesse hätte in Anspruch nehmen können, oder etwas gelernt zu haben, was ihnen nützlich gewesen wäre.

Alle Hauptstädte gleichen einander. In ihnen sind alle Völker vertreten und herrschen alle Sitten. Sie bilden nicht den Schauplatz für das Studium der Völker. Paris und London sind in meinen Augen die nämliche Stadt. Ihre Einwohner haben wol einige verschiedene Vorurtheile, allein die Einen sind von nicht weniger als die Anderen erfüllt, und alle ihre praktischen Grundsätze sind dieselben. Man weiß, welche Menschenclassen sich an den Höfen versammeln müssen. Man weiß, welche Sitten eine zu dichte Menschenmasse und die Ungleichheit des Vermögens herbeiführen muß. Sobald man mir von einer Stadt spricht, die zweimalhunderttausend Seelen zählt, so weiß ich im Voraus, wie man dort lebt. Was mir sonst die einzelnen Orte Besonderes darbieten könnten, ist wahrlich keine Besuchsreise werth.

Den Geist und die Sitten eines Volkes muß man in den entlegenen Provinzen studiren, in denen Verkehr und Handel weniger entwickelt sind, die von Fremden seltener besucht werden, deren Bewohner seltener ihren Wohnsitz ändern und in Bezug auf ihre Vermögensverhältnisse und gesellschaftlichen Zustände etwaigen Wechselfällen weniger unterworfen sind. Seht euch die Hauptstadt auf der Durchreise an, stellet aber eure Beobachtungen erst in größerer Entfernung von ihr an. Die Franzosen sind nicht in Paris, sondern in der Touraine zu finden; die Engländer sind mehr Engländer in Mercia als in London, und die Spanier mehr Spanier in Galizien als in Madrid. Nur in solchen entlegenen Landestheilen tritt der Charakter eines Volkes hervor und zeigt es sich in seiner Eigenart. In ihnen machen sich die guten wie die schlechten Wirkungen der Regierung am besten fühlbar, in derselben Weise wie sich am Ende eines größeren Radius der Bogen genauer messen laßt.

Die unvermeidlichen Beziehungen zwischen den Sitten und der Regierung sind in dem bekannten Buche »der Geist der Gesetze« so klar dargelegt worden, daß man nichts Besseres thun kann, als diese Beziehungen nach Anleitung jenes Werkes zu studiren. Im Allgemeinen kann man sich über die relative Güte der Regierungen nach zwei leicht erkennbaren und einfachen Anzeichen ein Urtheil bilden. Das eine ist die Bevölkerung. In jedem Volke, in welchem dieselbe abnimmt, geht der Staat seinem Untergange entgegen, während das Land, dessen Bevölkerung im stetigen Wachsthum begriffen ist, unfehlbar, und wäre es auch sonst das allerärmste, unter der besten Regierung steht. Ich kenne nur eine einzige Ausnahme von der Regel: nämlich China.

Dies gilt freilich nur für den Fall, daß diese Bevölkerung eine natürliche Folge der Regierung und der Sitten ist. Denn wäre sie das Ergebniß einer durchgeführten Colonisation oder anderer zufälliger und vorübergehender Mittel, so würde gerade in den Heilmitteln der Beweis für das Vorhandensein des Uebels liegen. Wenn Augustus Gesetze gegen die Ehelosigkeit erließ, so bekundeten diese Gesetze schon den Verfall des römischen Reiches. Die Güte der Regierung muß für die Bürger der Antrieb zur Verehelichung sein, und nicht der Zwang der Gesetze. Nicht auf das muß die Untersuchung gerichtet sein, was die Gewalt zu Wege zu bringen vermag, denn ein Gesetz, welches die bestehenden Verhältnisse bekämpft, läßt sich umgehen und wird schließlich vergeblich, sondern auf das, was sich unter dem Einfluß der Sitten und dem natürlichen Antriebe der Regierung zu entwickeln im Stande ist, denn diese Mittel allein haben eine bleibende Wirkung. Es war die Politik des guten Abbé von Saint-Pierre, für jedes besondere Uebel beständig irgend ein kleines Heilmittel ausfindig zu machen, anstatt bis zur ihrer gemeinsamen Quelle zurückzugehen und zu sehen, ob es nicht möglich sei, sie alle auf einmal zu heilen. Es kann nicht die Aufgabe sein, jedes Geschwür, das sich am Körper des Kranken zeigt, für sich allein zu behandeln, sondern die Blutmasse, welche sie alle erzeugt, zu reinigen. In England soll man zur Hebung der Landwirtschaft Preise aussetzen. Mehr bedarf es nicht, um mir den Beweis zu liefern, daß sich England nicht mehr lange durch dieselbe auszeichnen wird.

Das zweite Anzeichen der relativen Güte der Regierung und der Gesetze bietet gleichfalls die Bevölkerung dar, wenn auch auf andere Weise, nämlich durch ihre Vertheilung, nicht durch ihre Menge. Zwei der Größe und der Einwohnerzahl nach gleiche Staaten können an Macht trotzdem sehr ungleich sein, und der mächtigste von beiden ist immer derjenige, dessen Einwohner am gleichmäßigsten über das ganze Gebiet vertheilt sind. Derjenige, welcher keine so großen Städte hat und folglich weniger Glanz verbreitet, wird regelmäßig den andern im Kampfe besiegen. Gerade die großen Städte sind die Ursache der Erschöpfung und Schwäche eines Staates. Der Reichthum, welchen sie hervorbringen, ist nur scheinbar und trügerisch, zwar viel Geld, aber wenig wirkliches Vermögen. Man behauptet, daß die Stadt Paris für den König von Frankreich den Werth einer ganzen Provinz habe, ich dagegen bin überzeugt, daß sie ihm mehrere kostet, daß sie sich in mehr als einer Beziehung von den Provinzen muß ernähren lassen, und daß der größte Theil ihrer Einkünfte in diese Stadt strömt und in ihr verbleibt, ohne je zum Volke oder zum Könige zurückzukehren. Es ist unbegreiflich, daß in diesem Jahrhundert, in welchem die Rechenkunst in so hoher Blüte steht, Niemand einzusehen vermag, daß Frankreich nach Vernichtung von Paris viel an Macht gewinnen würde. Eine schlechte Vertheilung der Bevölkerung gewährt dem Staate nicht nur keinen Vortheil, sondern ist ihm sogar nachteiliger als die Entvölkerung, in so fern die Entvölkerung als Resultat nur Null gibt, während durch eine schlecht verstandene Anhäufung ein negatives Product hervorgebracht wird. Wenn ich Zeuge bin, wie ein Franzose und ein Engländer, voller Stolz auf die Größe ihrer Hauptstädte, darüber streiten, ob Paris oder London mehr Einwohner zähle, so ist es für mich dasselbe, als ob sie darüber stritten, welches von beiden Völkern die Ehre habe, am schlechtesten regiert zu werden.


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