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Ich habe mir die Aufgabe gestellt, in diesem Buche Alles zu sagen, was überhaupt ausführbar ist, indem ich es dem freien Ermessen eines Jeden überlasse, unter dem dargebotenen Guten sich das herauszuwählen, was sich für ihn am meisten eignet. Schon von Anfang an hatte ich mein Augenmerk darauf gerichtet, frühzeitig Emils Gefährtin heranzubilden und sie für einander und mit einander zu erziehen. Allein nach reiflicherer Ueberlegung bin ich zu der Einsicht gelangt, daß alle dergleichen allzu frühzeitigen Maßregeln unzweckmäßig sind, und daß es thöricht ist, zwei Kinder zur Vereinigung mit einander zu bestimmen, bevor sich erkennen läßt, ob diese Vereinigung mit der Ordnung der Natur in Einklang steht, und ob ihre gegenseitigen Verhältnisse der Schließung eines solchen Bundes günstig sind. Man darf nicht verwechseln, was im wilden Zustande natürlich ist, und was im Zustande unserer bürgerlichen Gesellschaft. Im ersteren Zustande paßt jede Frau für jeden Mann, weil sich beide Theile noch das ursprüngliche gemeinsame Wesen erhalten haben. Im zweiten jedoch, wo die Entwickelung jedes Charakters unter der Einwirkung der socialen Einrichtungen vor sich geht, und jeder Geist nicht nur in Folge der Erziehung, sondern auch vermittelst eines gut oder schlecht geleiteten Zusammentreffens der natürlichen Begabung mit der Erziehung seine eigenthümliche und bestimmte Form erhalten hat, kann man erst dann daran denken, sie zu vereinigen, wenn man sie mit einander bekannt gemacht hat, um sich zu überzeugen, ob sie auch in jeder Hinsicht für einander passen, ober um wenigstens diejenige Wahl treffen zu können, welche in den meisten Punkten passend erscheint.

Ein Uebelstand ist es nun, daß der gesellschaftliche Zustand bei der Entwickelung der Charaktere auf die Rangunterschiede Rücksicht nimmt, und daß man, da jene beiden Zustände einander so unähnlich sind, auf die Charaktere um so verderblicher einwirkt, je größere Unterschiede man in die Verhältnisse hineinträgt. Davon schreiben sich die unpassenden Ehen und die daraus hervorgehende Sittenlosigkeit her. Hieraus kann man die klare Folgerung ziehen, daß sich die natürlichen Gefühle um so mehr abstumpfen, je mehr man sich von der Gleichheit entfernt. Je mehr sich die Kluft zwischen Hohen und Niedrigen erweitert, desto mehr lockert sich das eheliche Band. Je mehr Reiche und Arme es gibt, desto weniger Väter und Gatten gibt es. Weder Herr noch Sklave haben eine Familie mehr, Jeder von Beiden hat nur seinen eigenen Stand im Auge.

Wollt ihr diesem Uebelstande abhelfen und dazu beitragen, daß die Ehen glücklich werden, so erstickt die Vorurtheile, vergeßt die menschlichen Einrichtungen und fragt die Natur um Rath. Vereinigt nicht Leute, die nur in Bezug auf Rang und Stellung zu einander passen, die aber in keiner Hinsicht mehr zu einander passen, sobald ihre gesellschaftliche Stellung eine Aenderung erleidet. Verbindet vielmehr solche Personen mit einander, die sich in jeglicher Lebenslage, in jedem Lande, in welchem sie ihren Wohnsitz aufschlagen mögen, in jeder gesellschaftlichen Stellung, in die sie eintreten mögen, in gegenseitiger Liebe zu einander hingezogen fühlen. Ich behaupte keineswegs, daß die conventionellen Verhältnisse für die Ehe gleichgiltig sind, aber so viel behaupte ich, daß der Einfluß der natürlichen Verhältnisse sie in so hohem Grade überwiegt, daß er allein über das Geschick des Lebens entscheidet, und daß es eine Übereinstimmung der Neigungen, Temperamente, Gefühle und Charaktere gibt, welche einen verständigen Vater, und möge er Prinz oder Monarch sein, bestimmen müßte, seinem Sohne ohne Schwanken das Mädchen zu geben, mit welchem er in allen diesen Punkten harmonirte, und wenn der Vater desselben auch eine unehrliche Hantierung betriebe, wenn er selbst der Henker wäre. Ja, ich behaupte, daß zwei Gatten, deren Bereinigung nach diesen Gesichtspunkten stattfand, selbst dann, wenn sie allem erdenkbaren Unglück ausgesetzt wären, in ihrer gemeinsamen Trauer ein wahrhafteres Glück genießen würden, als wenn sie sich im Besitze aller Güter der Erde befänden, während ihre Herzen dabei durch Zwietracht vergiftet wären.

Statt also für meinen Emil schon von Kindheit an eine Gattin zu bestimmen, habe ich so lange gewartet, bis ich die kennen lernte, welche sich für ihn eignet. Diese Bestimmung geht also nicht von mir, sondern von der Natur aus. Meine Aufgabe besteht nur darin, die Wahl zu finden, die sie getroffen hat. Meine Aufgabe, wiederhole ich noch einmal, nicht die des Vaters; denn als er mir seinen Sohn anvertraute, hat er mich in seine Stelle, in seine Rechte treten lassen. Ich bin im wahren Sinne Emils Vater, da ich ihn erst zum Menschen gemacht habe. Ich würde es abgelehnt haben, seine Erziehung zu übernehmen, wenn man mir nicht das Recht eingeräumt hätte, ihn nach seiner eigenen, d. h. nach meiner Wahl, verheirathen zu können. Nur die Freude, das Glück eines Menschen zu begründen, vermag uns für die Mühe zu entschädigen, die wir haben anwenden müssen, um ihn in den Stand zu setzen, es zu werden.

Glaubt aber eben so wenig, daß ich etwa so lange gezögert habe, eine Gemahlin für Emil zu finden, bis ich ihn aufforderte, sie zu suchen. Dies vorgebliche Suchen dient nur als Vorwand, um ihm Gelegenheit zu verschaffen, die Frauen kennen zu lernen, damit er den Werth derjenigen, die sich für ihn eignet, empfinden kann. Sophie ist längst gefunden; vielleicht hat Emil sie bereits gesehen, aber er wird sie erst wiedererkennen, wenn es an der Zeit ist.

Obwol die Gleichheit des Standes für die Ehe nicht unumgänglich erforderlich ist, so verleiht sie doch, wenn die übrigen Verhältnisse angemessen sind, diesen einen neuen Werth. Während sie hinter allen übrigen zurückstehen muß, neigt sie doch die Wageschale zu ihrem eigenen Gunsten, sobald alles Uebrige gleich ist.

Ein Mann kann, wofern er nicht Monarch ist, sich seine Gattin nicht aus jedem Stande wählen; denn die Vorurtheile, von denen er sich frei zu halten gewußt hat, wird er doch bei den Anderen vorfinden. So wäre es leicht möglich, daß manches Mädchen für ihn passen würde, welches er deshalb doch nicht erhielte. Es gibt also Grundsätze der Klugheit, welche einem vernünftigen Vater bei seiner Wahl die richtigen Schranken bezeichnen müssen. Er darf nicht darauf ausgehen, sein Kind über seinen Stand zu verheirathen, denn das steht nicht in seinem Belieben. Und wenn es ihm möglich wäre, so sollte er es nicht einmal wollen; denn was kümmert sich ein junger Mann, wenigstens der meinige, wol um den Rang? Und wenn er sich trotzdem über seinen Stand erhebt, so sieht er sich tausend wirklichen Uebeln ausgesetzt, welche sich ihm zeitlebens fühlbar machen werden. Ich sage sogar, daß er nicht einmal die Absicht hegen darf, Güter verschiedener Natur, wie Adel und Geld, als Ausgleichungsmittel zu benutzen, weil jedes von beiden den Werth des andern weit weniger erhöht, als es von ihm Einbuße erleidet. Ich behaupte ferner, daß man bei einer gemeinsamen Schätzung nie einig werden wird, und endlich, daß der höhere Werth, den Jeder dem Gute, das er einsetzt, beilegt, Unfrieden zwischen zwei Familien und oft sogar zwischen zwei Eheleuten stiftet.

