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Obgleich ihm bei seinem Eintritte in die Welt die Gebräuche derselben völlig fremd sind, ist er doch deswegen weder schüchtern noch furchtsam. Wenn er sich trotzdem im Hintergrunde hält, so geschieht es durchaus nicht aus Verlegenheit, sondern weil der, welcher gut beobachten will, nicht gesehen werden darf; denn was man von ihm denkt, beunruhigt ihn wenig, und der Gedanke, sich vielleicht dem Gelächter auszusetzen, flößt ihm nicht die geringste Furcht ein. Das ist die Ursache, daß er stets Ruhe und kaltes Blut bewahrt und sich durch falsche Scham nicht beirren läßt. Mag man ihn bemerken oder nicht, so thut er doch Alles, was er vornimmt, stets so gut er kann, und da seine Gedanken beständig gesammelt sind, um Andere richtig beobachten zu können, so eignet er sich ihre Sitten mit einer Leichtigkeit an, welche die Sklaven der Vorurtheile nicht haben können. Man kann behaupten, daß er den feinen Ton gerade deshalb um so leichter annehme, weil er so wenig Werth auf ihn legt.

Täuscht euch gleichwol nicht über seine Haltung und vergleicht sie nicht mit der eurer jungen Herren, die so vortrefflich den Angenehmen zu spielen wissen. Er ist fest, aber nicht voller Selbstgefälligkeit; sein Benehmen ist frei, aber nicht wegwerfend. Ein unverschämtes Wesen ist nur ein Kennzeichen der Sklaverei; mit der Unabhängigkeit paart sich nichts Affectirtes. Noch nie habe ich gesehen, daß ein Mann, in dessen Herz ein edler Stolz wohnte, denselben auch in seiner Haltung verrathen hätte. Diese Sucht ist vielmehr niedrigen und eitlen Seelen eigen, die sich nur dadurch Geltung verschaffen können. Ich habe in einem Buche De l'Esprit, Disc. II, ohap. V. gelesen, daß der berühmte Marcell, als sich ihm eines Tages ein Fremder in seinem Salon vorstellte, denselben gefragt habe, aus welchem Lande er sei.

»Ich bin ein Engländer,« erwiderte der Fremde. »Sie, ein Engländer?« versetzte der Tänzer, »Sie sollten aus dieser Insel stammen, wo die Bürger Antheil an der Staatsverwaltung haben und einen Theil der höchsten Gewalt ausmachen? Als ob es Bürger gäbe, die keine Glieder der Bürgerschaft ( cité) wären und als solche keinen Antheil an der höchsten Gewalt hätten! Aber dadurch, daß die Franzosen es für gut befunden haben, den achtbaren Namen Bürger, welcher ehemals nur den Gliedern der gallischen Städte zukam, zu usurpiren, haben sie den Begriff dieses Wortes so verkehrt, daß sich gar kein Sinn mehr mit demselben verbinden läßt. Ein Mann, welcher unlängst viele Albernheiten gegen die »Neue Heloise« geschrieben, hat seine Unterschrift mit dem Titel »Bürger von Paimboeuf« geziert und dadurch einen köstlichen Scherz mit mir zu machen geglaubt. Nein, mein Herr, diese gesenkte Stirn, dieser furchtsame Blick, dieses unsichere Auftreten lassen mich in Ihnen nur den betitelten Sklaven eines Kurfürsten erkennen.«

Ich weiß nicht, ob dieses Urtheil eine große Kenntniß des wahren Verhältnisses, welches zwischen dem Charakter eines Menschen und seinem Aeußeren stattfindet, bekundet. Ich meinerseits, der ich nicht auf die Ehre Anspruch machen kann, Tanzmeister zu sein, würde das gerade Gegentheil gedacht haben. Ich hätte gesagt: »Dieser Engländer ist kein Hofmann. Nie habe ich vernommen, daß Hofschranzen eine gesenkte Stirn und ein unsicheres Auftreten hätten; ein Mann, der sich einem Tanzmeister gegenüber schüchtern benimmt, braucht deshalb noch nicht im Hause der Gemeinen verlegen aufzutreten.« Sicherlich muß dieser Herr Marcel seine Landsleute für lauter alte Römer halten.

Wenn man liebt, will man geliebt werden. Emil liebt die Menschen; er will ihnen deshalb gefallen. Um so mehr will er den Frauen gefallen; sein Alter, seine Sitten, sein Plan, Alles trägt dazu bei, diesen Wunsch in ihm zu nähren. Ich sage seine Sitten, denn diese haben hierbei einen großen Einfluß. Die Männer, welche sich durch Sittlichkeit auszeichnen, sind die wahren Verehrer der Frauen. Es ist ihnen zwar jene eigentümliche artige Sprache der Galanterie fremd, aber sie treten den Frauen mit einer weit wahreren, zärtlicheren und von Herzen kommenden Freundlichkeit und Aufmerksamkeit entgegen. Unter hunderttausend Wüstlingen, die eine junge Frau umflattern, würde ich einen gesitteten und seine Natur beherrschenden Mann auf der Stelle herauserkennen. Urtheilt nun selbst, wie Emil bei seiner eben erst erwachten Sinnlichkeit und bei so vielen Gründen, derselben nicht nachzugeben, sich benehmen wird. Ich glaube wohl, daß er im Verkehre mit Frauen bisweilen schüchtern und verlegen sein wird, aber sicherlich wird ihnen diese Verlegenheit nicht mißfallen, und selbst diejenigen, welche am wenigsten zur Schelmerei geneigt sind, werden nur zu oft alle Kunst aufbieten, um sich an ihr zu weiden und sie zu erhöhen. Uebrigens wird sich seine zuvorkommende Aufmerksamkeit nach den Umständen merklich ändern. Gegen verheirathete Frauen wird er bescheidener und ehrfurchtsvoller, gegen Jungfrauen lebhafter und zärtlicher sein. Er verliert den Gegenstand seines Suchens nie aus den Augen, und stets beweist er der Jungfrau, welche ihn an sein Ideal erinnert, die größte Aufmerksamkeit.

