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Habt ihr schon Kleopatra oder Cassandra oder andere Bücher dieser Gattung gelesen? Der Verfasser sucht sich irgend eine bekannte Begebenheit aus, paßt sie seinem Zwecke an, schmückt sie mit Einzelheiten eigener Erfindung aus, führt in dieselbe Persönlichkeiten ein, die nie existirt haben, fügt einige Schilderungen hinzu, die nur Ergüsse seiner lebhaften Einbildungskraft sind, und häuft so Erdichtung auf Erdichtung, um die Lectüre seines Werkes angenehm zu machen. Ich nehme zwischen dergleichen Romanen und euren Geschichtswerken wenig Unterschied wahr; höchstens könnte als ein solcher der Umstand gelten, daß der Romanschreiber mehr seiner eigenen Einbildungskraft die Zügel schießen läßt, während sich der Geschichtsschreiber mehr durch die Phantasie Anderer leiten läßt. Dem möchte ich übrigens, wenn man will, noch die Bemerkung hinzufügen, daß der Erstere einen moralischen Zweck verfolgt, mag derselbe edel oder unedel sein, wonach der Letztere wenig fragt.

Man wird mir den Einwurf machen, daß weniger die geschichtliche Treue als vielmehr die Wahrheit der Sitten- und Charakterschilderungen von Wichtigkeit sei; wenn sich nur die Darstellung des menschlichen Herzens als richtig erweise, so komme wenig darauf an, ob auch die Erzählung der Begebenheiten in allen Punkten treu sei; denn, fügt man hinzu, was hat das bei Begebenheiten zu sagen, die sich bereits vor zweitausend Jahren ereignet haben? Man hat Recht, wenn die Gemälde nach der Natur gezeichnet sind; wenn jedoch das Modell zu den meisten nur in der Phantasie des Geschichtsschreibers liegt, heißt es dann nicht in denselben Uebelstand zurückfallen, den man vermeiden wollte, und der Autorität des Schriftstellers das einräumen, was man sich der des Lehrers zu entziehen bestrebt? Soll einmal mein Zögling nur Phantasiegemälde zu sehen bekommen, so will ich lieber, daß sie ihm von mir als von einem Anderen gezeichnet werden; wenigstens werden sie dann mit seinem sonstigen Wissen besser in Einklang stehen.

Die schädlichsten Geschichtsschreiber für einen jungen Mann sind diejenigen, welche stets ihr eigenes Urtheil hinzufügen. Thatsachen, nichts als Thatsachen! Das Urtheil bleibe dem Leser selbst überlassen; dadurch eignet er sich Menschenkenntniß an. Läßt er sich unaufhörlich durch das Urtheil des Verfassers leiten, so sieht er nur durch das Auge eines Anderen, und wenn ihm dies Auge fehlt, so sieht er gar nichts mehr.

Die Geschichte unserer Zeit lasse ich ganz bei Seite, nicht allein um deswillen, weil sie heutigen Tages keinen ausgeprägten Charakter mehr hat und die Menschen sich alle gleichen, sondern auch weil unsere Geschichtsschreiber, einzig und allein darauf bedacht zu glänzen, ihr Augenmerk nur darauf richten, bei ihren Charakteristiken die Farben so stark wie möglich aufzutragen und gerade dadurch die Darstellung im hohen Grade beeinträchtigen. Dies kann man recht augenscheinlich bei Davila, Guicciardin, Strada, Salis, Machiavel und hier und da sogar bei de Thou wahrnehmen. Bertot ist fast der Einzige, welcher zu malen verstand, ohne Portraits zu liefern. Im Allgemeinen geben die Alten weniger scharfe Charakteristiken, und ihre Urtheile zeichnen sich weniger durch Witz und Geist als durch gesunde Vernunft aus. Trotzdem muß man auch unter ihnen eine sorgfältige Auswahl treffen und Anfangs nicht die scharfsinnigsten, sondern die einfachsten zur Lectüre bestimmen. Ich möchte einem jungen Menschen weder den Polybius noch den Sallust in die Hand geben; Tacitus ist ein Buch für Greise, Jünglingen gebricht es an Verständniß für denselben. Bevor man die Tiefen des Menschenherzens zu erforschen vermag, muß man lernen, in den menschlichen Handlungen die ersten Züge desselben aufzufinden; bevor man in den Grundsätzen zu lesen versteht, muß man in den Thaten zu lesen wissen. Zur philosophischen Behandlung der Grundsätze gehört Erfahrung. Die Jugend darf nichts generalisiren; ihr ganzer Unterricht muß aus einzelnen Vorschriften bestehen.

Thukydides halte ich für das ächte Muster eines Geschichtsschreibers. Er berichtet einfach die Thatsachen, ohne sein eigenes Urtheil über dieselben hinzuzufügen, aber er übergeht keinen Umstand, der dazu beitragen kann, daß wir uns ein eigenes Urtheil zu bilden vermögen. Alles, was er erzählt, geht unmittelbar unter den Augen des Lesers vor sich; statt sich vermittelnd zwischen die Begebenheiten und den Leser zu stellen, tritt seine Person völlig zurück; man glaubt nicht zu lesen, man glaubt zu sehen. Leider spricht er nur immer vom Kriege, und man begegnet in seinen Erzählungen fast nur Dingen, denen wir nur sehr wenige Lehren entnehmen können, nämlich Kriegsgeschichten. Der Rückzug der Zehntausend und die Commentarien des Cäsar zeichnen sich fast durch eine gleich maßvolle Darstellung, aber auch durch denselben Fehler aus. Der gute Herodot, der wenig Charakteristiken und Sentenzen bringt, aber fließend und naiv erzählt und eine Menge der interessantesten und anziehendsten Anekdoten enthält, würde vielleicht der beste Historiker sein, wenn eben diese Anekdoten nicht oft in wahrhaft kindische Einfalt ausarteten, die eher dazu angethan ist, den Geschmack der Jugend zu verderben als zu bilden. Zu seiner Lectüre muß man schon einen hohen Grad von Urtheilskraft besitzen. Ich will mich hier bei Titus Livius nicht aufhalten, da ich später auf ihn zurückkommen werde; aber er ist Politiker und Redner, kurz, er ist Alles, was für dieses Alter nicht paßt.