In Bezug auf die ehelichen Verhältnisse macht es einen großen Unterschied aus, ob der Mann über oder unter seinen Stand heirathet. Der erste Fall widerstreitet durchaus der Vernunft, der zweite läßt sich eher mit ihr in Einklang bringen. Da die Familie nur durch ihr Haupt eine Stelle in der Gesellschaft behauptet, so richtet sich die Stellung der ganzen Familie nach der des Familienhauptes. Nimmt der Mann sich ein Weib aus niederem Stande, so steigt er damit nicht herab, sondern hebt seine Gattin zu dem seinigen empor. Wählt er sich dagegen seine Lebensgefährtin aus einem höheren Stande, so zieht er sie herab, ohne sich zu erhöhen. Demnach wird ihm im ersteren Falle ein Vortheil zu Theil, ohne daß er gleichzeitig einen Nachtheil erleidet, während ihm der zweite Fall nur Nachtheil ohne einen denselben wieder aufwiegenden Vortheil bringt. Ferner liegt es in der Ordnung der Natur, daß die Frau dem Manne gehorche. Heirathet er also in einen niedrigeren Stand hinein, so sind die natürliche und bürgerliche Ordnung in voller Übereinstimmung, und Alles geht gut. Dagegen stehen sie im offenen Widerspruche zu einander, wenn er eine Frau aus höherem Stande heimführt und sich dadurch in die Alternative versetzt sieht, entweder sein Recht zu beeinträchtigen oder gegen die Dankbarkeit zu verstoßen, sich undankbar oder verächtlich zu zeigen. Die Frau, welche dann Autorität beansprucht, wirft sich zum Tyrannen ihres Gebieters auf, und der zum Sklaven erniedrigte Herr muß sich für das lächerlichste und elendeste aller Geschöpfe halten. So geht es den unglücklichen Günstlingen, welche die asiatischen Könige mit ihrer Verbindung beehren und peinigen, und die, wie das Gerücht geht, wenn sie bei ihren Frauen schlafen wollen, nur am Fußende das Bett besteigen dürfen.

Ich bin darauf gefaßt, daß viele Leser, die sich noch lebhaft erinnern, daß ich dem Weibe ein natürliches Talent, den Mann zu beherrschen, beigemessen habe, mich hier des Widerspruchs beschuldigen werden. Indeß befinden sie sich im Irrthume. Es liegt doch wol ein großer Unterschied zwischen der unbefugten Anmaßung der Herrschaft und der Leitung dessen, der befiehlt. Die Herrschaft der Frau ist eine Herrschaft der Sanftmuth, der Gewandtheit und Gefälligkeit. Ihre Befehle bestehen in ihren Liebkosungen, ihre Drohungen in ihren Thränen. Sie soll im Hause, wie ein Minister im Staate herrschen, indem sie sich das auftragen läßt, was sie zu thun gedenkt. In diesem Sinne kann es als eine ausgemachte Thatsache gelten, daß die besten Haushaltungen diejenigen sind, in welchen die Frau am meisten Autorität besitzt. Allein wenn sie die Stimme ihres Herrn nicht kennen will, wenn sie darauf ausgeht, sich seine Rechte gewaltsam anzueignen, und selbst zu befehlen gedenkt, so ist die Folge dieser Verkehrung der natürlichen Ordnung nur Elend, Aergerniß und Schande.

So bleibt denn einem Manne nur die Wahl zwischen seines Gleichen und den unter ihm Stehenden übrig, wiewol ich glaube, daß hinsichtlich der Letzteren noch eine gewisse Einschränkung gemacht werden muß, denn es ist schwierig, aus der Hefe des Volkes eine Gattin zu finden, die geeignet ist, das Glück eines rechtschaffenen Mannes zu begründen; nicht etwa deshalb, weil man in den niedrigeren Ständen einen lasterhafteren Lebenswandel als in den höheren führte, sondern weil in ihnen die Idee des Schönen und Sittsamen nicht so ausgebildet ist, und weil die Ungerechtigkeit der höheren Stände sogar ihre Laster den niedrigeren im Lichte des Rechten zeigt.

Von Natur ist der Mensch nicht zum Denken geneigt. Denken ist eine Kunst, die er wie alle übrige Künste, ja sogar noch schwieriger als diese erlernt. Ich kenne in Ansehung beider Geschlechter nur zwei wirklich von einander abweichende Classen, eine denkende und eine nicht denkende, und dieser Unterschied rührt fast einzig und allein von der Erziehung her. Ein Mann, der der ersten dieser beiden Classen angehört, darf unter keinen Umständen in die zweite hineinheirathen, denn der größte Reiz des geselligen Verkehrs fehlt ihm im Umgange mit seiner Frau, wenn seine Wahl so ausgefallen ist, daß er sich genöthigt sieht, allein zu denken. Leute, welche ihr ganzes Leben hindurch vollauf mit der Arbeit für das tägliche Brod beschäftigt sind, haben keinen anderen Gedanken als den an ihre Arbeit und ihren Vortheil, und ihr ganzer Geist scheint in ihren Armen aufgegangen zu sein. Die Unwissenheit schadet weder ihrer Rechtschaffenheit noch ihrer Sittlichkeit, sondern ist ihnen häufig sogar förderlich. Oft findet man sich durch Nachdenken über seine Pflichten mit denselben ab und setzt am Ende Redensarten an Stelle der Sache selbst. Das Gewissen ist der helldenkendste aller Philosophen. Man braucht nicht erst Cicero's Abhandlung über die Pflichten zu kennen, um ein rechtschaffener Mensch zu sein, und die sittsamste Frau von der Welt weiß vielleicht am wenigsten, was Sittsamkeit ist. Indeß beruht es deshalb nicht weniger auf Wahrheit, daß allein ein gebildeter Geist den Umgang angenehm macht; und es läßt sich für einen Familienvater, der sich in seiner Häuslichkeit am wohlsten fühlt, nichts Betrübenderes denken, als wenn er sich daheim auf sich selbst beschränkt sieht und sich Niemandem verständlich machen kann.

Wie soll außerdem eine Frau, die nicht an Denken gewöhnt ist, im Stande sein ihre Kinder zu erziehen? Wie soll sie erkennen, was ihnen frommt? Wie soll sie ihnen Liebe zu Tugenden einflößen, die sie selbst nicht kennt, Liebe zu Vorzügen, von denen sie keine Vorstellung hat? Sie wird keine andere Erziehungsmittel als Liebkosungen oder Drohungen anwenden können, wird sie entweder unverschämt oder furchtsam machen. Sie wird sie zu Zieraffen oder wilden Rangen, nie aber zu verständigen und liebenswürdigen Kindern erziehen.