Niemand wird pünktlicher in der Beobachtung alles dessen sein, was sich auf die Ordnung der Natur und selbst auf die gute gesellschaftliche Ordnung gründet; indeß wird er die erstere beständig der letzteren vorziehen, und wird deshalb einem Privatmanne, der älter ist als er, mit größerer Ehrerbietung nahen, als einer obrigkeitlichen Person, die mit ihm in gleichem Alter steht. Da er nun für gewöhnlich einer der jüngsten Herren in jeder Gesellschaft sein wird, so wird er auch stets zu den Bescheidensten gehören, nicht etwa aus Eitelkeit, um demüthig zu erscheinen, sondern aus einem natürlichen und auf die Vernunft gegründeten Gefühle. Er wird nicht das ungezogene Benehmen eines jungen Gecken nachahmen, der, um die Gesellschaft zu erheitern, lauter spricht als die Weisen und den Aelteren das Wort abschneidet. Er wird für seine Person nicht zu der Antwort berechtigen, die ein alter Edelmann Ludwig XV. auf die Frage gab, ob er dem gegenwärtigen oder dem verflossenen Jahrhunderte den Vorzug gäbe: »Sire, in meiner Jugend habe ich dem Alter Ehrfurcht erwiesen, und jetzt, in meinem Alter, muß ich der Jugend mit Ehrfurcht entgegenkommen.«

Da Emil ein weiches und gefühlvolles Herz hat, sich aber dabei von der hergebrachten Meinung nicht beeinflussen läßt, so wird er, obgleich es ihm Freude macht, Anderen zu gefallen, doch wenig danach fragen, ob er bei ihnen in hoher Achtung steht. Daraus folgt, daß er mehr herzlich als höflich, weder hochmüthig noch prunkvoll sein wird, und daß ihn eine Liebkosung mehr zu rühren vermag als tausend Lobsprüche. Aus denselben Gründen wird er weder seine Manieren noch seine Haltung vernachlässigen, er wird sogar auf seine Kleidung alle Sorgfalt verwenden können, nicht um als ein Mann von Geschmack zu erscheinen, sondern um ein gefälligeres Aeußere zu gewinnen. Aber nie wird er von Gold starrend einhergehen, nie wird ein Zeichen des Reichthums seine Kleidung verunzieren.

Man begreift, daß dies Alles von meiner Seite keine jahrelange Einprägung von Vorschriften erfordert, sondern daß es nur die Wirkung von Emils erster Erziehung ist. Die Erlangung der Weltkenntniß wird uns gewöhnlich als ein schwer zu enthüllendes Geheimniß dargestellt, als ob ihre Erwerbung in dem Alter, in welchem man sich dieselbe aneignet, nicht etwas ganz Natürliches wäre, und als ob ihre Hauptgesetze nicht in einem ehrbaren Herzen zu finden wären! Die wahre Höflichkeit besteht darin, daß man einander mit Wohlwollen entgegenkommt. Sobald es uns an diesem nicht gebricht, tritt sie ohne Mühe hervor. Nur für diejenigen, welchen es eine unbekannte Tugend ist, hat man die Kunst erfinden müssen, sich wohlwollend zu stellen.

»Die unheilvollste Wirkung der gewohnheitsmäßigen Höflichkeit zeigt sich darin, daß sie die Kunst lehrt, sich von den Tugenden frei zu halten, die sie nachahmt. Flöße man uns durch die Erziehung nur Menschenliebe und Wohlthätigkeitssinn ein, so wird es uns auch an Höflichkeit nicht fehlen, oder wir werden derselben vielmehr gar nicht erst bedürfen.«

»Besitzen wir auch nicht die Höflichkeit, die ihren Ausdruck in einem artigen Benehmen findet, so werden wir uns doch derjenigen zu erfreuen haben, welche den Ehrenmann und den Bürger erkennen läßt; wir werden unsere Zuflucht nicht zur Falschheit zu nehmen brauchen.«

»Statt durch Verstellung zu gefallen, wird es genügen, gut zu sein; statt falsch zu sein, um den Schwächen Anderer zu schmeicheln, wird es ausreichen, Nachsicht zu üben.«

»Leute, denen gegenüber man ein so freundliches Benehmen beobachtet, werden dadurch weder stolz gemacht, noch verderbt werden; sie werden es nur dankbar aufnehmen und dadurch gebessert werden.« Considérations sur les mœurs de ce siècle, par M. Duclos.

Es scheint mir, daß, wenn irgend eine Erziehung die Art von Höflichkeit hervorrufen muß, welche Herr Duclos hier verlangt, es diejenige ist, welche ich bisher in ihren Grundzügen entworfen habe.

Ich räume indeß ein, daß Emil bei so abweichenden Grundsätzen nicht aller Welt gleichen wird, und Gott behüte ihn davor, daß er ihr je ähnlich werde! Gleichwol wird in dem, worin er sich von allen Uebrigen unterscheidet, nichts Anstößiges oder Lächerliches liegen. Die Verschiedenheit wird sich bemerkbar machen, ohne Mißfallen zu erregen. Emil wird, wenn man will, wie ein liebenswürdiger Fremdling erscheinen. Zuerst wird man ihm seine Sonderbarkeiten verzeihen und sagen: »Er wird sich schon noch bilden.« In der Folge wird man sich an seine Manieren gewöhnen, und wenn man sich überzeugt, daß er sie doch nicht ändert, wird man ihm schließlich auch vergeben und sagen: »Er ist nun einmal so.«

Er wird nicht als ein liebenswürdiger Mensch gefeiert werden, aber gleichwol wird man ihn lieben, ohne eigentlich zu wissen, weshalb. Niemand wird seinen Geist rühmen, aber man wird ihn mit Vorliebe zum Schiedsrichter unter Männern von Geist wählen. Sein Geist wird klar sein und sich in festen Grenzen halten; er wird einen geraden Sinn und ein gesundes Urtheil haben. Da er nie nach neuen Ideen hascht, so wird er auch nie darauf ausgehen, mit seinem Witze zu glänzen. Ich habe ihm den Nachweis geführt, daß alle heilsamen und den Menschen wahrhaft nützlichen Ideen am frühesten bekannt gewesen sind, daß sie zu jeder Zeit einzig und allein die wahren Bande der Gesellschaft ausmachen, und daß Männern von hoher Begabung, die sich auszuzeichnen wünschen, nichts übrig bleibt, als durch verderbliche und dem Menschengeschlechte unheilvolle Ideen die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Diese Art, Bewunderung zu erregen, hat für ihn nichts Verlockendes. Er weiß, wo sein Lebensglück zu finden ist, und wodurch er zum Glücke Anderer beizutragen vermag. Der Bereich seiner Kenntnisse dehnt sich nicht weiter als auf das aus, was nützlich ist. Sein Weg ist schmal und genau abgesteckt. Nie in der Versuchung, von ihm abzuweichen, verliert er sich unter denen, die mit ihm die nämliche Straße ziehen; er will sich weder verirren, noch hervorragen. Emil ist ein Mensch von gesundem Verstande und will nichts Anderes sein. Vergeblich wird man ihn mit diesem Titel zu beleidigen suchen, da er sich durch denselben stets geehrt fühlen wird.

