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Diejenigen, welche die Jugend durch verständige Leitung vor den Schlingen der Sinnlichkeit zu bewahren wünschen, pflegen sie mit Abscheu vor der Liebe zu erfüllen und möchten es ihr gern als ein Verbrechen anrechnen, in ihrem Alter auch nur einen Gedanken daran zu hegen, als ob die Liebe nur für Greise bestimmt wäre. Allen diesen auf Täuschung ausgehenden Lehren, deren Unwahrheit das Herz doch nachweist, wohnt keine überzeugende Kraft bei. Der junge Mann, welcher von einem sichreren Instinct geleitet wird, lacht im Geheimen über diese langweiligen Grundsätze, stellt sich auch, als ob er ihre Richtigkeit einsähe, wartet aber in der That nur auf den Augenblick, wo er den Beweis ihrer Nutzlosigkeit liefern kann. Alles dies ist wider die Natur. Auf dem entgegengesetzten Wege werde ich dasselbe Ziel mit größerer Sicherheit erreichen. Ich werde kein Bedenken tragen, das süße Gefühl in ihm, auf das all sein Sehnen gerichtet ist, zu nähren; ich werde es ihm als das höchste Glück des Lebens ausmalen, weil es dies ja wirklich ist, und es ist mein Wunsch, daß er sich demselben bei meiner Schilderung hingebe. Indem ich ihm zum Bewußtsein bringe, mit welchem Reize die Vereinigung der Herzen den Sinnengenuß erhöht, flöße ich ihm Ekel vor der Ausschweifung ein und mache ihn weise, während ich sein Herz mit Liebe erfülle.

Es gehört ein hoher Grad von Beschränktheit dazu, die erwachenden Begierden eines jungen Mannes lediglich als ein den Lehren der Vernunft sich entgegenstellendes Hinderniß aufzufassen. Ich meinerseits erblicke in ihnen gerade das wahre Mittel, ihn für die Lehren derselben recht empfänglich zu machen. Nur durch Leidenschaften läßt sich auf Leidenschaften wirken; durch ihre eigene Macht muß man ihre Tyrannei bekämpfen, und stets muß man der Natur selbst die Mittel entlehnen, welche sich zu ihrer Regelung eignen.

Emil ist nicht bestimmt, beständig ein einsames Leben zu führen. Als Glied der Gesellschaft hat er Pflichten gegen dieselbe zu erfüllen. Bestimmt mit Menschen zu leben, muß er sie auch kennen. Den Menschen im Allgemeinen kennt er zwar schon, nun bleibt ihm aber noch übrig, die Menschen im Einzelnen kennen zu lernen. Er weiß, was man in der Welt thut; nun muß er auch noch sehen, wie man in ihr lebt. Es ist nun an der Zeit, ihm auch die Außenseite der großen Schaubühne zu zeigen, deren Spiel er schon kennt, wenngleich es ihm bisher verhüllt war. Er wird ihr nicht mehr das thörichte Anstaunen eines jungen Laffen zuwenden, sondern mit der Urteilskraft eines gesunden und scharfen Verstandes vor sie treten. Seine Leidenschaften werden ihn auf Abwege führen können, das ist ja keinem Zweifel unterworfen; wann täuschten sie denn diejenigen nicht, welche sich ihnen überlassen? Aber er wird sich wenigstens nicht durch die Leidenschaften Anderer betrügen lassen. Wenn er sie bemerkt, wird er sie mit dem Auge eines Weisen betrachten, ohne durch ihr Beispiel hingerissen oder durch ihre Vorurtheile verführt zu werden.