Es taugt deshalb für einen gebildeten Mann nicht, sich ein ungebildetes Weib zu nehmen und folglich auch nicht, in einen Stand hineinzuheirathen, in dem man keine Bildung haben kann. Allein hundertmal lieber würde ich ein Mädchen von einfacher und gewöhnlicher Erziehung nehmen, als eine Gelehrte und einen Schöngeist, die in meinem Hause einen literarischen Gerichtshof errichten und sich zur Präsidentin desselben aufwerfen würde. Ein weiblicher Schöngeist ist die Geißel ihres Gatten, ihrer Kinder, ihrer Freunde, ihrer Diener, ja aller Welt. Bei dem hohen Fluge, zu dem sich ihr genialer Geist erhebt, erscheinen ihr die Pflichten, die sie als Weib zu verrichten hat, verächtlich, und sie läßt es deshalb ihr Erstes sein, nach Art des Fräuleins von Lenclos den Mann zu spielen. Außerhalb ihres Hauses benimmt sie sich stets lächerlich und wird deshalb mit vollem Rechte hart beurtheilt, weil Beides nicht ausbleiben kann, wenn man aus seinem Stande heraustritt und für den, welchen man einzunehmen sucht, nicht geschaffen ist. Alle diese Frauen von hohen Talenten können nur für Thoren ein Gegenstand der Bewunderung sein. Man kennt stets den Künstler oder Freund, der bei ihren Arbeiten die Feder oder den Pinsel führt, kennt den verschwiegenen Gelehrten, der ihnen ihre Orakelsprüche im Geheimen dictirt. All dieses charlatanartige Wesen ist einer rechtschaffenen Frau unwürdig. Schon die Geltendmachung wirklicher Talente würde erniedrigend für sie sein. Ihre Würde besteht darin, daß ihr Name nicht im Munde der Leute ist, ihr Ruhm liegt in der Achtung ihres Gatten, ihre Freuden haben im Glücke ihrer Familie ihre Quelle. Leser, ich berufe mich auf dich selbst; sei aufrichtig. Was flößt dir beim Eintritt in das Zimmer einer Frau eine bessere Meinung von ihr ein, was veranlaßt dich, ihr mit höherer Achtung zu nahen: wenn du sie mit den Arbeiten ihres Geschlechts, mit allerlei Wirthschaftssorgen beschäftigt und von den Kleidungsstücken ihrer Kinder umringt siehst, oder wenn du sie Verse drechselnd an ihrem Putztische antriffst, umgeben von allerlei Flugschriften und Blättchen, die mit allen möglichen Farben bemalt sind? Jedes überstudirte Mädchen erhält, wenn es einmal nur vernünftige Männer auf Erden geben wird, nie einen Mann.

Quaeris, cur nolim te ducere, Galla? Diserta es.
(Du fragst, Galla, weshalb ich dich nicht heirathen mag? Du bist gelehrt.)

Nach diesen Erwägungen verdient zunächst die äußere Gestalt Berücksichtigung. Sie ist das Erste, was das Auge auf sich lenkt, und das Letzte, was Beachtung verdient, obgleich sie immerhin in Anschlag zu bringen ist. Große Schönheit ist in der Ehe meiner Ansicht nach eher ein Uebelstand als wünschenswerth. Sie verliert in Folge des Besitzes gar schnell an Werth; nach Verlauf von sechs Wochen hat sie in den Augen des Besitzers keinen Reiz mehr, aber ihre Gefahren dauern, so lange sie besteht. Ist eine schöne Frau nicht zugleich ein Engel, so ist ihr Gatte der unglücklichste der Männer; und wäre sie wirklich ein Engel, wie wollte sie es verhindern, daß er nicht unaufhörlich von Feinden umlagert wäre? Wenn ein Uebermaß von Häßlichkeit nicht Widerwillen erregte, so würde ich sie einem Uebermaß von Schönheit vorziehen, denn in kurzer Zeit existirt weder die eine noch die andere für den Ehemann, da sich für ihn die Schönheit in eine Unannehmlichkeit, die Häßlichkeit aber in einen Vortheil verwandelt. Aber freilich ist eine Häßlichkeit, die abstoßend wirkt, ein großes Unglück; statt daß sich das Gefühl des Widerwillens, welches sie einflößt, vermindern sollte, steigert es sich fortwährend und geht endlich in Haß über. Eine solche Ehe wird zur Hölle; lieber todt als so verheiratet sein!

Strebet in Allem, selbst die Schönheit nicht ausgenommen, nach der Mittelstraße! Eine gefällige und einnehmende Gestalt, welche nicht Liebe, wol aber Zuneigung einflößt, verdient unstreitig den Vorzug. Sie ist ohne Nachtheil für den Mann, und der Vortheil kommt beiden Gatten zu Gute. Die Anmuth verliert nicht so schnell ihren Werth wie die Schönheit, sie besitzt Lebenskraft, sie erneuert sich unaufhörlich, und nach einer dreißigjährigen Ehe gefällt eine rechtschaffene Frau voller Anmuth ihrem Manne noch eben so wie am ersten Tage.

Das sind die Erwägungen, welche mich für die Wahl Sophiens bestimmt haben. Gleich Emil ein ächtes Kind der Natur, ist sie für ihn mehr als jede Andere geschaffen. Sie wird die wahre Frau eines wahren Mannes sein. Nach Geburt und Verdienst ist sie ihm ebenbürtig, nach dem Vermögen aber steht sie unter ihm. Sie bezaubert nicht auf den ersten Blick, gefällt aber von Tage zu Tage mehr. Ihr größter Reiz wirkt erst nach und nach; er entfaltet sich nur in der Vertraulichkeit des Umgangs, und ihr Gatte wird ihn mehr als irgend ein Anderer empfinden. Ihre Erziehung ist weder glänzend noch vernachlässigt. Sophie hat Geschmack ohne große Gelehrsamkeit, Talente ohne künstlerische Ausbildung derselben, Urtheil ohne Kenntnisse. Ihr Geist besitzt nicht hohes Wissen, vermag aber alles Wissenswerte in sich aufzunehmen. Er ist ein gut zubereitetes Erdreich, welches nur des Samenkornes harrt, um reiche Frucht zu bringen. Außer dem Rechenbuche von Barrème und dem Telemach, welcher ihr zufällig in die Hände fiel, hat sie nie ein Buch gelesen. Allein kann sie wol als ein Mädchen, das im Stande war, sich für Telemach zu begeistern, ein Herz ohne Empfindung und einen Geist ohne Zartgefühl haben? O, liebenswürdige Unwissende, glücklich, wem das Loos zu Theil wird, dich zu unterrichten! Sie wird nicht die Lehrerin ihres Mannes, sondern seine Schülerin sein. Weit davon entfernt, ihn ihren Neigungen unterwerfen zu wollen, wird sie vielmehr die seinigen annehmen. Dadurch wird sie sich ihm theurer machen, als wenn sie Gelehrsamkeit besäße. Er wird die Freude haben, sie in Allem zu unterrichten. Es ist nun endlich an der Zeit, daß sie einander kennen lernen; wir wollen deshalb Sorge tragen, sie einander zu nähern.

Traurig und träumerisch scheiden wir von Paris. Diese Stätte des ewigen Geschwätzes vermag uns nicht zu fesseln. Verächtlich blickt Emil auf die große Stadt zurück und sagt unwillig: »Wie viele Tage in vergeblichem Suchen verloren! Ach, hier ist es nicht, wo die Frau nach meinem Herzen weilt! Sie wissen es gar wohl, theurer Freund, doch ist Ihnen an meiner Zeit nichts gelegen, und an meinen Leiden nehmen Sie wenig Antheil.« Ich sehe ihn scharf an und sage zu ihm, ohne Aufregung zu verrathen: »Emil, glaubst du wirklich, was du da sagst?« Sofort fällt er mir voller Verwirrung um den Hals und drückt mich lautlos in seine Arme. Das ist stets seine Antwort, wenn er Unrecht hat.

So ziehen wir denn als ächte fahrende Ritter durchs Land; nicht etwa insofern, daß wir wie jene auf Abenteuer ausgehen, vor denen wir vielmehr durch unsere Abreise von Paris die Flucht ergreifen, sondern in der Weise, daß wir ihre Irrfahrten nachahmen, uns an keine Regel bindend, bald mit verhängten Zügeln dahinsprengend, bald langsam einherschlendernd. Wer die Art und Weise, die ich einzuschlagen pflege, beobachtet hat, wird den Geist meiner Methode wol endlich begriffen haben, und ich setze außerdem voraus, daß keiner meiner Leser in so hohem Grade von der jetzigen Sitte eingenommen sein wird, um uns zutrauen zu können, daß wir Beide im bequemen und festverschlossenen Postwagen schnarchend auf der staubigen Landstraße daherrollen werden, ohne uns umzusehen und zu beobachten, indem wir den Zwischenraum vom Orte unserer Abreise bis zu dem der Ankunft gleichsam überspringen und trotz der Geschwindigkeit unserer Fahrt doch nur Zeit verlieren, während wir uns einbilden, Zeit zu ersparen.