Obgleich ihn der Wunsch zu gefallen nicht mehr völlig gleichgültig gegen fremdes Urtheil sein läßt, so wird er von diesem Urtheile doch nur das annehmen, was sich unmittelbar auf seine Person bezieht, ohne sich um die willkürlichen Werthbestimmungen zu kümmern, bei deren Festsetzung nur die Mode oder die Vorurtheile als Gesetz gelten. Er wird seinen Stolz darein setzen, Alles, was er thut, gut, ja sogar noch besser machen zu wollen, als ein Anderer. Beim Laufen wird er sich durch Schnelligkeit, im Ringkampfe durch Stärke, bei der Arbeit durch Geschicklichkeit, beim Spiel durch Gewandtheit auszeichnen; dagegen wird er sich wenig angelegen sein lassen, sich eine Ueberlegenheit in solchen Dingen zu erwerben, bei denen sich nicht ein klar erkennbarer Vortheil erzielen läßt, sondern wo derselbe von fremdem Urtheile abhängt, z.B. einen schärferen Witz, eine größere Rednergabe, eine umfassendere Gelehrsamkeit als ein Anderer zu haben, u.s.w. Noch weniger Werth wird er auf solche Vortheile legen, die in keiner Weise etwas mit der Person zu schaffen haben, wie z.B. aus einer vornehmeren Familie abzustammen, für reicher gehalten zu werden, angesehener zu sein, durch größeren Aufwand zu blenden.

Obgleich er die Menschen im Allgemeinen liebt, weil sie seines Gleichen sind, so wird er doch vorzüglich denen seine Liebe schenken, die ihm an Herzensgüte am ähnlichsten sind; und da er diese Ähnlichkeit nach der Uebereinstimmung, des Geschmacks in moralischen Dingen beurtheilt, so wird es ihm Freude bereiten, wenn er bei Allem, was in einem guten Charakter seine Quelle hat, Anerkennung findet. Er wird sich zwar nicht geradezu sagen: »Ich freue mich, daß mir die Welt ihre Anerkennung nicht versagt,« aber wohl: »Ich freue mich, daß man das, was ich Gutes gethan habe, billigt; ich freue mich, weil die Leute, welche mir Ehre erweisen, sich damit nur selbst ehren. So lange sie ein so gesundes Urtheil fällen, wird es schön sein, ihre Achtung zu besitzen.«

Während er so die Menschen nach ihren Sitten im Treiben der Welt studirt, wie er sie zuvor nach ihren Leidenschaften in der Geschichte studirte, wird sich ihm oft Gelegenheit darbieten, über das nachzudenken, was das menschliche Herz angenehm oder unangenehm berührt. So beginnt er denn nun über die Principien des Geschmacks zu philosophiren und sich damit einem Studium hinzugeben, welches für ihn in diesem Lebensabschnitte am angemessensten ist.

Je weiter man die Begriffsbestimmungen des Geschmacks herholen will, desto mehr verirrt man sich; der Geschmack besteht in nichts Anderem als in der Fähigkeit, sich über das, was der großen Mehrzahl gefällt oder mißfällt, ein richtiges Urtheil zu bilden. Sobald man weiter schweift, weiß man nicht mehr, was Geschmack ist. Daraus folgt noch nicht, daß die Zahl derer, welchen man Geschmack nachsagen kann, größer sei, als die jener Leute, welchen er fehlt; denn obgleich die Mehrzahl über jeden Gegenstand richtig urtheilt, so gibt es gleichwol wenig Menschen, die über Alles dasselbe Urtheil fällen wie sie; und obgleich die Gesammtsumme des Gemeinsamen der verschiedenen Geschmacksrichtungen den guten Geschmack bildet, so gibt es doch nur wenig Leute von Geschmack, eben so wie es nur wenig schöne Personen gibt, obgleich die Schönheit durch die Vereinigung der am häufigsten vorkommenden Gesichtszüge gebildet wird.

Man darf indeß nicht außer Acht lassen, daß es sich hierbei nicht um das handelt, was man liebt, weil es uns nützlich ist, noch um das, was man haßt, weil es uns Schaden bringt. Der Geschmack macht sich nur bei gleichgültigen Dingen geltend, oder höchstens bei solchen, die durch das von ihnen gehoffte Vergnügen unser Interesse in Anspruch nehmen, nie aber bei solchen, die zur Befriedigung unserer Bedürfnisse dienen. Zur Beurtheilung solcher Gegenstände bedarf es nicht des Geschmacks, dazu genügt schon der bloße sinnliche Trieb. Das ist es, was die reinen Entscheidungen des Geschmacks so schwierig und, dem Anscheine nach, so willkürlich macht. Denn außer dem Instincte, der bestimmend auf den Geschmack einwirkt, läßt sich weiter kein Grund für seine Entscheidungen auffinden. Ferner muß man unterscheiden, nach welchen Gesetzen er in moralischen und nach welchen er in physischen Dingen verfährt. In letzteren erscheinen die Grundsätze des Geschmacks völlig unerklärbar. »Völlig unerklärbar.« Variante: ... unerklärbar; denn wer sagt uns z. B., weshalb dieser Gesang geschmackvoll ist und ein anderer nicht? Wer macht uns mit den Grundsätzen über die Zusammenstellung der Farben bekannt? Wem verdanken wir die Lehre, daß bei einem Rasenplätze die ovale Form besser gefällt als die runde, bei dem Bassin eines Springbrunnens dagegen die runde besser als die ovale? Es ist eine Beobachtung von großer Bedeutung, daß bei Allem, wobei es auf Nachahmung ankommt, die Moral mit betheiligt ist. Dies ist in einer Abhandlung über den Ursprung der Sprachen bewiesen, welche man in der Ausgabe meiner sämmtlichen Werke finden wird. Auf diese Weise erklärt man Schönheiten, welche in das Gebiet des Physischen zu gehören scheinen während es in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist. Ich will noch hinzufügen, daß sich der Geschmack auch nach localen Gesetzen richtet, welche ihn in tausenderlei Dingen von dem gleichen Klima, den Sitten, der Regierungsform und anderen gesellschaftlichen Einrichtungen abhängig machen. Dazu treten endlich noch andere Gesetze, die sich in Rücksicht auf Alter, Geschlecht und Charakter gebildet haben, und in diesem Sinne ist es völlig wahr, daß über den Geschmack nicht zu streiten ist.