Wie es ein Alter gibt, welches sich besonders zum Studium der Wissenschaften eignet, so gibt es wiederum eins, welches am meisten zur Erwerbung der Weltkenntniß geeignet ist. Wer sich dieselbe zu früh aneignet, läßt sich von ihr sein ganzes Leben hindurch leiten, ohne Wahl, ohne Ueberlegung und ohne bei all seinem Eigendünkel recht zu wissen, was er thut. Wer sie aber erwirbt, während er sich gleichzeitig über ihre Gründe Rechenschaft abzulegen vermag, folgt ihr mit mehr Einsicht und folglich auch mit mehr Sicherheit und tactvollerem Auftreten. Gebt mir ein Kind von zwölf Jahren, welches noch völlig unwissend ist, und ich will es euch im fünfzehnten mit eben so reichem Wissen ausgestattet zurückgeben, als dasjenige ist, welches ihr von seiner frühsten Jugend an unterrichtet habt, und noch dazu mit dem Unterschiede, daß sich das meinige sein Wissen mit dem Verstande angeeignet hat, während es bei dem eurigen nichts als Gedächtnißwerk ist. Eben so wird es sich verhalten, wenn man einen jungen Mann in seinem zwanzigsten Jahre in die Welt einführt; unter richtiger Leitung wird er in einem Jahre liebenswürdiger sein und einen vernünftigeren Anstand besitzen als derjenige, den man von Kindheit an in derselben erzogen hat; denn da der Erstere fähig ist, die Gründe zu dem in Rücksicht auf Alter, Stand und Geschlecht abgemessenen feinen Benehmen, das eben die Weltkenntniß ausmacht, einzusehen, so vermag er es auch auf feste Principien zurückzuführen und auf nicht vorhergesehene Fälle anzuwenden, während der Andere, der sich nur auf seine Routine verlassen kann, in Verlegenheit geräth, sobald ihm etwas davon Abweichendes entgegentritt.

Die jungen Mädchen werden in Frankreich ausnahmslos bis zu ihrer Verheirathung in Klöstern erzogen. Nimmt man aber wol wahr, daß es ihnen viele Mühe kostete, sich dann noch jenes feine gesellschaftliche Benehmen anzueignen, welches ihnen doch so neu ist? Kann man wol den Pariser Frauen ein linkisches und unbeholfenes Betragen zum Vorwurf machen und sie beschuldigen, daß ihnen die Umgangssitten fremd wären, weil sie sich nicht von Kindheit an in der großen Welt bewegt haben? Dieses Vorurtheil geht von den Weltmenschen selbst aus, welche, da sie nichts Wichtigeres als diese nichtige Wissenschaft kennen, sich fälschlich einbilden, man könne nicht früh genug mit der Erwerbung derselben anfangen.

Wahr ist indeß, daß man nicht allzu lange damit warten darf. Wer seine ganze Jugend fern von der großen Welt verlebt hat, behält zeitlebens ein verlegenes und gezwungenes Wesen, ergreift stets zur Unzeit das Wort und gewöhnt sich schwerfällige und unbeholfene Manieren an, die er nie abzulegen vermag und welche gerade durch das Bestreben, sich von ihnen loszumachen, nur neue Veranlassung zum Lachen geben. Jede Art von Belehrung hat ihre besonders geeignete Zeit, die man kennen, und ihre Gefahren, die man vermeiden muß. Letztere zeigen sich nun am zahlreichsten gerade bei der Belehrung, die wir jetzt unserem Zöglinge ertheilen müssen, doch setze ich den meinigen denselben nicht aus, ohne zu seinem Schutze die nöthigen Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen.

Wenn sich meine Methode auch nur an einem einzigen Gegenstande in jeder Beziehung bewährt, wenn sie einem Uebelstande vorbeugt, indem sie einen andern abwendet, dann ist sie nach meinem Urtheile gut und ich habe das Richtige getroffen. Das scheint mir das Auskunftsmittel zu beweisen, welches sie mir in diesem Falle an die Hand gibt. Wenn ich meinem Schüler gegenüber streng und kalt auftreten will, so werde ich sein Vertrauen verlieren und bald wird er sich vor mir verbergen. Will ich dagegen gefällig und nachsichtig sein oder gar die Augen zudrücken, welchen Nutzen hat er dann davon, daß er sich unter meiner Obhut befindet? Alsdann billige ich förmlich seine Ausschweifung und erleichtere nur sein Gewissen auf Kosten des meinigen. Führe ich ihn in die Welt lediglich in der Absicht ein, ihn zu unterrichten, so wird er sich mehr unterrichten, als mir wünschenswerth ist. Halte ich ihn aber von derselben bis zum letzten Augenblicke fern, was wird er dann von mir gelernt haben? Alles vielleicht, nur nicht die Kunst, die der Mensch und Bürger am nöthigsten gebraucht, die Kunst, mit seinen Nebenmenschen leben zu können. Verfolge ich einen zu fernen Nutzen, so wird er demselben nicht den geringsten Werth beimessen, nur das Gegenwärtige hat für ihn Werth. Fühle ich mich damit zufrieden gestellt, daß ich ihm Zerstreuungen verschaffe, welchen Gewinn hat er dann davon? Statt sich zu unterrichten, verweichlicht er sich.