Die Geschichte ist überhaupt in so fern mangelhaft, als sie nur sinnliche und sichtlich hervortretende Thatsachen, die man durch Namen, Oerter und Jahreszahlen leicht zu behalten vermag, dem Gedächtniß überliefert, während die sich langsam entwickelnden und nur sehr allmählich eine Wirkung hervorrufenden Ursachen dieser Thatsachen, welche sich nicht auf gleiche Weise bestimmen lassen, immer unbekannt bleiben. Oft glaubt man in einer gewonnenen oder verlorenen Schlacht die Ursache einer Revolution zu finden, welche selbst schon vor dieser Schlacht unvermeidlich geworden war. Der Krieg führt in der Regel nur solche Ereignisse herbei, welche durch moralische Ursachen schon längst vorbereitet waren, durch Ursachen, die die Geschichtsforscher freilich selten aufzufinden vermögen.

Der philosophische Geist hat zwar das Nachdenken mehrerer Schriftsteller dieses Jahrhunderts nach dieser Richtung gelenkt, indeß bezweifle ich, daß die Wahrheit von ihrer Arbeit großen Vortheil habe. Sie sind Alle von der Wuth befallen, ein besonderes System aufzustellen; Keiner bemüht sich, die Dinge so anzuschauen, wie sie wirklich sind, sondern wie sie in sein System hineinpassen.

Zu allen diesen Mängeln tritt noch der Umstand hinzu, daß uns die Geschichte weit mehr mit den Handlungen als mit den Menschen bekannt macht, weil sie dieselben nur in gewissen hervorragenden Momenten, gleichsam in ihren Paradekleidern, fixirt. Sie führt uns nur den sich in der Oeffentlichkeit bewegenden Menschen vor, der sich darauf eingerichtet hat, gesehen zu werden. Sie begleitet ihn nicht in sein Haus, in sein Arbeitszimmer, in seine Familie, in den Kreis seiner Freunde; sie malt ihn uns nur, wenn er seine öffentliche Rolle spielt; ihr Bild zeigt uns mehr sein Kleid als die Person.

Das Studium des menschlichen Herzens würde ich am liebsten mit der Lectüre einzelner Lebensbeschreibungen beginnen; denn hier versucht sich der Mensch vergeblich zu verbergen, der Geschichtsschreiber folgt ihm überall hin, er läßt ihm keinen Augenblick Ruhe, läßt ihm keinen Schlupfwinkel übrig, in welchem er dem forschenden Blicke des Beobachters zu entgehen vermöchte; gerade wenn er sich einbildet, sich am besten verborgen zu haben, ist Jener am besten im Stande, ihn uns so zu zeichnen, daß wir ihn durchschauen können. »Die Verfasser von Biographien,« sagt Montaigne, »gewähren mir den größten Genuß, da sie ihr Augenmerk mehr auf die Entschließungen, als auf die Ereignisse richten, sich mehr mit den inneren Antrieben, als mit den äußeren Vorgängen beschäftigen. Deshalb ist auch Plutarch in jeder Beziehung mein Mann.« Buch II, Kapitel I

Wahr ist es, daß der Charakter einer größeren Menschenzahl oder ganzer Völker von dem eines einzelnen Menschen sehr verschieden ist und daß wir uns nur eine sehr unvollkommene Kenntniß des menschlichen Herzens verschaffen würden, wenn wir nicht auch die Schläge desselben in einer größeren Volksmasse untersuchen wollten; aber es ist auch nicht weniger wahr, daß man, um sich ein richtiges Urtheil über die Menschen zu bilden, mit dem Studium des einzelnen Menschen den Anfang machen muß, und daß derjenige, welcher mit den Neigungen eines jeden Einzelnen vertraut wäre, auch im Stande sein würde, ihre Gesammtwirkung in dem Volkskörper vorauszusehen.

Aus den oben bereits angegebenen Gründen muß ich hier noch einmal auf die Alten zurückkommen. Aber mich veranlaßt dazu auch noch ein anderer Beweggrund. Da aus unserer modernen Darstellungsweise alle aus dem häuslichem Leben gegriffene und geringfügige, dafür aber wahre und charakteristische Züge verbannt sind, so werden die Menschen von unseren Schriftstellern in ihrem Privatleben eben so herausgeputzt, wie auf dem Schauplatze der Welt. Der äußere Anstand, der nicht nur für die Handlungen, sondern auch für die Schriften als Richtschnur aufgestellt wird, gestattet nicht, öffentlich mehr auszusprechen, als er öffentlich zu thun gestattet, und da man also die Menschen nicht anders als in ihrem öffentlichen Auftreten darstellen kann, so lernt man sie aus unseren Büchern eben so wenig kennen, als in unseren Theatern. Vergeblich wird man deshalb das Leben der Könige beschreiben und wieder beschreiben, wir werden trotzdem keinen neuen Sueton bekommen. Ein einziger unter unsern Historikern, welcher den Tacitus in großen Zügen nachgeahmt hat, nämlich Duclos, Verfasser der Biographie Ludwigs XI., hat sich auch Sueton nachzuahmen und bisweilen in kleineren Zügen Comines zu copiren bemüht. Aber gerade das, was den Werth seines Werkes wesentlich erhöht, hat ihm die Ungunst unserer heutigen Kritik zugezogen.