Alle Menschen haben Geschmack als eine Mitgabe der Natur erhalten; aber nicht Alle besitzen ihn in gleichem Maße, er entwickelt sich nicht bei Allen bis zu demselben Grade, und bei Allen ist er aus verschiedenen Ursachen Wandlungen unterworfen. Das Maß des Geschmacks, das man besitzen kann, hängt von der Empfänglichkeit ab, mit der man ausgestattet ist. Die Ausbildung und Ausdrucksweise desselben hängen von den gesellschaftlichen Kreisen ab, in denen man sich bewegt hat. Erstens muß man zahlreiche gesellschaftliche Kreise aufsuchen, um viele Vergleiche anstellen zu können; zweitens müssen es Gesellschaften des Vergnügens und der Muße sein, denn in Vereinen, die zu geschäftlichen Zwecken zusammentreten, will man nicht Vergnügen, sondern Vortheil finden. Drittens müssen es Gesellschaften sein, in denen die Ungleichheit nicht allzu groß ist, die Tyrannei der hergebrachten Meinung nicht allzu schroff hervortritt, und in denen man mehr dem Genusse als der Eitelkeit fröhnt, denn im entgegengesetzten Falle erstickt die Mode den Geschmack und man trachtet nicht mehr nach dem, was gefällt, sondern nach dem, was auszeichnet.

In letzterem Falle kann man den guten Geschmack in Wahrheit nicht mehr den Geschmack der Mehrzahl nennen. Weshalb denn nicht? Weil sich das Object ändert. Alsdann hat die Menge kein eigenes Urtheil mehr, sie läßt sich von dem Urtheile derjenigen bestimmen, die sie für erleuchteter hält als sich selbst; sie zollt nicht dem Anerkennung, was gut ist, sondern dem, was Andere als gut anerkannt haben. Traget deshalb allezeit dafür Sorge, daß sich ein jeder Mensch sein eigenes Urtheil bildet, dann wird auch sicherlich das, was das Angenehmste an sich ist, stets die meisten Stimmen für sich haben.

Nur durch Nachahmung vermögen die Menschen in ihren Werken Schönes hervorzubringen. Alle wahren Vorbilder des Geschmacks werden der Natur entnommen. Je mehr wir uns von dieser Meisterin entfernen, desto entstellter werden unsere Nachbildungen. Dann müssen uns die Gegenstände, die wir lieb haben, als Muster dienen; aber das Schöne aus dem Reiche der Phantasie ist, weil es sich der Laune und der Autorität unterworfen sieht, nichts weiter als das, was denen gefällt, unter deren Leitung wir stehen.

Diejenigen nun, deren Leitung wir folgen, sind Künstler, Große und Reiche, welche sich wieder ihrerseits durch ihr Interesse oder ihre Eitelkeit leiten lassen. Eifrig sieht man sie neue Mittel des Aufwands aufsuchen, die Einen, um mit ihrem Reichthume zu prunken, die Andern, um daraus Vortheil zu ziehen. Dadurch legt der große Luxus den Grund zu seiner Herrschaft und flößt uns Liebe für das ein, was schwer zu erlangen und kostbar ist. Alsdann ist das, was für schön ausgegeben wird, weit von der Nachahmung der Natur entfernt, und wird nur deshalb so genannt, weil es mit der Natur nicht in Übereinstimmung steht. Das ist die Ursache, weshalb Luxus und schlechter Geschmack Hand in Hand gehen. Ueberall, wo die Befriedigung des Geschmacks mit großen Kosten verbunden ist, ist er falsch.

Besonders im Umgange beider Geschlechter gewinnt der Geschmack, sei er gut oder schlecht, eine bestimmte Form; seine Ausbildung ist eine notwendige Folge dieses geselligen Verkehrs. Läßt jedoch die Leichtigkeit, mit welcher man sich den Genuß verschaffen kann, das Verlangen zu gefallen erkalten, so muß der Geschmack ausarten, und hierin liegt, wie mir scheint, einer der augenscheinlichsten Gründe, weshalb der gute Geschmack auf den guten Sitten beruht.

In physischen wie in solchen Angelegenheiten, die ein Urtheil der Sinne zulassen, ziehet den Geschmack der Frauen zu Rathe, den der Männer jedoch in moralischen und allen übrigen Angelegenheiten, zu deren Beurtheilung ein größerer Verstand nöthig ist. Sind die Frauen, was sie sein sollen, so werden sie sich auf Dinge beschränken, für welche sie ein Verständniß haben, und werden stets richtig urtheilen. Seitdem sie sich jedoch auch über die Literatur die Herrschaft angemaßt, seitdem sie sich unterfangen haben, Bücher zu kritisiren und sogar mit aller Gewalt selbst zu schreiben, seitdem verstehen sie sich auf nichts mehr. Schriftsteller, welche sich über ihre Werke bei gelehrten Frauen Raths erholen, können stets versichert sein, schlechte Rathschläge zu erhalten. Stutzer, welche ihren Anzug nach dem Rathe der Frauen wählen, sind stets lächerlich gekleidet. Es wird sich mir bald Gelegenheit darbieten, von den wirklichen Talenten dieses Geschlechtes, von der Art und Weise ihrer Ausbildung, so wie von denjenigen Dingen zu sprechen, in welchen man auf die Entscheidungen desselben hören muß.