Nichts von alledem. Mein Auskunftsmittel beseitigt alle diese Uebelstände. »Dein Herz,« sage ich zu dem Jünglinge, »bedarf einer Gefährtin; laß uns eine suchen, die für dich paßt. Vielleicht ist sie nicht so leicht aufzufinden, denn das wahre Verdienst ist stets selten. Indeß wollen wir uns weder übereilen noch uns abschrecken lassen. Unzweifelhaft gibt es eine, und wir werden sie, oder wenigstens doch eine andere, welche ihr so weit als möglich nahe kommt, schließlich schon noch finden.« Mit dieser für ihn so schmeichelhaften Absicht führe ich ihn in die Welt ein. Was brauche ich wol noch weiter darüber zu sagen? Seht ihr nicht ein, daß ich damit Alles gethan habe?

Ihr könnt euch selbst vorstellen, ob es mir gelingen wird, mir bei Schilderung seiner Geliebten Gehör zu verschaffen, ob ich ihm die Eigenschaften, die er lieben soll, werde lieb und angenehm machen können, und ob ich im Stande sein werde, alle seine Gefühle dem zuzuwenden, was er suchen oder fliehen soll. Ich müßte der Ungeschickteste der Menschen sein, wenn ich ihm nicht schon im Voraus eine Neigung einzuflößen verstände, ohne daß er wüßte, zu wem. Es verschlägt nichts, daß der Gegenstand, den ich ihm schildere, nur in meiner Phantasie existirt; es genügt, daß er ihn mit Widerwillen gegen die erfüllt, welche ihm sonst verführerisch erscheinen könnten, und daß sich ihm überall Vergleichungspunkte darbieten, die seinem Ideale vor den wirklichen Gegenständen, die auf ihn Eindruck machen, den Vorzug sichern. Und was ist die wahre Liebe denn überhaupt anders als Trugbild, Lüge und Täuschung? Man liebt ungleich mehr das Bild, das man sich selbst ausmalt, als den Gegenstand, auf welchen man es überträgt. Sähe man den geliebten Gegenstand genau so, wie er wirklich ist, so würde es keine Liebe mehr auf Erden geben. Wenn man zu lieben aufhört, so bleibt die Person, welche man liebte, dieselbe, die sie zuvor war, aber man blickt sie nicht mehr mit denselben Augen an. Der blendende Schleier fällt und die Liebe schwindet. Dadurch aber, daß ich ein Bild meiner eigenen Phantasie entwerfe, bin ich der Vergleichungspunkte Herr und verhindere leicht die Illusion, mit der uns wirkliche Gegenstände oft erfüllen.

Gleichwol wünsche ich nicht, daß man einen jungen Mann täusche und ihm ein Muster von Vollkommenheit entwerfe, das gar nicht existiren kann; indeß werde ich die Mängel seiner Geliebten so auswählen, daß sie ihm gefallen, nicht unangenehm sind und dazu dienen, die seinigen zu verbessern. Eben so wenig wünsche ich, daß man ihn durch die fälschliche Versicherung belüge, der geschilderte Gegenstand sei in Wirklichkeit vorhanden. Findet er an dem Bilde jedoch Gefallen, so wird er sich bald nach einem ihm gleichenden Originale sehnen. Vom Wunsche zur Voraussetzung findet ein leichter Uebergang statt; es sind dazu nur einige geschickte Beschreibungen nöthig, welche durch etliche mehr in die Augen fallende Züge diesem Wesen der Phantasie den Charakter größerer Wahrheit verleihen. Ich würde selbst so weit gehen, demselben einen Namen beizulegen. Lächelnd würde ich zu ihm sagen: »Wir wollen deine künftige Geliebte Sophie nennen. Sophie ist ein Name von guter Vorbedeutung. Sollte diejenige, auf welche einst deine Wahl fallen wird, ihn auch nicht führen, so wird sie seiner doch wenigstens würdig sein; wir können ihr diese Ehre deshalb schon im Voraus erweisen.« Nach all diesen Einzelheiten werden sich seine Vermuthungen, wenn man sich anders seinem Forschen, ohne ja oder nein zu sagen, geschickt zu entziehen weiß, in Gewißheit verwandeln; er wird wähnen, man mache ihm aus der Gattin, die man für ihn bestimmt hat, nur ein Geheimniß, und er werde sie schon sehen, sobald es an der Zeit sein werde. Ist es mit ihm erst so weit gekommen, und hat man die Züge, die man ihm vor Augen führen muß, gut gewählt, so ist alles Uebrige leicht; man kann ihn fast ohne Gefahr in die Welt einführen; ihr braucht ihn nur vor seiner Sinnlichkeit zu schützen, sein Herz ist in Sicherheit.