Plutarch zeichnet sich gerade durch Anführung solcher Einzelheiten aus, die wir gar nicht mehr zu erwähnen wagen. Er entwickelt eine unnachahmliche Anmuth in der Schilderung großer Männer in kleinen Dingen, und er ist in der Wahl seiner Züge so glücklich, daß oft ein Wort, ein Lächeln, eine Geberde zur Charakterisirung seines Helden genügt. Mit einem Scherzworte ermuthigt Hannibal sein von panischem Schrecken ergriffenes Heer wieder, daß es ihm unter Lachen in die Schlacht folgt, die Italien in seine Hände gibt. Wenn uns Agesilaus auf einem Steckenpferde reitend vorgestellt wird, fühlen wir uns erst recht zu diesem Besieger des großen Königs hingezogen. Als Cäsar ein ärmliches Dorf passirt und mit seinen Freunden plaudert, verräth er uns, ohne es zu ahnen, den in ihm wohnenden Schelm, der ihn zu dem Geständnisse trieb, daß er sich kein höheres Ziel gestellt habe, als sich zu einer gleichen Stellung emporzuschwingen, wie sie Pompejus einnehme. Alexander trinkt, ohne ein einziges Wort zu sagen, eine Arznei aus; dies ist der schönste Augenblick seines Lebens. Aristides schreibt seinen eigenen Namen auf einen Scherben und rechtfertigt dadurch seinen Beinamen. Philopömen beschäftigt sich, nachdem er seinen Mantel abgelegt hat, in der Küche seines Gastfreundes mit Holzspalten. In solcher Darstellung spricht sich die wahre Kunst zu malen aus. Die Physiognomie tritt nicht in großen Zügen, noch der Charakter in großen Thaten hervor; gerade in Kleinigkeiten enthüllt sich das natürliche Wesen. Die in der Öffentlichkeit vor sich gehenden Handlungen erheben sich entweder nicht über das Gewöhnliche oder sind zu sorgfältig vorbereitet, aber die schriftstellerische Würde gestattet es leider unsern Historikern heutigen Tages, fast ausschließlich nur bei ihrer Schilderung zu verweilen.

Zu den größten Männern des letzten Jahrhunderts gehört unstreitig der Vicomte von Turenne. Man hat in der That den Muth gehabt, seine Biographie durch solche anekdotenartige Züge interessant zu machen, die ihn uns nicht nur kennen lehren, sondern uns auch Zuneigung zu ihm einflößen. Aber wie viele derselben, die uns sein Inneres noch mehr erschlossen und unsere Liebe zu ihm noch gesteigert hätten, hat man sich zu unterdrücken genöthigt gesehen! Ich will hier nur einen derselben mittheilen, den ich einer zuverlässigen Quelle verdanke, und den Plutarch gewiß nicht übergangen hätte, vor dessen Erzählung sich aber Ramsai, wenn er ihm zu Ohren gekommen wäre, sicherlich gehütet haben würde.

An einem drückend heißen Sommertage sah der Vicomte von Turenne, in einer kurzen weißen Weste und einer Mütze auf dem Kopfe, aus einem Fenster seines Vorzimmers. Plötzlich tritt einer seiner Diener herein und hält ihn, indem er sich durch die ähnliche Kleidung täuschen läßt, für einen Küchengehilfen, mit dem er eng befreundet war. Er schleicht sich hinterrücks an ihn heran und versetzt ihm mit einer durchaus nicht leichten Hand einen wuchtigen Schlag auf das Gesäß. Sofort wendet sich der Geschlagene um und entsetzt und zitternd schaut der Diener seinem Herrn ins Gesicht. Ganz außer sich wirft er sich ihm zu Füßen. »Gnädiger Herr, ich glaubte, es wäre Georg!« – »Und wenn es auch Georg gewesen wäre,« versetzte Turenne, während er sich den Hintern rieb, »so hättest du doch nicht so derb zuschlagen sollen.«

Dergleichen wagt ihr armen bedauernswerthen Menschen also nicht zu berichten! Nun so verläugnet denn für immer die Natur und bleibt allzeit herzlos! Laßt eure eisernen Herzen in eurem erbärmlichen Anstandsgefühl noch mehr verhärten, macht euch durch eure angenommene Würde erst recht verächtlich! Du aber, lieber Jüngling, der du diesen Zug liesest, und dich von der Seelengüte, welche Turenne selbst in der ersten Aufregung an den Tag legt, ergriffen fühlst, mache dich auch mit den Schwächen dieses großen Mannes bekannt, sobald es sich um seine Geburt und seinen Namen handelte. Erwäge, daß dies der nämliche Turenne ist, der seinen Stolz darin setzte, seinem Neffen überall den Vortritt zu lassen, damit man gar nicht übersehe, daß dies Kind das Haupt eines regierenden Hauses sei. Vergleiche diese Widersprüche, liebe die Natur, verachte die öffentliche Meinung und lerne den Menschen kennen.

Nur Wenige sind im Stande, die Wirkungen zu begreifen, welche eine in dieser Weise geleitete Lectüre auf das noch ganz unerfahrene Gemüth eines jungen Mannes auszuüben vermag. Von Kindheit an zur Lectüre aushalten und dadurch förmlich abgestumpft, an ein gedankenloses Lesen gewöhnt, berührt uns Alles, was wir lesen, um so weniger, als wir von denselben Leidenschaften und Vorurtheilen, von denen uns die Geschichte und die Biographien großer Männer berichten, beseelt sind. Weil wir selbst das Natürliche abgestreift haben und alle Andere nach uns beurtheilen, erscheint uns auch Alles, was Jene thun, natürlich. Man denke sich dagegen einen jungen Mann, der nach meinen Grundsätzen erzogen ist; man stelle sich meinen Emil vor, bei dessen Erziehung achtzehn Jahre lang alle mögliche Sorge nur darauf verwandt wurde, ihm ein unbestechliches Urtheil und ein gesundes Herz zu bewahren; man stelle sich ihn vor, wie er beim Aufziehen des Vorhanges zum ersten Male seine Blicke auf die Weltbühne wirft, oder vielmehr, wie er vom Hintergrunde des Theaters aus Zeuge ist, wie die Rolleninhaber ihre zum Stücke gehörenden Kleider an- und ablegen, und die Seile und Winden zählt, deren plumpes Blendwerk die Augen der Zuschauer täuscht. Bald werden an Stelle des ersten Erstaunens Aufwallungen der Scham und der Verachtung seines Geschlechtes treten. Tiefster Unwille wird sich seiner über die Beobachtung bemeistern, daß sich das ganze menschliche Geschlecht, sich in völliger Täuschung über sich selbst befindend, zu solchen Kinderspielen erniedrigen kann. Aufrichtige Betrübniß wird ihn befallen, wenn er wahrnehmen muß, wie sich seine Brüder um eitler Träume willen gegenseitig zerfleischen und sich in Bestien verwandeln, weil sie nicht verstehen, sich mit ihrer Menschenwürde zu begnügen.