Das sind die einfachen Betrachtungen, die ich als Grundsätze ausstellen werde, wenn ich mit meinem Emil einen Stoff bespreche, der ihm in der Lage, in welcher er sich befindet, und bei den Nachforschungen, mit welchen er beschäftigt ist, nichts weniger als gleichgiltig sein kann. Und wem könnte er auch wol gleichgiltig sein? Die Kenntniß dessen, was den Menschen angenehm oder unangenehm sein kann, ist nicht allein für denjenigen nothwendig, welcher ihrer bedarf, sondern auch für den, welcher ihnen nützen will. Selbst wenn man ihnen dienen will, kommt viel darauf an, daß man ihnen gefalle, und die Kunst zu schildern ist nichts weniger als ein müßiges Studium, wenn man sich ihrer dazu bedient, der Wahrheit Gehör zu verschaffen.

Wenn mir zur Ausbildung des Geschmacks meines Zöglings die Wahl zwischen solchen Ländern, in denen die Geschmacksbildung erst im Entstehen begriffen ist, und anderen, in welchen sich bereits eine Entartung derselben bemerkbar machte, frei stünde, so würde ich die umgekehrte Reihenfolge inne halten; ich würde ihn zunächst die letzteren und zuletzt die ersteren besuchen lassen. Der Grund, der mich bei dieser Wahl leitet, besteht darin, daß der Geschmack bei einer zu übertriebenen Verfeinerung, die die Aufmerksamkeit auf Dinge lenkt, welche die meisten Menschen gar nicht gewahren, allmählich entartet. Diese Verfeinerung erfüllt uns mit Streitsucht. Denn je scharfsinniger man über die Gegenstände nachsinnt, desto mehr vervielfältigen sie sich; der dabei aufgebotene Scharfsinn macht das Gefühl zwar feiner, aber auch weniger übereinstimmend. Es bildet sich dann ein so vielfacher Geschmack, als es Köpfe gibt. In den Erörterungen darüber, wem der Vorzug eingeräumt werden muß, erweitern sich die Einsichten so wie die philosophischen Anschauungen, und auf diese Weise lernt man denken. Feine Beobachtungen können kaum von anderen als solchen Leuten angestellt werden, denen eine reiche Weltkenntniß zur Seite steht, weil sie sich erst nach Vorangang vieler anderer dem Beobachter aufdrängen, und weil die Aufmerksamkeit solcher Leute, welche sich wenig in zahlreichen Gesellschaften bewegt haben, schon durch die gewöhnlichen und sofort in die Augen fallenden Vorkommnisse völlig in Anspruch genommen wird. Es gibt gegenwärtig auf Erden vielleicht keinen civilisirten Ort, wo der Geschmack im Allgemeinen schlechter wäre als in Paris. Trotzdem wird gerade in dieser Hauptstadt der gute Geschmack ausgebildet, und es erscheinen wenige Bücher von europäischem Rufe, deren Verfasser nicht in Paris ihre Bildung empfangen hätten. Wer jedoch wähnt, es genüge schon, die Bücher, welche dort geschrieben werden, zu lesen, der befindet sich im Irrthume; man lernt aus dem Umgange mit den Schriftstellern mehr als aus ihren Büchern. Und selbst die Schriftsteller sind es nicht einmal, von denen man am meisten lernt. Nein, der Geist der Gesellschaft ist es, der einen denkenden Kopf weiter fördert und seinen Gesichtskreis mehr und mehr erweitert. Besitzet ihr auch nur einen Funken von Genie, so bringet ein Jahr in Paris zu; bald werdet ihr dann Alles sein, was ihr überhaupt zu sein vermögt, oder ihr werdet es nie zu etwas bringen.

Man ist im Stande auch an Orten, wo ein schlechter Geschmack herrscht, denken zu lernen; aber man darf freilich nicht wie diejenigen denken, welche diesen schlechten Geschmack theilen, und es ist in der That sehr schwierig, sich bei längerem Verkehre mit ihnen, davor zu hüten. Durch ihre Beihilfe muß man gleichsam das Instrument, vermittelst dessen wir unsere Urtheile bilden, vervollkommnen, dabei aber vermeiden, es in gleicher Weise wie sie anzuwenden. Ich werde mich hüten, Emils Urtheilsvermögen bis zu dem Grade auszubilden, daß es eine bleibende Schwächung davonträgt, und wenn sein Gefühl fein genug sein wird, um die Verschiedenheiten im Geschmacke der Menschen zu erkennen und zu vergleichen, so werde ich ihn zur Befestigung seines eigenen Geschmacks auf einfachere Gegenstände zurückführen.

Ich werde mich sogar, um ihm einen reinen und gesunden Geschmack zu bewahren, noch nach entfernteren Mitteln umsehen. In dem Geräusche der Zerstreuungen werde ich es trotzdem nicht an Unterhaltungen über nützliche Gegenstände fehlen lassen, und indem ich sie stets auf solche lenken werde, die ihm zu gefallen geeignet sind, werde ich sie ihm eben so angenehm als lehrreich zu machen suchen. Das ist nun die Zeit, in welcher ich ihm unterhaltende Bücher zur Lectüre vorlegen werde, die Zeit, ihn eine Rede analysiren zu lehren und für die Schönheiten der Beredtsamkeit und des Ausdrucks empfänglich zu machen. Die Erlernung der Sprachen um ihrer selbst willen hat wenig Werth; ihr Nutzen ist nicht so bedeutend, wie man gewöhnlich anzunehmen pflegt; aber das Studium der Sprache leitet auf das Studium der allgemeinen Sprachgesetze. Man muß lateinisch lernen, um gut französisch zu verstehen; beide Sprachen muß man studiren und vergleichen, um die Regeln der Redekunst zu begreifen.