Man hört fortwährend die Behauptung, das Leben sei kurz, und dem gegenüber mache ich die auffallende Bemerkung, daß sich die Menschen geradezu anstrengen, es erst recht kurz zu machen. Da sie die Zeit nicht auszukaufen verstehen, beklagen sie sich über den eiligen Flug derselben und trotzdem sehe ich, daß sie ihrer Ansicht nach zu langsam dahinfließt. Ausschließlich mit dem Ziele beschäftigt, nach welchem sie streben, schauen sie mit Bedauern auf den Zwischenraum, der sie von demselben trennt. Der Eine wünscht, es möchte erst morgen sein, ein Anderer, es möchte ein Monat, wieder ein Anderer, es möchten zehn Jahre verflossen sein. Niemand will für heute leben, Niemand ist mit der Minute, in der er lebt, zufrieden, Allen scheint sie zu langsam dahinzuschleichen. Wenn sie sich beklagen, daß die Zeit zu schnell dahineile, so sprechen sie eine Lüge. Sie möchten gern Alles dahingeben, wenn sie dafür die Fähigkeit erlangen könnten, den Lauf der Zeit zu beschleunigen. Sie würden gern ihr Vermögen daran setzen, wenn sie ihr ganzes Leben in dieser Weise sprungweise verzehren könnten, und es würde vielleicht keinen Einzigen geben, der seine Lebensjahre nicht auf wenige Stunden abgekürzt hätte, wenn er die Macht besessen, diejenigen zu entfernen, welche ihm Langeweile erregten oder ihn bei seiner Ungeduld auch nur von dem ersehnten Augenblicke trennten. So vergeudet Mancher fast die Hälfte seines Lebens nur damit, daß er unaufhörlich von Paris nach Versailles, von Versailles nach Paris, von der Stadt auf das Land, vom Lande in die Stadt und von einem Viertel in das andere zieht, welcher wegen seiner Zeit sehr in Verlegenheit gerathen würde, wenn er nicht das Geheimniß kännte, sie in der geschilderten Weise zu verlieren, und der sich nur deshalb von seinen Geschäften entfernt, um sich damit beschäftigen zu können, sie zu suchen. Er glaubt die Zeit, welche er jetzt mehr darauf verwendet, und mit der er sonst doch nichts anzufangen wüßte, als Gewinn betrachten zu können; oder er eilt wol gar auch nur, um zu eilen, und kommt plötzlich mit der Post in keiner anderen Absicht angefahren, als um gleich wieder mit ihr zurückzukehren. Sterbliche, werdet ihr denn nie aufhören, die Natur zu lästern? Weshalb wollt ihr euch beklagen, daß das Leben so kurz ist, da es eurer Ansicht nach noch nicht kurz genug ist? Wenn ein Einziger unter euch ist, welcher seine Begierden in dem Grade zu mäßigen versteht, daß er nie den Wunsch hegt, die Zeit möge verfließen, dann wird sie ihm auch nie zu kurz vorkommen. Leben und genießen werden für ihn identische Begriffe sein, und selbst, wenn er im frühen Alter stürbe, wird er mit Befriedigung über den Verlauf seiner Lebenstage seine Augen schließen. Qui nullum non tempus in usus suos confert ... nec optat crastinum nec timet. Quantulacumque itaque abundo sufficiet, et ideo quandocumque ultimus dies venerit, non cunctabitur sapiens ire ad mortem. Seneca, de brev. vit. cap. 7 et 11.

Wenn mir meine Methode auch nur diesen einen Vortheil bringen würde, so müßte ich sie schon deshalb einer jeden anderen vorziehen. Ich habe meinen Emil nicht zum Wünschen und Erwarten, sondern zum Genießen erzogen. Auch da, wo seine Wünsche über die Gegenwart hinausschweifen, geschieht es doch nicht mit einer so leidenschaftlichen Hitze, daß ihm der scheinbar so träge Verlauf der Zeit unerträglich würde. Er wird nicht allein die Freude genießen, Wünsche zu hegen, sondern wird auch zugleich einen Genuß darin finden, der Erfüllung derselben entgegenzugehen. Außerdem sind seine Leidenschaften so gemäßigt, daß er mit seinen Gedanken stets mehr da weilen wird, wo er ist, als wo er künftig sein wird.

Wir reisen also nicht mit Extrapost, sondern wie einfache Wanderer. Wir denken nicht allein an die beiden Endpunkte unserer Reise, sondern auch an den Weg, der zwischen ihnen liegt. Die Reise selbst gewährt uns Genuß; sitzen wir doch nicht mißgestimmt und wie eingepfercht in einem kleinen festverschlossenen Käfige, noch reisen wir mit der Weichlichkeit und Ruhe der Frauen. Wir sperren uns nicht gegen die freie Luft ab, noch berauben wir uns des Anblicks der uns umringenden Gegenstände, noch lassen wir uns um die Gelegenheit bringen, sie nach Herzenslust und so oft es uns gefällt in Augenschein zu nehmen. Emil wird seinen Fuß nie in einen Postwagen setzen, nie mit der Post fahren, wenn nicht die größte Eile nöthig ist. Aber was könnte Emil wol je zur Eile bestimmen? Nur ein Einziges, der Lebensgenuß. Soll ich etwa noch hinzufügen Gutes zu thun, wenn sich ihm die Möglichkeit darbietet? Nein, denn darin liegt ja eben der Lebensgenuß. Le voyager me semble un exercice profitable ... S'il fait laid à droite, je prends à gauche. Ai-je laissé quelque chose derrière moi, j'y retourne; c'est toujours mon chemin ... La pluspart ne prennent l'aller que pour le venir; ils voyagent, couverts et resserés d'une prudence taciturne et incommunicable, se deffendants de la contagion d'un air incogneu. – Montaigne, liv. III, ch. 9.

Ich kann mir nur eine Art zu reisen vorstellen, die noch angenehmer als das Reisen zu Pferde ist, nämlich das Reisen zu Fuß. Man bricht nach Belieben auf, rastet, wenn es einem behagt und macht größere oder kleinere Tagesreisen, je nach Lust und Laune. Man betrachtet die ganze Gegend; wendet sich bald zur Rechten, bald zur Linken; untersucht Alles, was einen ergötzt, und macht an allen Aussichtspunkten Halt. Fällt mir ein Fluß auf, so wandere ich sein Ufer entlang; bemerke ich einen Laubwald, so suche ich seinen Schatten; gewahre ich eine Grotte, so lenke ich meine Schritte nach ihr; stoße ich auf einen Steinbruch, so untersuche ich sein Gestein. Ueberall, wo es mir gefällt, weile ich. In demselben Augenblicke, wo ich mich zu langweilen beginne, setze ich meinen Wanderstab weiter. Ich bin weder von den Pferden, noch vom Postillon abhängig. Ich brauche mich deshalb nicht an die fahrbaren Straßen und bequemen Wege zu binden. Ich komme überall hin, wohin sich ein Mensch den Weg zu bahnen vermag, ich sehe Alles, was ein Mensch sehen kann, und da ich lediglich von mir abhängig bin, so genieße ich alle Freiheit, die irgend ein Mensch nur genießen kann. Hält mich schlechtes Wetter auf und bemächtigt sich meiner Langeweile, so nehme ich Pferde. Uebernimmt mich Müdigkeit... Aber Emil ermüdet nicht so leicht, er ist kräftig; und weshalb sollte er auch ermüden, da er es nie so eilig hat? Wenn er unterwegs Halt macht, wie könnte er dann Langeweile empfinden? Die Gegenstände seiner Unterhaltung trägt er beständig bei sich. Er sucht einen Meister auf und arbeitet; er setzt seine Arme in Bewegung, um seinen Füßen Ruhe zu gewähren.