Fehlt es dem Zöglinge nicht an natürlichen Anlagen, weiß der Lehrer die Lectüre mit einer gewissen Klugheit auszuwählen und versteht er ihm eine Anleitung zu den sich daran knüpfenden Betrachtungen zu geben, so wird diese Uebung für ihn sicherlich ein Cursus praktischer Philosophie werden, der jedenfalls besser und verständlicher ist, als alle die leeren Speculationen, durch welche man den Geist der jungen Leute in unseren Schulen verwirrt. Nachdem Cyneas den romanhaften Projecten des Pyrrhus aufmerksamen Ohres gefolgt ist, fragt er ihn, welches wirkliche Gut, dessen er nicht schon gegenwärtig ohne große Anstrengung genießen könne, er sich denn durch die Eroberung der Welt zu verschaffen hoffe. Wir erblicken darin einen glücklichen Gedanken, den man sich gefallen läßt. Mein Emil wird indeß darin eine sehr weise Reflexion finden, die auch er sofort gemacht hätte, und die sich niemals in seinem Geiste verwischen wird, weil sie darin keinem damit in Gegensatz stehenden Vorurtheile begegnet, welches ihren Eindruck zu verhindern vermöchte. Wenn er ferner bei der Lectüre der Biographie dieses Wahnsinnigen erfahren wird, daß alle diese großartigen Entwürfe doch kein anderes Resultat herbeiführten, als daß er den Tod durch die Hand eines Weibes erlitt, wird er dann wol noch diesem vermeintlichen Heldenmuthe seine Bewunderung zollen? Wird er nicht gerade umgekehrt in all den Heldenthaten dieses so großen Heerführers, in all den Intriguen dieses so großen Politikers nur Schritte erkennen, jenen unglückseligen Dachziegel aufzusuchen, der dazu bestimmt war, seinem Leben und seinen hoch hinausstrebenden Plänen durch einen ruhmlosen Tod ein Ende zu machen?

Allerdings sind nicht alle Eroberer getödtet worden; nicht alle Usurpatoren haben bei ihren Unternehmungen Schiffbruch gelitten; Manchen, die sich von den gängen und gäben Vorurtheilen haben anstecken lassen, erscheinen sie sogar glücklich; wer dagegen, vom äußeren Scheine ungeblendet, das Glück der Menschen nach ihrem Herzenszustande beurtheilt, wird auch durch ihren scheinbaren Erfolg ihr Elend hindurchleuchten sehen. Es wird sich ihm die Beobachtung aufdrängen, daß sich mit ihrem Glücke auch ihre Wünsche und ihre sie aufreibenden Sorgen erweitern und vergrößern; er wird bemerken, wie sie im übereilten Vorwärtsschreiten außer Athem kommen, ohne je zum Ziele zu gelangen; sie werden in seinen Augen jenen unerfahrenen Reisenden gleichen, die zum ersten Male eine Alpenreise machen und mit jedem Berge die Alpen zu überschreiten glauben, indeß sobald sie den Gipfel erklommen haben, zu ihrer großen Entmuthigung noch weit höhere Berge vor sich erblicken.

Nachdem Augustus seine Mitbürger unterjocht und seine Rivalen vernichtet hatte, regierte er noch vierzig Jahre lang das größte Reich, welches je existirt hat. Konnte indeß diese unermeßliche Macht es verhindern, daß er im Schmerze über den Verlust seiner Legionen unter Varus Führung mit dem Kopfe gegen die Wand rannte und seinen weiten Palast mit seinem Klagegeschrei erfüllte? Hätte er aber auch alle seine Feinde besiegt, welchen Vortheil würden ihm seine eitlen Triumphe gewährt haben, so lange Uebel aller Art stets von Neuem um ihn emporschossen, so lange seine liebsten Freunde Anschläge auf sein Leben machten und ihm die Schande oder der Tod aller seiner Verwandten die bittersten Thränen erpreßten? Der Unglückselige wollte die Welt beherrschen und verstand nicht einmal die Herrschaft in seinem eigenen Hause auszuüben! Und welche Folgen entstanden aus dieser Fahrlässigkeit? Er sah seinen Neffen, seinen Adoptivsohn, seinen Schwiegersohn in der Blüte ihrer Jahre dahinsterben; sein Enkel wurde dazu getrieben, die Wollhaare seines Bettes zu essen, um nur sein elendes Leben noch um einige Stunden zu verlängern. Seine Tochter und seine Enkelin starben, nachdem sie ihn mit ihrer Schande bedeckt hatten, die Eine auf einer wüsten Insel im tiefsten Elend an Hunger, die Andere im Gefängniß durch die Hand eines Henkerknechts. Er selbst endlich, der seine ganze unglückliche Familie allein überlebte, ließ sich durch sein eigenes Weib dazu bestimmen, ein Ungeheuer als seinen Nachfolger einzusetzen. So gestaltete sich das Schicksal dieses Weltherrschers, der um seines Ruhmes und seines Glückes willen so hoch gefeiert wurde. Ist es denkbar, daß es auch nur ein Einziger von denen, die seinen Ruhm und sein Glück bewundern, um einen solchen Preis erkaufen möge?