Möge er sich nun das Musterbild, das ich ihm liebenswürdig zu machen verstanden habe, unter dem Bilde einer bestimmten Person vorstellen oder nicht, so wird es ihn doch, ist es nur gut gezeichnet, nicht weniger zu Allem hinziehen, was ihm ähnlich ist, und ihn nicht weniger mit Widerwillen gegen alles das erfüllen, was ihm unähnlich ist, als wenn es das Bild einer geliebten Person darstellte. In welche vortheilhafte Lage bin ich dadurch versetzt, sein Herz vor den Gefahren zu schützen, denen seine Person nothwendig ausgesetzt ist, seine Sinnlichkeit durch seine Phantasie im Zaume zu halten, und vor allen Dingen ihn den Händen jener Frauen zu entreißen, die es sich angelegen sein lassen, junge Männer zu erziehen, sich ihre Mühe aber gar theuer bezahlen lassen und die Ausbildung ihres Zöglings im äußern Austande nur dadurch zu Wege bringen, daß sie ihm gleichzeitig alle Ehrbarkeit rauben! Sophie ist so sittsam! Mit welchen Blicken wird er deshalb das herausfordernde Wesen jener betrachten? Sophie zeichnet sich durch so große Einfachheit aus! Wie könnte ihm das Betragen jener gefallen? Zwischen seinem Ideale und seinen Beobachtungen zeigt sich ein zu großer Abstand, als daß ihm jene Frauen je gefährlich werden könnten.

Alle diejenigen, welche über Kindererziehung sprechen, lassen sich von den nämlichen Vorurteilen und den nämlichen Grundsätzen leiten, weil sie eine schlechte Beobachtungsgabe und ein noch schlechteres Reflexionsvermögen besitzen. Die Verirrungen der Jugend haben weder in dem Temperamente noch in der Sinnlichkeit, sondern in den vorgefaßten Meinungen ihre Wurzel. Handelte es sich hier um Knaben, welche in Instituten, und um Mädchen, die in Klöstern ihre Erziehung erhalten, so würde ich den Nachweis führen, daß dies selbst im Hinblick auf diese vollkommen wahr ist; denn die ersten Unterweisungen, welche sie beiderseits erhalten, und die einzigen, welche auf fruchtbaren Boden fallen, sind die Unterweisungen im Laster; nicht die Natur, sondern das Beispiel verdirbt sie. Ueberlassen wir jedoch die Kostschüler der Institute und Klöster ihren schlechten Sitten. Für sie werden sich nie Heilmittel auffinden lassen. Ich rede hier nur von der häuslichen Erziehung. Nehmt einen im väterlichen Hause verständig erzogenen jungen Mann aus der Provinz und unterwerft ihn in dem Augenblicke, wo er in Paris ankommt oder in die Welt tritt, einer Prüfung. Ihr werdet euch davon überzeugen, daß er über alles Ehrbare richtige Gedanken hat, und daß sein Wille eben so gesund ist als seine Vernunft. Ihr werdet finden, daß er von Verachtung des Lasters und von Abscheu vor Ausschweifungen erfüllt ist. Schon bei dem bloßen Namen einer Prostituirten werdet ihr in seinen Augen das Aergerniß aufleuchten sehen, welches die Unschuld nimmt. Ich behaupte, daß es auch nicht einen gibt, der sich entschließen könnte, allein die traurigen Wohnungen dieser Unglücklichen zu betreten, selbst wenn er ihren Zweck kennen und das Bedürfnis darnach fühlen sollte.

Sechs Monate später betrachtet nun aber denselben jungen Mann wieder; ihr werdet ihn nicht wiedererkennen. Nach seinen freien Worten, seinen Grundsätzen des weltmännischen Tons, seinem lockeren, Wandel würdet ihr ihn für einen ganz anderen Menschen halten, wenn nicht seine Witzeleien über seine frühere Einfalt und seine Scham, wenn man ihn an dieselbe erinnert, bewiesen, daß er derselbe ist, und daß er über sie erreichet. O, wie hat er sich in so kurzer Zeit entwickelt! Woher kommt ein so großer und plötzlicher Umschlag? Etwa von der naturgemäßen Entwicklung seines Temperaments? Würde sich sein Temperament im väterlichen Hause nicht ebenfalls entwickelt haben? Und gleichwol hätte er in demselben diesen Ton und diese Grundsätze sicherlich nicht angenommen. Oder von den ersten sinnlichen Genüssen? Im Gegentheil. Wenn man sich denselben zu überlassen beginnt, ist man furchtsam, unruhig, flieht das helle Tageslicht, scheut jedes Geräusch. Die ersten Sinnengenüsse hüllen sich immer in Geheimniß; die Scham würzt und verbirgt sie. Die erste Geliebte macht uns nicht frech, sondern schüchtern. In einen ihm so neuen Zustand ganz versunken, geht der junge Mann völlig in dem Bestreben auf, ihn zu genießen, und lebt in beständiger Angst, ihn zu verlieren. Wenn er es an die große Glocke hängt, ist er weder wollüstig noch zärtlich; so lange er damit prahlt, hat er noch nicht genossen.