Zu Fuß reisen heißt reisen wie Thales, Plato und Pythagoras. Es ist mir schwer faßlich, wie sich ein Philosoph entschließen kann, anders zu reisen und sich selbst um die Gelegenheit zu bringen, die Reichthümer zu erforschen, über welche sein Fuß dahinschreitet und welche die Natur in verschwenderischer Fülle vor seinen Blicken ausbreitet. Wer, der nur ein wenig Gefallen am Landbau findet, hätte nicht Lust, die Erzeugnisse, welche dem Klima der durchwanderten Gegenden eigenthümlich sind, so wie die Art ihrer Cultur kennen zu lernen? Wer kann, wenn er auch nur im geringen Grade ein Freund der Naturgeschichte ist, sich wol entschließen, über ein Erdreich hinzuschreiten, ohne es einer Untersuchung zu unterziehen, einen Felsen zu erklettern, ohne ein Stück davon abzuschlagen, Gebirge zu durchwandern, ohne Pflanzen zu sammeln, mit dem Fuß an Kiesel zu stoßen, ohne nach Fossilien zu suchen? Eure Philosophen, welche sich vor den Damen mit ihren naturwissenschaftlichen Kenntnissen brüsten, haben dieselben in Naturaliencabinetten eingesammelt; sie wissen allerlei Firlefanzereien, sind mit den Namen bekannt, haben aber keinen Begriff von der Natur. Emils Cabinet ist dagegen weit reicher ausgestattet als die umfangreichsten königlichen Sammlungen, denn sein Cabinet umfaßt die ganze Erde. Jedes Ding befindet sich hier an seinem rechten Platze. Der Naturkenner, der diesem Cabinet seine Sorge widmet, hat Alles in die schönste Ordnung gebracht. Daubenton Daubenton war des berühmten Buffons Mitarbeiter. würde es nicht besser machen können.

Wie mannigfaltige Vergnügen vereint man doch bei dieser angenehmen Art zu reisen, ganz abgesehen davon, daß die Gesundheit dadurch gekräftigt und die Laune heiterer wird. Ich habe stets die Beobachtung gemacht, daß die Reisenden, welche sich bequemer weicher Wagen bedienen, träumerisch, übelgelaunt, mürrisch oder leidend aussehen, während die Fußgänger beständig heiter, guter Dinge und mit Allem zufrieden sind. Wie lacht das Herz, wenn man sich der Nachtherberge naht! Wie schmackhaft erscheint das einfachste Mahl! Mit welchem Behagen gönnt man seinen Gliedern bei Tische die verdiente Ruhe! Wie sanft schläft es sich auch in schlechtem Bette! Wer nur darauf ausgeht, sein Ziel zu erreichen, mag immerhin mit der Post fahren, wer aber reisen will, der muß zu Fuß gehen.

Wenn Sophie nicht, noch ehe wir fünfzig Stunden weit auf diese Weise gewandert sind, vergessen ist, so fehlt es mir entweder an Geschicklichkeit, oder Emil besitzt nur äußerst geringe Wißbegierde, denn bei seinen vielen Elementarkenntnissen müßte es eigenthümlich zugehen, wenn er sich nicht versucht fühlen sollte, sich deren noch mehr zu erwerben. Man ist nur in dem Maße wißbegierig, als man Kenntnisse besitzt, und er weiß gerade genug, um Lust zum Lernen zu haben.

So werden wir denn rastlos von Diesem zu Jenem geführt, und gelangen mittlerweile immer weiter. Ich habe uns für unsern ersten Ausflug ein weites Ziel gesteckt. Der Vorwand dazu liegt auf der Hand. Da wir Paris verlassen, müssen wir ein Weib in der Ferne suchen.

Eines Tages sind wir mehr als gewöhnlich in den Thälern und auf den Bergen, wo kein Pfad mehr zu entdecken war, umhergeirrt und können den Rückweg nicht wiederfinden. Das hat indeß wenig zu sagen, denn auch jeder andere Weg ist uns recht, wenn er nur zum Ziele führt. Wenn sich aber der Hunger meldet, muß man irgend wo unterzukommen suchen. Glücklicherweise treffen wir einen Bauer, der uns in seine Hütte führt. Mit großem Appetit greifen wir zu dem dürftigen Mahle zu. Als er gewahrt, daß wir so ermattet und hungrig sind, sagt er zu uns: »Wenn der liebe Gott Ihre Schritte nach der andern Seite des Hügels gelenkt hätte, würden Sie eine bessere Aufnahme gefunden haben. Sie würden in ein Haus des Friedens getreten sein, würden so menschenfreundliche ... so liebe Leute kennen gelernt haben... Sie haben zwar kein besseres Herz als ich, sind aber reicher, obgleich verlautet, daß sie früher in noch weit größerem Wohlstande gelebt haben ... Nun, sie haben, Gott sei Dank, nicht mit Entbehrungen zu kämpfen, und lassen die ganze Gegend an dem, was ihnen geblieben ist, Theil nehmen.«

Bei dieser Erzählung von den guten Leuten wird Emils Herz freudig erregt. »Mein Freund,« beginnt er, indem er mich anblickt, »lassen Sie uns das Haus aussuchen, dessen Besitzer von der Nachbarschaft gesegnet werden. Ich würde mich sehr freuen, sie kennen zu lernen; vielleicht wird es ihnen ebenfalls Freude bereiten, unsere Bekanntschaft zu machen. Ich halte mich überzeugt, daß sie uns freundlich aufnehmen werden. Gehören sie zu den Unserigen, so werden wir auch die Ihrigen sein.«

Nachdem uns die Lage des Hauses beschrieben war, machen wir uns auf den Weg und irren im Walde umher. Unterwegs überrascht uns ein heftiger Regenguß. Er hält uns zwar auf, vermag uns aber von unserm Vorhaben nicht zurückzubringen. Endlich finden wir uns wieder zurecht und gelangen, als schon der Abend einbricht, bei dem beschriebenen Hause an. Unter den Gebäuden des Dörfchens, in welchem es liegt, ist es das einzige, das sich bei aller Einfachheit durch ein gewisses stattliches Aeußere auszeichnet. Wir nennen unsere Namen und bitten um gastfreundliche Aufnahme. Man führt uns zum Hausherrn. Er fragt uns aus, aber in höflichster Form. Ohne ihm den Zweck unserer Reise zu verrathen, theilen wir ihm doch die Ursache unseres Umwegs mit. Aus der Zeit seines früheren Wohlstandes hat er sich die Sicherheit des Blicks bewahrt, aus dem Benehmen der Menschen ihren Stand zu erkennen. Wer einmal in der großen Welt gelebt hat, täuscht sich hierin selten. Unser Aeußeres muß ihm wol empfehlenswerth erscheinen, und so wird uns denn der Eintritt gestattet.

Man weist uns ein zwar sehr kleines, aber äußerst sauberes und günstig gelegenes Zimmer an; es wird eingeheizt, wir finden Leinenzeug und frische Wäsche, kurz Alles, was uns Noth thut. »Wie,« sagt Emil ganz erstaunt, »sollte man nicht glauben, daß wir erwartet wären? O, wie recht hatte jener Bauer! Welche Zuvorkommenheit, welche Güte, welche Fürsorge! Und noch dazu für Unbekannte. Mir ist's, als wäre ich in die Zeiten Homers versetzt.« – »Erkenne es dankbar an,« erwidere ich ihm, »wundere dich aber deshalb nicht. Ueberall sind Fremde willkommen, wo sie eine seltene Erscheinung sind. Je weniger Gelegenheit sich darbietet, Gastfreundschaft zu üben, desto gastfreier wird man. Der Zulauf der Gäste zerstört die Gastfreundschaft. Zu den Zeiten Homers reiste man nicht viel, und die Reisenden fanden deshalb überall eine freundliche Aufnahme. Wir sind vielleicht die einzigen Fremden, die sich seit Jahr und Tag hier haben blicken lassen.« – »Das thut nichts zur Sache,« versetzte er, »es ist sogar ein Lob, die Gäste entbehren zu können, und sie trotzdem stets freundlich aufzunehmen.«

Nachdem wir unsere Kleider getrocknet und einigermaßen in Ordnung gebracht haben, begeben wir uns wieder zu dem Herrn des Hauses. Er stellt uns seiner Gattin vor; sie empfängt uns nicht allein mit Höflichkeit, sondern auch mit Güte. Emil hat die Ehre, ihre Blicke vorzugsweise auf sich zu lenken. Eine Mutter in ihrer Lage sieht einen Mann seines Alters selten ohne Unruhe oder wenigstens ohne Neugier in ihr Haus treten.