Ich habe den Ehrgeiz als Beispiel hingestellt. Wer sich indeß mit dem Studium der Geschichte beschäftigt, um sich selbst kennen zu lernen und sich auf Kosten der Todten Weisheit zu erwerben, dem bietet das Spiel aller menschlichen Leidenschaften ähnliche Lehren dar. Die Zeit rückt jetzt heran, wo der junge Mann aus dem Leben des Antonius einen weit näher liegenden Unterricht schöpfen wird als aus dem des Augustus. Emil wird bei diesen ihm völlig unbekannten Gegenständen, die seinen Augen bei diesem Studium entgegentreten, kaum zur Besinnung kommen; aber trotzdem wird er, noch bevor die Leidenschaften in ihm erwachen, sich vor ihren Illusionen zu hüten wissen. Indem er die Einsicht gewinnt, daß dieselben zu allen Zeiten die Menschen verblendet haben, erkennt er darin eine Warnung, sich ihnen nicht hinzugeben und sich nicht ebenfalls von ihnen blenden zu lassen. Regelmäßig ist es das Vorurtheil, welches die Heftigkeit der Leidenschaften in unseren Herzen unterhält. Wer nur das sieht, was wirklich ist, und nur das schätzt, was er genau kennt, wird nicht leicht leidenschaftlich werden. Die Irrthümer in unseren Urtheilen fachen die Glut unserer Begierden an. Diese Lehren sind, wie ich mir recht wohl bewußt bin, für meinen Zögling wenig geeignet; vielleicht kommen sie für sein Bedürfnis zu spät oder sind unzulänglich; indeß bitte ich eingedenk sein zu wollen, daß es auch gar nicht in meiner Absicht lag, sie aus diesem Studium zu gewinnen. Beim Beginn desselben hatte ich mir ein anderes Ziel gestellt, und ist dasselbe nicht völlig erreicht, so wird die Schuld sicherlich am Lehrer liegen.

Erwäget, daß, sobald die Eigenliebe einmal angefacht ist, das relative Ich sich unaufhörlich in das Spiel mischt, und daß der junge Mann niemals Andere beobachtet, ohne auf sich selbst zurückzukommen und sich mit ihnen zu vergleichen. Es handelt sich nun darum, zu erfahren, welchen Rang er sich unter seinen Mitmenschen zuerkennen wird, nachdem er sie geprüft hat. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß man bei der Art und Weise, in welcher man die jungen Leute Geschichte treiben läßt, sie gleichsam in alle die Persönlichkeiten, mit denen man sie bekannt macht, verwandelt, daß man sich Mühe gibt, sie bald Cicero, bald Trajan, bald Alexander sein zu lassen, wodurch man ihnen die Einkehr in sich selbst verleidet und einem Jeden das Bedauern einflößt, daß er nur er selbst ist. Diese Methode mag immerhin, wie ich gar nicht bestreiten will, gewisse Vortheile haben, wenn es aber bei diesen Vergleichen nur ein einziges Mal vorkommen sollte, daß mein Emil ein Anderer als er selbst zu sein wünschte, und wäre dieser Andere auch Sokrates oder Cato, so wäre Alles mißlungen. Wer erst beginnt, sich selbst fremd zu werden, wird sich auch bald ganz vergessen.

Es sind keineswegs die Philosophen, welche die meiste Menschenkenntniß besitzen; im Gegentheile, sie betrachten die Menschen nur durch die Vorurtheile der Philosophie, und ich wüßte keine andere Wissenschaft, die so voller Vorurtheile wäre. Ein Wilder fällt ein weit richtigeres Urtheil über uns als ein Philosoph. Letzterer fühlt seine Fehler, wird mit Unwillen über die unserigen erfüllt und spricht bei sich selbst: »Wir sind Alle schlecht.« Ersterer dagegen betrachtet uns ohne sich zu regen und sagt: »Ihr seid Narren.« Er hat Recht, denn Niemand thut das Schlechte um des Schlechten willen. Ein solcher Wilder ist nun mein Zögling, freilich mit dem Unterschiede, daß Emil, weil er mehr nachgedacht, mehr Ideen verglichen und unsere Fehler aus größerer Nähe angeschaut hat, sich mehr vor sich selbst in Acht nimmt und nur über das ihm Bekannte urtheilt.

Die Schuld, daß wir gegen die Leidenschaften Anderer aufgebracht sind, liegt in unseren eigenen. Unser Interesse flößt uns Haß gegen die Bösen ein; fügten sie uns keinen Schaden zu, so würden wir uns mehr zum Mitleid mit ihnen als zum Hasse gegen sie veranlaßt fühlen. Das Böse, welches schlechte Menschen uns zufügen, läßt uns dasjenige vergessen, was sie sich selber bereiten. Wir würden ihnen ihre Laster leichter verzeihen, wenn wir zu erkennen vermöchten, eine wie hohe Strafe sie für dieselben in ihrem eigenen Herzen finden. Die Schuld nehmen wir wahr, aber die Strafe entzieht sich unseren Blicken; die Vortheile sind nach Außen hin sichtbar, aber die Strafe vollzieht sich im Innern. Wer sich in der Hoffnung wiegt, die Frucht seiner Laster genießen zu können, fühlt sich gerade eben so beängstigt, als wenn er nicht zum Ziele gelangt wäre. Hat sich auch das Object geändert, so ist doch die Unruhe dieselbe geblieben. Mögen die Bösen immerhin mit ihrem Glücke prahlen und ihr Herz verhüllen, ihr Betragen verräth es ihnen zum Trotz, wie es in ihrem Innern aussieht. Aber um es wahrzunehmen, darf man freilich nicht ein gleiches Herz haben.