Es gibt überdies eine gewisse Einfachheit des Geschmacks, welche zu Herzen geht und sich nur in den Schriften der Alten vorfindet. In der Beredsamkeit, in der Poesie, in jedem Literaturzweige wird Emil die Alten so wiederfinden, wie sie ihm die Geschichte gezeichnet hat: reich an hervorragenden Erscheinungen und nüchtern im Urtheile. Unsere Schriftsteller sagen dagegen wenig, so viel Worte sie auch machen. Uns unaufhörlich ihr eigenes Urtheil als Gesetz vorschreiben, ist nicht das Mittel, das unserige zu bilden. Die Verschiedenheit unseres Geschmacks von dem der Alten kann man an allen Denkmälern, sogar an den Grabmälern erkennen. Die unsrigen sind mit Lobeserhebungen bedeckt; auf denen der Alten las man nur Thaten. Sta viator, heroem calcas. »Verweile, Wanderer, du stehst auf einem Helden.« So lautet die Grabschrift des in der Schlacht bei Nördlingen am 3. August 1645 gefallenen österreichischen Generals Mercy; cf. Voltaire, siècle de Louiss XIV., chap. 3.

Selbst wenn ich diese Grabschrift auf einem antiken Monumente gefunden hätte, würde ich doch sofort errathen haben, daß sie unserer Zeit angehört; denn nichts ist unter uns so gewöhnlich als Helden, während sie bei den Alten gar selten waren. Anstatt zu sagen, daß ein Mann ein Held gewesen sei, würden sie die Thaten angegeben haben, die ihn dieses Namens würdig machten. Vergleicht nun mit der Grabschrift dieses Helden die des weibischen Sardanapal:

An einem Tage ließ ich Tarsus und Anchialus bauen
und nun bin ich todt.

Welche sagt wol eurem Bedünken nach mehr? Unser schwülstiger Lapidarstil ist zu nichts nütze, als Zwerge aufzublasen. Die Alten stellten uns die Menschen mit natürlichen Farben dar, und man sah, daß es Menschen waren. Um das Andenken einiger auf dem Rückzugs der Zehntausend verrätherischerweise erschlagener Krieger zu ehren, sagt Xenophon: »Sie starben, unsträflich als Krieger und als Freunde!« Das ist Alles. Bedenkt indeß, von welchen Gedanken das Herz dieses Mannes erfüllt sein mußte, als er dieses so kurze und so einfache Lob niederschrieb. Beklagenswerth derjenige, der es nicht hinreißend findet!

Auf einem Marmorsteine bei Thermopylä las man die Worte eingegraben:

Wanderer, verkündige es in Sparta, daß wir hier,
seinen heiligen Gesetzen getreu, gestorben sind.

Man fühlt es sofort heraus, daß die Akademie der Inschriften diese hier nicht verfaßt hat. Der erwähnte Ausspruch Xenophons findet sich gegen Ende des 2. Buches der Anabasts, und die Grabschrift der bei Thermopylä gefallenen Spartaner berichtet Herodot, Buch VII, S. 228:

Was das Epitaph des Sardanapal betrifft, so wird uns dasselbe von Strabo mitgetheilt, ist aber bei diesem Autor weit ausführlicher und trägt einen ganz anderen Charakter, als den ihm von Rousseau untergeschobenen. Es lautet: »Sardanapal, Sohn des Anacyndaraxes, ließ an einem einzigen Tage die Städte Anchialus und Sardes bauen. Wanderer, trink, iß und ergötze dich, denn alles Uebrige ist nicht einmal einen Nasenstüber werth.«
Anmerk. des Herrn Petitain

Ich würde mich in einer großen Täuschung befinden, wenn meinem Zöglinge, der so wenig Werth auf Worte legt, dieser Unterschied nicht sofort auffallen und einen Einfluß auf die Wahl seiner Lectüre ausüben sollte. Hingerissen von der männlichen Beredsamkeit des Demosthenes, wird er sagen: »Das ist ein Redner«, während er bei der Lectüre des Cicero sagen wird: »Das ist ein Advocat«.

Im Allgemeinen werden die Schriften der Alten Emils Geschmacke mehr zusagen als die unsrigen, schon ans dem alleinigen Grunde, weil die Alten, als die der Zeit nach früheren, der Natur am nächsten kommen, und weil ihr Genie mehr ihnen selbst angehört. Was la Motte und der Abbé Terrasson auch immer gesagt haben mögen, es gibt doch bei dem Menschengeschlechte keinen wahren Fortschritt der Vernunft, weil Alles, was auf der einen Seite als Gewinn angesehen werden kann, durch Verluste auf der andern Seite wieder aufgewogen wird. Alle Geister müssen stets von demselben Punkte ausgehen, und weil nun die Zeit, welche man zur Erlernung dessen, was Andere gedacht haben, aufwendet, naturgemäß für die Ausbildung des Selbstdenkens verloren geht, so hat man zwar mehr Einsichten gewonnen, besitzt aber dafür weniger Geisteskraft. Wie unsere Arme darin geübt sind, Alles nur mit Hilfe von Werkzeugen und nichts durch sich selbst zu verrichten, so verhält es sich auch mit dem Geiste. Fontenell äußerte, der ganze Streit über die Alten und Neueren lasse sich in die Frage zusammenfassen, ob die Bäume ehedem, ein größere Höhe erreicht hätten als heutigen Tages. Wäre im Landbau eine Umgestaltung eingetreten, so würde es gar nicht so ungehörig sein, diese Frage aufzuwerfen.

Nachdem ich Emil nun bis zu den Quellen der reinen Literatur habe zurückgehen lassen, zeige ich ihm gleichfalls die Canäle, durch welche sich dieselben in die Behälter der modernen Compilatoren ergossen haben, mache ihn mit Journalen, Uebersetzungen und Wörterbüchern bekannt. Er wirft auf dies Alles einen einzigen Blick, um dann nie wieder darauf zurückzukommen. Zu seiner Erheiterung lasse ich ihn auch das Geschwätz der Akademien anhören. Ich mache ihn darauf aufmerksam, daß jedes Mitglied derselben, sobald es für sich allein ist, stets höhere Geltung hat, als innerhalb der Körperschaft; daraus wird er sich dann schon selbst ein Urtheil über den Nutzen dieser prächtigen Anstalten bilden.