Uns zu Liebe läßt man das Abendbrod früher auftragen. Beim Eintritt in den Speisesaal bemerken wir fünf Gedecke. Als wir Platz nehmen, bleibt ein Stuhl leer. Plötzlich tritt ein junges Mädchen ein, verneigt sich tief und setzt sich bescheiden, ohne ein Wort zu äußern. Emil, mit Befriedigung seines Hungers und mit Antworten beschäftigt, grüßt sie, plaudert und ißt weiter. Der eigentliche Zweck seiner Reise liegt seinen Gedanken so fern, daß er sich noch weit vom Ziele glaubt. Die Unterhaltung dreht sich um uns Wanderer und um unser Mißgeschick, uns verirrt zu haben. »Mein Herr,« sagt unser freundlicher Wirth zu Emil, »Sie scheinen mir ein liebenswürdiger und verständiger junger Mann zu sein, und das erinnert mich daran, daß Sie und Ihr Begleiter bei uns fast in ähnlicher Lage, nämlich müde und durchnäßt, angelangt sind, wie einst Telemach und sein Mentor auf der Insel der Kalypso.« – »In Wahrheit können wir wenigstens sagen,« erwidert Emil, »daß uns die Gastfreundschaft der Kalypso zu Theil wird,« und sein Mentor fügt noch hinzu: »Zugleich finden wir auch die Reize der Eucharis.« Obwol nun Emil die Odyssee kennt, hat er doch den Telemach nicht gelesen. Er weiß deshalb nicht, wer Eucharis ist. Dagegen bemerke ich, daß das junge Mädchen wie mit Blut übergossen ist, starr ans ihren Teller blickt und kaum zu athmen wagt. Die Mutter, welcher die Verlegenheit ihrer Tochter nicht entgeht, macht dem Vater ein Zeichen, und dieser gibt dem Gespräch eine andere Richtung. Während er von seiner Zurückgezogenheit redet, öffnet er uns allmählich sein Herz immer mehr und erzählt von den Begebenheiten, um deren willen er dieselbe aufgesucht, von den Unglücksfällen seines Lebens, von der Standhaftigkeit seiner Gemahlin, von dem Troste, welchen sie in ihrer Verbindung gefunden, von dem friedlichen und ruhigen Leben, welches sie in ihrer Einsamkeit führen, ohne dabei auch nur mit einem Worte des jungen Mädchens zu erwähnen. Seine Erzählung, welche man nicht ohne Interesse anzuhören vermag, macht einen angenehmen und zugleich rührenden Eindruck. Emil hört, bewegt und gerührt, zu essen auf, um desto gespannter zuhören zu können. Und als sich nun am Schlüsse der redlichste der Männer mit strahlender Freude über die aufrichtige Zuneigung der ehrenwerthesten aller Frauen ergeht, ergreift der junge Reisende leidenschaftlich die Hand des Gatten und drückt sie, während er mit der andern die Hand der Wirthin nimmt, sich begeistert über sie neigt und mit seinen Thränen netzt. Die kindliche Lebhaftigkeit des jungen Mannes erfüllt alle Zeugen mit Entzücken. Die Tochter des Hauses jedoch, für dieses Zeichen seines guten Herzens empfänglicher als irgend ein Anderer, glaubt Telemach in ihm zu sehen, wie er von den Leiden des Philoktet ergriffen ist. Verstohlen schaut sie zu ihm herüber, um seine Gestalt zu prüfen, und findet nichts, was diesen Vergleich Lügen straft. Sein ungezwungenes Wesen verräth Freimüthigkeit ohne Anmaßung; in seinem Benehmen spricht sich eine große Lebhaftigkeit aus, ohne daß dieselbe jedoch auf Leichtsinn schließen läßt. Seine natürliche Güte verleiht seinem Blicke etwas Sanftes, gibt seinen Zügen etwas Rührendes. Als ihn das junge Mädchen Thränen vergießen sieht, vermag es kaum seine eigenen zurückzuhalten. Aber eine geheime Scham gibt ihm selbst bei diesem so schönen Vorwande die Kraft, sich zu beherrschen. Schon macht es sich Vorwürfe über die Thränen, die es nur mit Mühe zurückdrängen kann, als ob es ein Unrecht wäre, Thränen für seine Familie zu vergießen.

Die Mutter, welche ihre Tochter seit Beginn des Mahles nicht aus den Augen gelassen hat, bemerkt den Zwang, den sie sich anthun muß, und befreit sie aus ihrer Verlegenheit, indem sie sie mit einem Auftrage fortschickt. Schon in der nächsten Minute kehrt das junge Mädchen zurück, aber so außer aller Fassung, daß seine Verwirrung Aller Augen sichtbar ist. Sanft redet die Mutter es deshalb an und sagt: »Sophie, fasse dich; wirst du denn nie aufhören das Unglück deiner Eltern zu beweinen? Du, die du ihnen ein Trost in demselben bist, darfst dich dem Kummer nicht mehr hingeben als sie selbst.«

Bei dem Namen Sophie hättet ihr sehen können, wie Emil erbebte. Von dem Klange eines ihm schon so theuren Namens betroffen, fährt er plötzlich wie aus einem tiefen Schlafe auf und wirft der, welche ihn sich zu führen unterfängt, einen aufmerksamen Blick zu. Sophie, o Sophie! Bist du es, die mein Herz sucht? Bist du es, die mein Herz liebt? Er betrachtet und beobachtet sie mit einer Art Furcht und Mißtrauen. Er sieht vor sich nicht genau das Bild, welches er sich von ihr entworfen hat; er kann sich nicht klar darüber werden, ob die, auf der seine Blicke ruhen, das Bild seiner Phantasie übertrifft oder nicht erreicht. Er studirt jeden ihrer Züge, belauscht jede Bewegung, jede Geberde und findet für Alles tausend verwirrende Auslegungen. Die Hälfte seines Lebens würde er darum geben, wenn sie nur ein einziges Wort reden wollte. Unruhig und aufgeregt blickt er mich an. In seinen Augen lese ich hundert Fragen, aber auch hundert Vorwürfe. Er scheint mir mit jedem Blicke sagen zu wollen: »Leite mich, so lange es noch Zeit ist; wenn mein Herz sich erst ergibt und sich nachher getäuscht findet, werde ich diesen Schlag zeitlebens nicht überwinden können.«

Emil ist wol in der ganzen Welt der Mensch, welcher sich am wenigsten zu verstellen versteht. Wie sollte er wol in der größten Verwirrung seines Lebens dazu im Stande sein, umgeben von vier Zuschauern, deren Blicke prüfend auf ihm ruhen und unter denen gerade der scheinbar zerstreuteste in Wirklichkeit der aufmerksamste ist? Sophiens scharfem Auge entgeht seine Verwirrung nicht, und seine Blicke lassen sie errathen, daß sie die Ursache derselben ist. Sie bemerkt zwar, daß seine Unruhe noch nicht die Folge seiner erwachenden Liebe ist, allein was hat das zu sagen? Er beschäftigt sich doch schon mit ihr, und das ist ihr vor der Hand genügend. Sie würde sich sehr unglücklich fühlen, wenn er sich ungestraft mit ihr beschäftigen könnte.

Die Mütter haben eben so scharfe Augen wie ihre Töchter, und außerdem steht ihnen die Erfahrung zur Seite. Sophiens Mutter lächelt über den Erfolg unserer Pläne. Sie liest in den Herzen der beiden jungen Leute, begreift, daß es jetzt an der Zeit ist, das des neuen Telemach für immer zu gewinnen, und veranlaßt ihre Tochter deshalb zum Reden. Dieselbe antwortet mit ihrer natürlichen Sanftmuth in schüchternem Tone, was den Eindruck, welchen sie auf Emil ausübt, nur noch zu erhöhen vermag. Beim ersten Tone dieser Stimme fühlt er sich für immer gefesselt. Ja, das ist seine Sophie, er kann nicht länger daran zweifeln. Wäre es nicht der Fall, so würde es nun zu spät sein, er könnte nicht mehr zurück.