Die Leidenschaften, die wir mit Anderen theilen, üben einen eigenen Zauber auf uns aus; diejenigen dagegen, die unser Mißfallen erregen, verletzen uns, und in Folge einer aus ihnen entspringenden Inconsequenz tadeln wir an Anderen, was wir doch gern nachahmen möchten. Widerwille und Illusionen sind unvermeidlich, wenn man sich gezwungen sieht, von Anderen das Böse zu dulden, welches man keinen Anstand nehmen würde selbst zu thun, wenn man sich an ihrer Stelle befände. Was gehört also zu einer sorgfältigen Beobachtung der Menschen? Ein großes Interesse, sie kennen zu lernen, eine vollkommene Unparteilichkeit in ihrer Beurtheilung, und ein Herz, das Empfänglichkeit genug besitzt, um alle menschlichen Leidenschaften begreifen zu können, und auch schon die genügende Ruhe erlangt hat, um sich nicht selbst von ihnen hinreißen zu lassen. Gibt es im Leben überhaupt einen Zeitpunkt, der diesem Studium besonders günstig ist, so ist es gerade der, welchen ich für Emil gewählt habe; in einer früheren Periode wären ihm die Menschen fremd gewesen, in einer späteren hätte er ihnen selbst geähnelt. Die öffentliche Meinung, deren Spiel er vor Augen hat, ist noch nicht im Stande gewesen, sich die Herrschaft über ihn anzueignen; die Leidenschaften, deren Wirkung er wahrnimmt, haben sein Herz noch nicht in Aufregung versetzt. Er ist Mensch, er nimmt an seinen Brüdern Antheil, er ist billig denkend, er urtheilt über seines Gleichen. Beurtheilt er sie aber richtig, so wird er sicherlich keine Sehnsucht empfinden, sich an die Stelle irgend eines derselben zu versetzen, denn da sich das Ziel aller Plagen, die sie sich selbst auferlegen, nur auf Vorurtheile gründet, die er nicht theilt, so erblickt er in demselben nur ein eitles Luftgespinnst. Sein Streben ist dagegen immer nur auf Erreichbares gerichtet. Von wem sollte er wol abhängen, da er sich selbst genügt und frei von Vorurtheilen ist? Er hat Arme, erfreut sich der Gesundheit Ich glaube die Gesundheit und die gute Körperconstitution dreist in die Zahl der durch seine Erziehung erworbenen Vortheile oder vielmehr in die Zahl der Naturgaben rechnen zu dürfen, welche ihm seine Erziehung bewahrt hat. weiß Maß zu halten, hat wenig Bedürfnisse und besitzt die Mittel, dieselben zu befriedigen. In der unumschränktesten Freiheit aufgewachsen, vermag er sich kein größeres Uebel vorzustellen, als die Knechtschaft. Er beklagt diese bemitleidenswerthen Könige, welche nichts weiter als die Sklaven derer sind, die ihnen gehorchen; er bedauert die Armen, die sich fälschlich für Weise halten, trotzdem sie unaufhörlich die Kette ihres eitlen Ruhmes hinter sich herschleppen; er bemitleidet diese reichen Thoren, welche die Märtyrer ihrer Prunksucht sind, und diese geckenhaften Lüstlinge, welche, um den Schein zu verbreiten, daß sie Freude und Zerstreuung hätten, ihr ganzes Leben in Langeweile zubringen. Er würde sogar den Feind, der ihm Böses zufügte, bemitleiden, denn in seinen Schlechtigkeiten würde er eben sein Elend erblicken. Er würde sich sagen: «Dadurch, daß es diesem Menschen zum Bedürfnis geworden ist, mir Nachtheil zu bereiten, hat er sein Schicksal von dem meinigen abhängig gemacht.»

Nur noch einen einzigen Schritt und wir haben das Ziel erreicht. Die Eigenliebe ist ein nützliches aber auch gefährliches Werkzeug. Häufig verletzt sie die Hand, die sich ihrer bedient, und selten ruft sie Gutes hervor, ohne daß es Schlimmes in seinem Gefolge hätte. Sobald Emil sich seines Ranges in der menschlichen Gesellschaft bewußt wird und die glücklichen Verhältnisse, in denen er sich befindet, erkennt, so wird die Versuchung an ihn herantreten, seiner Vernunft für die Werke eures Geistes die Ehre zu geben und seine glückliche Lage seinem eigenen Verdienste beizumessen. Er wird sich sagen: »Ich bin weise und die Menschen sind Narren.« Während er sie bedauert, wird er sie zugleich verachten, während er sich beglückwünscht, wird er sich überschätzen, und da er einsieht, daß er glücklicher ist als sie, so wird er sich dieses Glückes auch für würdiger halten. Dieser Fehler ist aber am meisten zu fürchten, weil er am schwierigsten zu vertreiben ist. Verharrte er in diesem Irrthume, so würden ihm alle unsere Bemühungen wenig geholfen haben, und wenn mir die Wahl frei stünde, wüßte ich in der That nicht, ob ich nicht den Illusionen der Vorurtheile den Vorzug vor denen des Stolzes geben sollte.

Wirklich große Männer täuschen sich über ihre Ueberlegenheit nicht; sie sehen sie ein, sind sich ihrer bewußt und sind deshalb nicht weniger anspruchslos. Mit je größeren geistigen Gaben sie ausgestattet sind, desto mehr erkennen sie, wie viel ihnen noch fehlt. Das Gefühl ihres geistigen Übergewichts über uns macht sie weniger eitel, als sie vielmehr der Gedanke an ihre Mängel mit Demuth erfüllt, und in Bezug auf die besonderen Güter, die sie besitzen, sind sie viel zu verständig, als daß sie sich durch eine Gabe, die sie sich nicht selbst verliehen haben, zur Eitelkeit sollten verführen lassen. Ein redlicher Mann kann auf seine Tugend stolz sein, weil sie in ihm allein ihren Ursprung findet; aber worauf hat der Mann von Geist Ursache stolz zu sein? Was hat Racine dabei gethan, daß er nicht Pradon, was Boileau, daß er nicht Cotin ist?

Hierbei kommt jedoch noch eine ganz andere Angelegenheit in Frage. Laßt uns nur immer bei der gewöhnlichen Ordnung der Dinge bleiben. Ich habe mir von vornherein in meinem Zöglinge weder ein außerordentliches Genie noch einen Idioten vorgestellt. Ich habe ihn mir unter den gewöhnlichen Geisteskindern ausgewählt, um den Nachweis zu liefern, welchen Einfluß die Erziehung auf den Menschen auszuüben vermag. Alle seltenen Fälle sind als Ausnahmen von der Regel zu betrachten. Wenn demnach in Folge meiner Sorgfalt Emil seiner Art und Weise zu sein, zu sehen, zu fühlen vor derjenigen anderer Menschen den Vorzug einräumt, so ist er in seinem Rechte; wenn er sich indeß um deswillen für ein Wesen höherer Art und mit reicheren Gaben von der Natur als sie ausgestattet hält, so hat er Unrecht, er täuscht sich und man muß ihn enttäuschen, oder vielmehr dem Irrthume vorbeugen, aus gerechter Furcht, daß man später nicht mehr Zeit haben möchte, ihn auszurotten.