Auch ins Theater führe ich ihn, nicht etwa um die Sitten, wol aber um den Geschmack zu studiren; denn denjenigen, welche an Nachdenken gewöhnt sind, zeigt er sich dort ganz besonders. »Laß die moralischen Vorschriften bei Seite,« würde ich zu ihm sagen. »Hier ist nicht die Stätte, wo wir uns über sie belehren sollen. Das Theater hat nicht die Bestimmung, der Wahrheit zu dienen; seine Aufgabe ist, die Menschen angenehm zu unterhalten, ihnen Vergnügen zu bereiten; in keiner Schule läßt sich die Kunst, ihnen zu gefallen und das Menschenherz zu fesseln, so vollkommen wie dort erlernen.« Das Studium des Theaters führt zu dem der Poesie; beide verfolgen genau dasselbe Ziel. Mit welcher Freude wird er, wenn er auch nur einen Funken von Geschmack für Letztere hat, dann die Sprachen der Dichter, Griechisch, Lateinisch, Italienisch erlernen! Ein je zwangloseres Vergnügen ihm diese Studien bereiten werden, desto größeren Gewinn wird er von ihnen haben; mit köstlicher Freude werden sie sein Herz gerade in einem Alter und unter Umständen erfüllen, wo es einer jeden Art Schönheit, die dazu angethan ist, das Herz zu rühren, mit solcher Wärme entgegenklopft. Man stelle sich vor, wie einerseits mein Emil, andrerseits ein Schüler einer öffentlichen Anstalt das vierte Buch der Aeneide oder den Tibull oder das Symposion des Plato liest. Welch ein Unterschied! Wie tief fühlt sich das Herz des Einen von dem bewegt, was den Anderen ganz ungerührt läßt! O, lieber Jüngling, halte ein, unterbrich deine Lectüre, ich sehe dich in zu hohem Grade erschüttert. Es ist zwar mein Wunsch, daß du an der Sprache der Liebe Gefallen findest, aber nicht, daß sie dich irre leite! Sei ein für Liebe empfänglicher Mensch, aber auch ein verständiger Mensch! Bist du nur eins von Beiden, so bist du nichts. – Ob übrigens mein Zögling in den todten Sprachen, in den schönen Wissenschaften und in der Poesie große Fortschritte mache oder nicht, darauf kommt wenig an. Er wird darum nichts an Werth verlieren, wenn er auch von alledem nichts weiß; um alle diese nichtigen Tändeleien handelt es sich bei seiner Erziehung durchaus nicht.

Der Hauptzweck, den ich bei dem Bestreben, ihn das Schöne nach jeder Richtung hin empfinden und lieben zu lehren, verfolge, ist darauf gerichtet, seine Neigungen und seinen Geschmack für immer demselben zuzuwenden, die Entartung seiner natürlichen Triebe zu verhindern und vorzubeugen, daß er nicht eines Tages die Mittel, glücklich zu sein, die er weit näher finden soll, in seinem Reichthume suche. Ich habe mich bereits an einem andern Orte In einem Briefe an d'Alembert. darüber ausgesprochen, daß der Geschmack nur in der Kunst bestände, sich auf Kleinigkeiten zu verstehen, und dies ist vollkommen die Wahrheit. Da nun aber einmal die Annehmlichkeit des Lebens von einem Gewebe von Kleinigkeiten abhängig ist, so ist die Sorge für dieselben nichts weniger als gleichgiltig. Durch ihre Beihilfe lernen wir das Leben mit Gütern erfüllen, welche in der ganzen Wirklichkeit, die sie für uns zu haben im Stande sind, völlig in unserem Bereiche liegen. Ich verstehe hierunter nicht etwa die moralischen Güter, die von der Seelenreinheit abhängen, sondern das allein, was, die Vorurtheile und die allgemeine Meinung bei Seite gesetzt, in das Gebiet der Sinnlichkeit, der wirklichen Sinnenlust gehört.

Man wolle mir gestatten, daß ich zur besseren Klarlegung meiner Idee von meinem Emil, dessen reines und gesundes Herz Niemandem als Regel zu dienen vermag, einen Augenblick absehe und mich selbst als ein deutlicheres und den Sitten des Lehrers näher liegendes Beispiel hinstelle.

Es gibt Stände, welche die Natur zu verändern und die Glieder derselben, sei es zum Bessern, sei es zum Schlechtern, umzuwandeln scheinen. Ein Feiger wird tapfer, sobald er in das Regiment Navarra eintritt. Indeß nimmt man nicht allein im Soldatenstande einen gewissen Corpsgeist an, und nicht nur nach der guten Seite hin lassen sich seine Wirkungen wahrnehmen. Wol hundertmal habe ich mit Schrecken daran gedacht, daß, wenn ich das Unglück hätte, heute in einem gewissen Lande ein Amt, wie ich es im Sinne habe, zu bekleiden, ich morgen fast unvermeidlich ein Tyrann, ein Leuteschinder, ein Mann, der die Volks- wie Fürstenrechte zu schädigen suchte, kurz, schon in Folge meiner amtlichen Stellung ein Feind aller Menschlichkeit, aller Billigkeit und jeglicher Tugend sein würde.

Eben so würde ich, besäße ich Reichthümer, Alles gethan haben, was man zur Erlangung derselben thun muß. Ich würde mich also übermüthig und gemein benehmen, gegen mich allein rücksichtsvoll und zärtlich sein, gegen alle Uebrige aber schonungslos und hart auftreten und auf das Elend des Lumpengesindels mit Verachtung herabblicken, denn den Dürftigen würde ich keinen andern Namen geben, um dadurch in Vergessenheit zu bringen, daß ich einst selbst ihrer Classe angehörte. Endlich würde ich mein Vermögen nur als Mittel benutzen, mir Vergnügungen zu verschaffen, in denen ich ausschließlich leben und weben würde; und damit wäre ich auf die Stufe aller Anderen herabgesunken.

In einem Punkte würde ich mich jedoch, wie ich glaube, wesentlich von ihnen unterscheiden, darin nämlich, daß ich eher sinnlich und wollüstig als stolz und eitel sein, und daß ich mich in weit höherem Grade dem Luxus der Weichlichkeit als dem der Prunksucht überlassen würde. Es würde mich sogar ein gewisses Schamgefühl zurückhalten, meinen Reichthum allzu sehr zur Schau zu stellen, und ich würde immer glauben, einen Neidischen mir vor Augen schweben zu sehen, der, da ich ihn durch meinen Prunk in Schatten stellen würde, seinem Nachbar ins Ohr raunte: »Sieh einmal diesen Schuft! Welche entsetzliche Angst quält ihn doch, als Solcher erkannt zu werden.«

Aus der unermeßlichen Fülle von Gütern, welche die Erde bedecken, würde ich mir das aussuchen, was mir am angenehmsten wäre und was ich am besten in meinen Besitz zu bringen vermöchte. Aus dem Grunde würde die erste Anwendung meines Reichthums darin bestehen, daß ich mir Muße und Freiheit erkaufte. Diesen Gütern würde ich dann noch Gesundheit hinzufügen, wenn sich dieselbe erkaufen ließe. Da sie indeß nur für Mäßigkeit käuflich ist und es außerdem ohne Gesundheit keine wahre Lebensfreude gibt, so würde ich aus Sinnlichkeit mäßig sein.