Unwiderstehlich umstricken jetzt die Reize des bezaubernden Mädchens sein Herz, und in langen Zügen beginnt er das Gift einzusaugen, mit dem sie ihn berauscht. Er redet nicht mehr, er antwortet nicht mehr. Er sieht nur Sophie, er hört nur Sophie. Spricht sie ein Wort, so öffnet er unwillkürlich den Mund; senkt sie die Augen, so senkt er sie ebenfalls. Hört er sie seufzen, so seufzet er mit. Es ist Sophiens Seele, die ihn zu beseelen scheint. Welche Aenderung ist in der seinigen in wenigen Augenblicken vor sich gegangen! Jetzt hat Sophie nicht mehr zu zittern nöthig, die Reihe ist nun an ihn gekommen. Lebe wohl Freiheit, Unbefangenheit, Offenheit! Verwirrt, verlegen, schüchtern, wagt er nicht mehr um sich zu schauen, weil er zu sehen fürchtet, daß er der Gegenstand der allgemeinen Beobachtung ist. Voller Scham, sein Geheimniß zu verrathen, wünscht er sich unsichtbar machen zu können, nur damit er im Stande wäre, sich unbemerkt an ihr satt zu sehen. Sophie dagegen kommt immer mehr von ihrer Furcht vor Emil zurück. Sie erkennt ihren Sieg und freut sich seiner.

No 'l mostra già, ben che in suo cor ne rida.

Tasso, Gerusalemme liberata, c. IV, 33. – Nach der Uebersetzung von J. D. Gries:

Doch zeigt sie's nicht, obwol bei jedem Schritte
Ihr lächelnd Herz vor Siegeshoffnung wallt.

Ihre Haltung ist unverändert dieselbe geblieben, allein trotz ihrer sittsamen Miene und ihrer gesenkten Augen klopft ihr zärtliches Herz vor Freude und sagt ihr, daß Telemach gefunden ist.

Wenn ich hier auf die vielleicht zu natürliche und zu einfache Geschichte ihrer unschuldigen Liebe eingehe, so wird man möglicherweise geneigt sein, solche Einzelheiten als ein nichtiges Spiel zu betrachten. Indeß hat man Unrecht. Man berücksichtigt den Einfluß nicht genug, welchen der Beginn einer Liebschaft zwischen einem Manne und einer Frau auf Beider ganzes Leben ausüben muß. Man übersieht, daß ein erster Eindruck, der so lebhaft wie der der Liebe oder der anfänglich noch ihre Stelle vertretenden Zuneigung ist, bleibende Folgen hat, deren Verkettung man im Verlaufe der Jahre allerdings nicht wahrnimmt, die aber trotzdem bis zum Tode in unaufhörlicher Wirksamkeit sind. Zu den Abhandlungen über Erziehung gibt man uns viel unnützen und pedantischen Wortkram über rein eingebildete Pflichten der Kinder, aber man übergeht stillschweigend den wichtigsten und schwierigsten Theil der ganzen Erziehung, die Krisis nämlich, welche bei dem Uebergange aus der Kindheit in das Mannesalter stattfindet. Wenn ich vorliegende Abhandlung durch irgend eine Stelle habe nützlich machen können, so wird der Grund dazu vor Allem darin liegen, daß ich mich über diesen wesentlichen Theil, der leider von allen Andern übergangen zu werden pflegt, ausführlich ausgesprochen habe, und daß ich mich von diesem Unternehmen durch kein falsches Zartgefühl habe abhalten, noch durch die Schwierigkeiten der Ausdrucksweise zurückschrecken lassen. Wenn ich gesagt habe, was man thun muß, so habe ich gesagt, was zu sagen meine Pflicht ist. Ich kümmere mich sehr wenig darum, ob ich deshalb einen Roman geschrieben habe. Ein Roman, der die menschliche Natur zu seinem Gegenstande hat, muß gewiß zu den guten gerechnet werden. Wenn man aus dieser Schrift nicht mehr herausfindet, liegt dann etwa die Schuld an mir? Sie sollte die Geschichte meines Geschlechts sein. Ihr, die ihr sie verderbt, macht freilich einen Roman aus meinem Buche.

Eine andere Erwägung, welche die erste noch verstärkt, ist, daß es sich ja hier nicht um einen jungen Mann handelt, den man von Kindheit an zum Spielball der Furcht, der Lüsternheit, des Neides, des Stolzes und all der Leidenschaften, deren man sich bei der gewöhnlichen Erziehung als Werkzeuge bedient, gemacht hat, daß es sich im Gegentheile um einen jungen Mann handelt, dessen Herz hier nicht allein zum ersten Male in Liebe erglüht, sondern der überhaupt zum ersten Male die Gewalt einer Leidenschaft kennen lernt; daß endlich von dieser Leidenschaft, der einzigen vielleicht, welche er in seinem ganzen Leben in ihrer vollen Tiefe empfindet, die letzte Gestalt abhängt, welche sein Charakter annehmen darf. Seine Denkart, seine Gefühle, seine Neigungen, welche eine dauernde Leidenschaft in eine bestimmte Richtung gedrängt hat, sollen jetzt eine Festigkeit gewinnen, die nichts mehr zu erschüttern vermag.

Begreiflicherweise verbrachten Emil und ich die auf einen solchen Abend folgende Nacht nicht völlig mit Schlafen. Weshalb denn nicht? Kann die bloße Übereinstimmung des Namens auf einen vernünftigen Mann eine so große Macht ausüben? Gibt es etwa nur eine Sophie in der Welt? Gleichen sich Alle wie dem Namen so auch der Seele nach? Ist eine Jede, die ihm unter die Augen treten wird, seine Sophie? Ist er ein Narr, daß er für eine Unbekannte, mit welcher er noch kein Wort gewechselt hat, eine so leidenschaftliche Liebe faßt? Warte, junger Mann, prüfe, beobachte! Du weißt ja noch nicht einmal, in wessen Hause du dich befindest, und wenn man auf dich hören wollte, so sollte man glauben, du wärest schon in deinem eigenen.

Jetzt ist es nicht mehr an der Zeit, Belehrungen zu ertheilen, und sie sind auch nicht dazu angethan, Gehör zu finden. Sie sind nur Veranlassung, dem jungen Manne ein neues Interesse für Sophie einzuflößen, da sie das Verlangen in ihm rege machen, seine Neigung zu rechtfertigen. Diese Gleichheit der Namen, diese scheinbar zufällige Begegnung, selbst meine Zurückhaltung reizen nur seine Leidenschaft. Schon erscheint ihm Sophie zu achtungswerth, als daß er sich nicht für überzeugt hielte, es würde ihm gelingen, sie mir in einem solchen Lichte zu zeigen, daß auch ich sie lieb gewinnen müßte.

Allem Vermuthen nach wird sich Emil am nächsten Morgen bemühen, auf seinen schlichten Reiseanzug eine mehr als gewöhnliche Sorgfalt zu verwenden. Es kann gar nicht ausbleiben. Namentlich nöthigt mir die Geschäftigkeit, mit welcher er von der dem Hause gehörenden Wäsche Gebrauch macht, ein Lächeln ab. Ich durchschaue seine Gedanken. Indem er Maßregeln ergreift, die eine Rückerstattung, einen Umtausch nöthig machen, sucht er bereits, wie ich mit Freuden sehe, eine Ursache zum Briefwechsel herbeizuführen, der ihm die Berechtigung gibt, hierher zurückzuschicken oder wol gar selbst zurückzukehren.

Ich hatte mit Sicherheit erwartet, auch Sophie ihrerseits in gewählterer Kleidung erscheinen zu sehen. Indeß hatte ich mich getäuscht. Diese gewöhnliche Art der Coquetterie ist ein Nothbehelf für diejenigen, welche nur gefallen wollen. Die Coquetterie der wahren Liebe ist geläuterter und erhebt ganz andere Ansprüche. Sophie ist noch einfacher, ja selbst nachlässiger als den Abend vorher gekleidet, wenn auch mit der ausgesuchtesten Sauberkeit. In einer solchen Nachlässigkeit vermag ich nur Coquetterie zu erblicken, weil ich darin etwas Gesuchtes sehe. Sophie begreift recht wohl, daß in einer gewählteren Kleidung eine Art Erklärung liegen würde, ahnt indeß nicht, daß eine nachlässigere Kleidung ebenfalls eine Erklärung ist, in welcher sich deutlich zu erkennen gibt, daß man sich nicht damit begnügt, durch den Anzug zu gefallen, sondern daß man auch durch seine Person Gefallen erregen will. Was fragt der Liebende auch nach der Kleidung, wenn er nur wahrnimmt, daß man sich mit ihm beschäftigt? Ihrer Herrschaft schon sicher, geht Sophie nicht mehr darauf aus, Emils Aufmerksamkeit durch ihre Reize zu erregen, wenn er nicht selber ein Auge für sie hat. Sie findet ihr Genüge nicht mehr daran, sie ihm sichtbar zu machen, sie verlangt schon, daß er sie voraussetzen soll. Hat er nicht schon genug erblickt, um sich gezwungen zu sehen, die übrigen zu ahnen?