Mit Ausnahme der Eitelkeit gibt es keine Thorheit, von der man einen Menschen, der nicht ein vollkommener Narr ist, nicht zu heilen vermöchte. Was jene anlangt, so läßt sie sich nur durch die Erfahrung bessern, wenn überhaupt irgend etwas sie zu bessern im Stande ist; bei ihrer Entstehung läßt sich jedoch wenigstens ihr Umsichgreifen verhüten. Ergeht euch deshalb nicht erst in langen Declamationen, um dem Jünglinge zu beweisen, daß er Mensch wie alle Andern und denselben Schwachheiten unterworfen ist. Macht es ihm fühlbar, anders wird er es niemals erkennen. Hier befinde ich mich wiederum in dem Falle, wo ich genöthigt bin, eine Ausnahme von meinen Regeln zu machen; es liegt eine genügende Veranlassung vor, meinen Zögling absichtlich allen Zufällen auszusetzen, welche ihm den Beweis zu liefern im Stande sind, daß er nicht weiser ist als wir. Das Abenteuer mit dem Taschenspieler würde sich auf tausenderlei Weise wiederholen lassen; ich würde den Schmeichlern gestatten, ihm gegenüber alle ihre Kunst zu entfalten; ließe er sich durch junge Brauseköpfe zu irgend einem unüberlegten Schritte verleiten, so würde ich ihn der Gefahr nicht entziehen; verlockten ihn Gauner zum Spiele, so würde ich ihn ihnen überlassen, damit sie ihn prellen könnten. Uebrigens wird sich unser Zögling, der sich von so vielfachen Zerstreuungen umgeben sieht und sich bisher noch nie in seinem Leben gelangweilt hat, ja der kaum weiß, wozu das Geld dient, nicht leicht in die Schlinge fallen. Macht aber Eigennutz und Eitelkeit zu den einzigen Triebfedern, die man zur Leitung der Kinder in Anwendung bringt, so werden sich späterhin auch die Buhlerinnen und Gauner, um sie in ihre Gewalt zu bringen, dieser nämlichen beiden Triebfedern bedienen. Wenn ihr die Habgier der Kinder durch Preise und Belohnungen anfachen seht, wenn ihr Zeuge seid, wie man sie bei öffentlichen Schulacten schon in ihrem zehnten Lebensjahre mit Lob überhäuft, so verkündigt euch dieser Anblick schon im Voraus, wie man ihnen im zwanzigsten Jahre im Spielhause ihre Börse und in liederlichen Häusern ihre Gesundheit rauben wird. Man kann stets eine Wette darauf eingehen, daß der gelehrteste Schüler seiner Classe dereinst auch der größte Spieler und größte Wüstling werden wird. Freilich läßt sich mit Mitteln, von denen man in der Kindheit keinen Gebrauch machte, auch im Jünglingsalter nicht in demselben Umfange Mißbrauch treiben. Indeß man muß eingedenk bleiben, daß es bei dergleichen Angelegenheiten mein beständiger Grundsatz ist, überall den schlimmsten Fall anzunehmen. Zunächst bemühe ich mich dem Laster vorzubeugen, und dann setze ich es als vorhanden voraus, um gegen dasselbe einschreiten zu können. Sie dürften ihm Weihrauch streuen, ihn rupfen und ausplündern, und hätten sie ihn ganz ausgezogen und lachten ihn dann noch schließlich aus, so würde ich mich in seiner Gegenwart bei ihnen für die Lehren bedanken, die sie die gute Absicht gehabt hätten ihm zu ertheilen. Nur vor den Schlingen der Buhlerinnen würde ich ihn sorgfältig bewahren. Nur die schonende Rücksicht würde ich ihm gegenüber beobachten, daß ich alle Gefahren, denen ich ihn aussetze, und alle Schande, mit der ich ihn sich bedecken ließe, mit ihm theilen würde. Stillschweigend, ohne Klage, ohne Vorwurf, ohne ihm auch nur ein Wort darüber zu sagen, würde ich Alles ertragen, und ihr könnt euch versichert halten, daß bei dieser sich stets gleich bleibenden Rücksicht Alles, was er mich um seinetwillen leiden sieht, mehr Eindruck auf sein Herz machen wird, als alle seine eigenen Leiden.

Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit auf die falsche Art von Würde jener Erzieher aufmerksam zu machen, welche, um einfältiger Weise die Gelehrten zu spielen, ihre Zöglinge stets herabsetzen und ihre Lust darin suchen, sie beständig als Kinder zu behandeln und in Allem, was sie ihnen zu thun gestatten, den zwischen sich und ihnen bestehenden Unterschied recht auffällig zu machen. Anstatt ihren jugendlichen Muth auf diese Weise niederzubeugen, dürft ihr nichts unterlassen, um ihre Seele zu erheben. Behandelt sie wie eures Gleichen, damit sie es wirklich werden, und wenn sie sich noch nicht zu euch zu erheben vermögen, so laßt euch ohne Scham, ohne Bedenken zu ihnen herab. Vergeßt nicht, daß eure Ehre nicht mehr in euch, sondern in eurem Zöglinge liegt. Theilt seine Fehler, um sie ihm abzugewöhnen; nehmt seine Schande auf euch, um sie vergessen zu machen; ahmet jenem muthigen Römer nach, der, als er sein Heer fliehen sah und nicht im Stande war, es wieder zu sammeln, mit dem Rufe: »Sie fliehen nicht, sie folgen ihrem Führer,« an der Spitze seiner Soldaten selbst zu fliehen begann. Entehrte ihn dies etwa? Weit gefehlt! Er vermehrte gerade dadurch seinen Ruhm, daß er ihn auf diese Weise aufopferte. Die Macht der Pflicht, die Schönheit der Tugend reißen uns wider Willen zum Beifall hin und vernichten unsere unverständigen Vorurtheile. Wenn ich bei Erfüllung der Pflichten, die mir Emils Erziehung auferlegt, thätlich beleidigt würde, so würde ich, weit davon entfernt, mich dafür zu rächen, mich umgekehrt dessen überall rühmen, und ich bezweifle, daß es in der Welt einen Menschen von so niedriger Gesinnung Ich befand mich im Irrthum; ich habe doch einen entdeckt, den Herrn Formey. gäbe, daß er mir fortan nicht noch in höherem Grade seine Achtung zollte.