Stets würde ich der Natur so nahe als möglich bleiben, um den Sinnen, die ich aus ihrer Hand empfangen habe, zu schmeicheln, da ich mich nicht gegen die Ueberzeugung zu verschließen vermag, daß ich desto wahreren Genuß finden würde, je mehr ich ihn aus der Natur schöpfte. Bei der Wahl zur Nachbildung bestimmter Gegenstände würde ich sie beständig zum Muster nehmen; bei der Befriedigung meiner Begierden würde ich ihr stets den Vorzug einräumen; in Sachen des Geschmacks würde ich sie stets zu Rathe ziehen; von den Speisen würden mir stets diejenigen am besten gefallen, zu deren Zubereitung sie selbst das Meiste beigetragen hat, und die durch die wenigsten Hände zu gehen brauchen, ehe sie auf unsern Tisch gelangen. Den Fälschungen, mit denen man uns zu täuschen sucht, würde ich vorbeugen; dem Vergnügen würde ich entgegenkommen. Meine thörichte und rohe Eßlust würde keinen Haushofmeister bereichern. Er sollte mir nicht für schweres Gold wie Gift wirkende Leckerbissen verkaufen. Unübersetzbares Wortspiel: Il ne me vendrait point au poids de l'or du poison pour du poisson. Meine Tafel sollte gewiß nicht mit dem Prunk kostbaren Schmutzes und aus weiter Ferne herbeigeschafften Aases besetzt werden. Ich würde mich zur Befriedigung meiner Sinnlichkeit keine Mühe verdrießen lassen, weil diese Mühe schon an und für sich ein Vergnügen ist und das erwartete dadurch erhöht. Wäre ich auf ein Gericht vom äußersten Ende der Welt her lüstern, so würde ich lieber, wie Apicius, mich aufmachen, um es an Ort und Stelle zu genießen, als es mir kommen zu lassen; denn auch den ausgesuchtesten Speisen fehlt es stets an einer Würze, die man nicht gleichzeitig mit ihnen versenden kann und die kein Koch zu ersetzen vermag: die Luft des Klimas, welches sie hervorgebracht hat.

Aus demselben Grunde würde ich mir auch nicht an denen ein Beispiel nehmen, welche sich immer nur da wohl zu befinden glauben, wo sie nicht sind, und deshalb die Jahreszeiten unter einander und die Klimate mit den Jahreszeiten in Widerspruch setzen; welche, da sie im Winter den Sommer und im Sommer den Winter suchen, der Kälte wegen Italien und der Wärme wegen den Norden besuchen, ohne zu bedenken, daß sie die Strenge der Jahreszeiten, welcher sie zu entrinnen wähnen, gerade in den Gegenden antreffen müssen, wo man noch nicht gelernt hat, sich vor ihr zu schützen. Ich für meinen Theil würde entweder ruhig an meinem Wohnorte ausharren, oder gerade das umgekehrte Verfahren einschlagen; ich würde einer Jahreszeit Alles, was sie an Annehmlichkeiten darbietet, und einem Klima alles Besondere, was ihm eigenthümlich ist, abzugewinnen suchen. Ich würde eine Mannigfaltigkeit von Vergnügungen und Gewohnheiten in mir vereinen, die sich zwar unter einander nicht ähneln würden, aber stets mit der Natur im Einklange ständen. Den Sommer würde ich in Neapel, den Winter in Petersburg zubringen, bald hingelagert in einer kühlen Grotte Tarents, den sanften Zephir athmend, bald im hellerleuchteten Eispalaste, außer Athem und von den Vergnügungen des Balles ermattet.

Bei meinem Tafelgeräthe und der Ausschmückung meines Zimmers würde ich durch sehr einfache Verzierungen den Wechsel der Jahreszeiten bildlich darstellen, und mich an den Annehmlichkeiten einer jeden erfreuen, ohne mich um den Genuß der nachfolgenden zu bringen. Es verursacht Mühe, gewährt aber keinen Genuß, die Ordnung der Natur in dieser Weise zu stören, ihr unfreiwillige Gaben abzudringen, die sie nur ungern und unter Verwünschungen gegen den Empfänger gibt, und die, da es ihnen an Güte und Geschmack fehlt, weder den Magen ernähren noch den Gaumen kitzeln können. Nichts ist unschmackhafter als Treibhausfrüchte. Nur unter großen Kosten bringt es der Reiche in Paris mit Hilfe seiner Oefen und Glashäuser dahin, daß es ihm das ganze Jahr hindurch nicht an schlechten Gemüsen und schlechtem Obste auf seiner Tafel fehlt. Hätte ich auch Kirschen, wenn es friert, und duftende Melonen mitten im Winter, welchen Genuß könnte ich davon haben, da mein Gaumen keiner Erquickung oder Erfrischung bedarf? Würde mir wol in der Hitze der Hundstage die saftlose Marone Labung gewähren? Würde ich sie wol, wenn sie so eben aus der Pfanne kommt, der Johannisbeere, der Erdbeere und all den Durst löschenden Früchten vorziehen, die sich mir mühelos überall auf Erden darbieten? Mitten im Monat Januar seinen Kamin mit einer der Natur nur gewaltsam abgerungenen Vegetation, mit bleichen, geruchlosen Blumen bedecken, heißt weniger den Winter schmücken, als den Frühling seines Schmuckes berauben, heißt, sich selber um das Vergnügen bringen, im Walde das erste Veilchen zu suchen, die erste Knospe zu entdecken und voller Wonne auszurufen: »Sterbliche, ihr seid nicht verlassen, die Natur lebt noch!«


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