Es läßt sich annehmen, daß sich während unserer nächtlichen Unterhaltung Sophie und ihre Mutter gleichfalls nicht stumm verhalten haben, gab es doch Geständnisse zu entlocken und gute Rathschläge zu ertheilen. Am folgenden Morgen versammelt man sich deshalb wohl vorbereitet. Noch keine zwölf Stunden sind verstrichen, seit sich unsere jungen Leute zum ersten Male gesehen haben; noch kein einziges Wort haben sie mit einander gewechselt, und schon kann man bemerken, daß sie einander verstehen. Ihr Entgegenkommen deutet auf keine Vertraulichkeit hin, es verräth Verlegenheit und Schüchternheit; sie reden einander nicht an, ihre niedergeschlagenen Augen scheinen einander zu vermeiden, allein gerade das ist ein Zeichen ihres Einverständnisses. Sie gehen sich aus dem Wege, aber wie verabredetermaßen; sie fühlen schon das Bedürfniß, sich in den Schleier des Geheimnisses zu hüllen, ehe es noch etwas zu verheimlichen gibt. Als wir uns verabschieden, bitten wir um die Erlaubnis, das Geliehene persönlich zurückbringen zu dürfen. Emils Mund erbittet diese Erlaubniß vom Vater und von der Mutter, während sich seine unruhigen Augen auf die Tochter heften und sie noch weit inständiger darum bitten. Sophie sagt nichts, gibt kein Zeichen, scheint nichts zu sehen noch zu hören, allein sie erröthet, und dieses Erröthen ist eine noch klarere Antwort als die ihrer Eltern.

Man gestattet uns wiederzukommen, ohne uns jedoch zum Bleiben einzuladen. Dies Verhalten ist ganz schicklich; man gibt wol Reisenden, die um ein Nachtlager verlegen sind, Herberge, allein es paßt sich nicht, daß ein Liebender im Hause seiner Geliebten schläft.

Kaum haben wir das uns so lieb gewordene Haus im Rücken, so schmiedet Emil schon Pläne, in der Umgegend seinen Wohnsitz aufzuschlagen. Die nächste Strohhütte scheint ihm schon zu entfernt zu liegen; er hätte Lust, sich ein Nachtlager im Schloßgraben zu suchen. »Unbesonnener Jüngling,« sage ich zu ihm im Tone des Mitleids, »wie, hast du dich von der Leidenschaft schon verblenden lassen? Schon setzest du dich über Schicklichkeit und Vernunft hinweg! Unglücklicher! Du glaubst zu lieben, und gehst selber darauf aus, die Ehre deiner Geliebten zu beflecken! Was wird man von ihr sagen, wenn man in Erfahrung bringt, daß ein junger Mann, der so eben erst ihr Haus verlassen hat, in der Umgebung desselben schläft? Du liebst sie, wie du behauptest. Kannst du es dir also wol zur Aufgabe stellen, ihren Ruf zu zerstören? Vergiltst du so die Gastfreundschaft, die ihre Eltern dir erwiesen haben? Willst du derjenigen, von der du dem Glück erwartest, Schande bereiten?« – »Ach,« versetzte er lebhaft, »was frage ich nach dem leeren Gerede der Menschen und ihrem ungerechten Urtheile! Haben Sie selbst mich nicht gelehrt, keinen Werth darauf zu legen? Wer kann besser als ich wissen, wie sehr ich Sophie ehre und wie ich nur darauf sinne, ihr meine Achtung zu erweisen? Meine Liebe soll ihr nicht zum Schimpfe, sondern zur Ehre gereichen, sie soll ihrer würdig sein. Wenn mein Herz und meine Aufmerksamkeiten ihr überall die verdiente Huldigung darbringen, wie kann darin ein Schimpf für sie liegen?« – »Lieber Emil,« erwidere ich, ihn umarmend, »du stellst dich bei deinem Urtheile nur auf deinen Standpunkt; lerne aber auch dich auf ihren zu versetzen. Vergleiche die Ehre des einen Geschlechts nicht mit der des andern; bei beiden gelten ganz verschiedene Grundsätze. Diese Grundsätze sind gleich berechtigt und vernünftig, weil sie in gleicher Weise aus der Natur abgeleitet werden, und weil die nämliche Tugend, die dich für deine eigene Person das Gerede der Menschen verachten läßt, dir die Pflicht auferlegt, es in Bezug auf deine Geliebte zu achten. Deine Ehre beruht in dir allein, die ihrige dagegen ist an das Urtheil Anderer geknüpft. Ihre Ehre nicht fleckenlos erhalten, hieße deine eigene verletzen, und du würdest nicht handeln, wie du es dir selbst schuldig bist, wenn du die Schuld trügest, daß man nicht so gegen sie handelt, wie man es ihr schuldig ist.«

Indem ich ihm darauf die Gründe dieses Unterschieds erkläre, bringe ich es ihm zum Bewußtsein, welche Ungerechtigkeit darin liegen würde, ihnen keinen Werth beizumessen. Wer hat ihm denn schon die Versicherung gegeben, daß er Sophie, deren Gesinnungen gegen ihn er durchaus noch nicht kennt, deren Herz oder deren Eltern vielleicht schon früher über ihre Hand verfügt haben, wirklich als Gemahlin heimführen wird, sie, welche er kaum kennt und die vielleicht in keinem der Stücke, die allein eine Ehe glücklich machen können, mit ihm harmonirt? Weiß er nicht, daß jedes Aergerniß für ein Mädchen ein unauslöschlicher Flecken ist, welchen nicht einmal seine Vermählung mit dem, welcher ihn verschuldet hat, auszuwischen vermag? Welcher von Liebe beseelte Mann wünscht wol die, welche er liebt, zu verderben? Welcher redliche Mann kann ein Gefallen darin finden, daß eine Unglückliche zeitlebens den Unstern, ihm gefallen zu haben, beweinen muß?

Erschreckt über die Folgen, die ich ihm vorhalte, glaubt schon der junge Mann, der sich immer gern in Extremen bewegt, nie fern genug von Sophiens Wohnsitze sein zu können. Er verdoppelt seine Schritte, um schneller zu entfliehen; er sieht sich um, ob uns auch Niemand gehört hat. Er würde sein Glück tausendmal für die Ehre seiner Geliebten zum Opfer bringen. Lieber wollte er sie in seinem Leben nicht wiedersehen, als daß er ihr auch nur ein einziges Mal Veranlassung zum Kummer gäbe. – Es ist die erste Frucht der Mühe, die ich seit seiner Jugend darauf verwandt, habe, sein Herz zu bilden, daß es zu lieben fähig ist.

Es handelt sich also darum, einen weder zu nah noch zu fern gelegenen Aufenthaltsort aufzufinden. Wir gehen selbst auf Entdeckungen aus, ziehen Erkundigungen ein und erfahren, daß zwei starke Stunden von hier eine Stadt liegt. Wir machen uns auf den Weg, um uns lieber dort, als in den näher gelegenen Dörfern, wo unser Aufenthalt Verdacht erregen könnte, nach einer Wohnung umzusehen. Voller Liebe, Hoffnung, Freude und vor Allem voller edler Gesinnungen, langt endlich Sophiens Verehrer daselbst an. Jetzt lasse ich es mein Bemühen sein, seine entstehende Leidenschaft allmählich auf das Gute und Ehrenwerthe zu lenken und allen seinen Neigungen den Antrieb zu geben, dieselbe Richtung einzuschlagen.


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