Das soll aber nicht etwa heißen, daß der Zögling die Einsichten seines Lehrers für eben so beschränkt als seine eigenen halten solle und sich einbilden dürfe, derselbe sei der Verführung eben so leicht zugänglich als er. Eine solche Ansicht kann man sich wol bei einem Kinde gefallen lassen, welches, da es noch nicht zu beobachten und zu vergleichen versteht, einen Jeden auf gleiche Linie mit sich stellt, und nur denen, die sich in der That mit ihm auf gleiche Stufe zu stellen wissen, sein Vertrauen schenkt. Indeß ein junger Mann in Emils Alter und von seinem Verstande ist nicht mehr so thöricht, sich solchen Täuschungen hinzugeben, und es würde nicht gut sein, wenn er in dieselben verfiele. Das Vertrauen, welches er in seinen Erzieher setzen muß, ist von anderer Art; es muß sich auf die Autorität der Vernunft, auf die Ueberlegenheit der Einsichten und auf jene Vorzüge gründen, welche der junge Mann zu erkennen im Stande ist, und deren für ihn sich daraus ergebenden Nutzen er herausfühlt. Eine lange Erfahrung hat ihn von der Liebe seines Führers überzeugt, hat ihm die Gewißheit gegeben, daß dieser Führer ein kluger, aufgeklärter Mann ist, der nicht nur sein Glück will, sondern auch die Mittel kennt, es ihm zu bereiten. Er muß es einsehen, daß es zu seinem eigenen Heile dient, den Rathschlägen desselben zu folgen. Wenn sich nun der Lehrer in demselben Grade wie sein Schüler hintergehen ließe, so würde er dadurch das Recht verlieren, von diesem eine auf Achtung gegründete Willfährigkeit zu verlangen und ihm Lehren zu ertheilen. Noch weniger darf sich aber in dem Zöglinge die Vorstellung festsetzen, als ob ihn der Lehrer absichtlich in Schlingen fallen lasse oder seiner Einfalt wol gar selbst Fallstricke lege. Was läßt sich denn nun aber thun, um diese beiden Uebelstände gleichzeitig zu vermeiden? Das Allerbeste und Natürlichste: einfach und wahr sein wie er selbst; ihn über die Gefahren, denen er sich aussetzt, aufklären, sie ihm deutlich und handgreiflich zum Bewußtsein bringen, aber ohne Aufregung, ohne verdrießliche Vorstellungen, ohne pedantische Uebertreibung und vor Allem, ohne eure Rathschläge in die Form von Befehlen zu kleiden, bis sie zu solchen übergehen müssen und sich der befehlshaberische Ton als eine absolute Nochwendigkeit herausstellt. Besteht er trotzdem hartnäckig auf seinem Willen, wie es wol häufig vorkommen wird, so verschwendet an ihn kein Wort mehr, laßt ihm vollkommene Freiheit, folgt ihm, ahmt ihm nach, und zwar mit allem Frohsinn und aller Offenheit; laßt euch vollkommen gehen und belustigt euch, wenn es möglich ist, eben so wie er. Treten die Folgen zu sichtlich hervor, so seid ihr ja immer da, sie aufzuhalten, und in wie hohem Grade muß nicht der junge Mann, der sich inzwischen von eurer Voraussicht wie von euren gefälligen Bemühungen hat überzeugen können, von jener betroffen und zugleich von diesen gerührt werden! Seine Fehler bilden eben so viele Bänder, die er euch selbst in die Hand gibt, um ihn daran im Nothfalle zurückzuhalten. Die Hauptkunst des Lehrers besteht hierbei nun darin, die Gelegenheiten so herbeizuführen und die Ermahnungen in der Weise zu geben, daß er im Voraus weiß, wann der junge Mann nachgeben und wann er bei seinem Eigensinne beharren werde, damit ihm überall die Erfahrung eine Lehre ertheilen muß, ohne daß ihm der Lehrer doch allzu großen Gefahren Preis gibt.

Macht ihn auf seine Fehler aufmerksam, bevor er in dieselben verfällt; hat er dieselben aber einmal begangen, so enthaltet euch aller Vorwürfe; dadurch würdet ihr nur seine Eigenliebe entzünden und anfachen. Eine Belehrung, die verletzt, gewährt keinen Vortheil. Ich kenne nichts Thörichteres als den Vorwurf: »Ich hatte es dir ja gesagt!« Das beste Mittel das ihm Vorausgesagte wieder in seiner Erinnerung wach zu rufen ist, daß man sich den Anschein gibt, als habe man es vergessen. Im Gegentheile müßt ihr, sobald ihr bemerkt, daß er sich darüber beschämt fühlt, euch nicht Glauben geschenkt zu haben, euch Mühe geben, diese Demüthigung mit freundlichen Worten behutsam zu verwischen. Er wird euch sicherlich seine ganze Liebe zuwenden, wenn er bemerkt, daß ihr euch um seinetwillen vergeßt und daß ihr ihn, anstatt ihn durch euer Uebergewicht vollends zu verdunkeln, sogar tröstet. Fügt ihr aber seinem Verdruß über sein Benehmen noch Vorwürfe hinzu, so wird er seinen Haß auf euch werfen und es sich zum Gesetze machen, ferner nicht mehr auf euch zu hören, als ob er euch dadurch den Beweis liefern wollte, daß er eure Ansicht über die Wichtigkeit eurer Warnungen nicht theile.

Auch die Form, in der ihr ihm euren Trost aussprecht, kann für ihn zu einer nützlichen Belehrung werden, die eine um so größere Wirkung hervorbringen wird, je weniger Mißtrauen er hegt. Sagt ihr zu ihm: »Ich glaube annehmen zu können, daß tausend Andere den gleichen Fehltritt begehen,« so macht ihr ihm einen großen Strich durch seine Rechnung. Unter dem Anscheine, ihn zu bedauern, bessert ihr ihn. Denn für Jemanden, der sich für besser als andere Menschen hält, muß die Aufforderung, in dem Beispiele Anderer Trost zu suchen, eine höchst kränkende Entschuldigung sein. Darin liegt das Zugeständniß, daß er höchstens behaupten könne, sie seien nicht besser als er.


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