Eine andere Denkungsart hat diesen Umschlag allein hervorgerufen. Sein Herz ist noch dasselbe, aber in seinen Ansichten hat sich eine Wandlung vollzogen. Seine Gefühle, bei denen ein Wechsel langsamer eintritt, werden sich in Folge dessen endlich auch ändern, und erst dann wird er wirklich verdorben sein. Kaum ist er in die Welt eingetreten, so erhält er eine zweite, der ersten ganz entgegengesetzte Erziehung, die ihm gegen das, was er sonst hochschätzte, Verachtung und Achtung vor dem, was er sonst verachtete, einflößt. Man ruht nicht eher, als bis er die Lehren seiner Eltern und Lehrer als pedantisches Geschwätz und die Pflichten, welche sie ihm eingeprägt haben, als eine kindische Moral betrachtet, denen man als Erwachsener seine Verachtung zollen müsse. Er wähnt, die Ehre gebiete ihm, daß er seinen Wandel ändere; er wird, ohne daß ihn die Begierden dazu treiben, den Frauen gegenüber unternehmend und geckenhaft aus falscher Scham. Ehe er noch an den schlechten Sitten Geschmack gefunden hat, treibt er mit den guten Sitten seinen Spott, und sucht etwas darin, einen ausschweifenden Lebenswandel zu führen, ohne daß er ausschweifend zu sein versteht. Nie werde ich das Geständniß eines jungen Officiers der Schweizergarde vergessen, der zwar die lärmenden Vergnügungen seiner Kameraden höchst langweilig fand, aber trotzdem nicht wagte, sich von denselben fern zu halten, aus Furcht, deshalb von ihnen verspottet zu werden. »Trotz meiner Abneigung,« sagte er, »übe ich mich darin, wie im Schnupfen. Mit der Gewohnheit wird auch der Geschmack schon kommen; man kann doch nicht immer ein Kind bleiben.«

Ein junger Mann muß folglich bei seinem Eintritte in die Welt weniger vor der Sinnlichkeit, als vielmehr vor der Eitelkeit bewahrt werden. Er gibt mehr den Neigungen Anderer als seinen eigenen nach, und die Eigenliebe macht mehr Wüstlinge als die Liebe.

Dies angenommen, so frage ich, ob es wol auf der ganzen Erde Jemand gibt, der besser als mein Zögling gegen Alles gewaffnet ist, was seine Sitten, seine Gefühle, seine Grundsätze gefährden könnte, und ob wol Jemand mehr im Stande ist, der Strömung zu widerstehen. Denn gegen welche Versuchung besitzt er nicht Verteidigungswaffen? Wenn ihn seine Begierden zum anderen Geschlechte hinziehen, so findet er bei demselben nicht, was er sucht, und sein vorher eingenommenes Herz hält ihn zurück. Wenn ihn seine Sinnlichkeit in Wallung bringt und anstachelt, wo wird er Befriedigung derselben finden können? Der Abscheu vor Ehebruch und Ausschweifung hält ihn sowol von Freudenmädchen wie von verheiratheten Frauen fern, und von einer dieser beiden Classen gehen die Ausschweifungen der Jugend stets aus. Ein Mädchen, das sich zu verehelichen gedenkt, kann gefallsüchtig, nie aber frech sein; es wird sich einem jungen Manne, der es vielleicht heirathen könnte, wenn er es für sittsam hält, nie an den Hals werfen. Uebrigens wird stets irgend Jemand mit seiner Überwachung betraut sein. Emil wird sich seinerseits ebenfalls nicht völlig selbst überlassen bleiben; wenigstens werden Beiden Schüchternheit und Schamgefühl, welche von den ersten Begierden unzertrennlich sind, schützend zur Seite stehen. Sie werden nicht sofort zu der äußersten Stufe der Vertraulichkeit übergehen und keine Zeit haben, ohne Hindernisse nach und nach zu ihr zu gelangen. Sollte er dabei ein anderes Benehmen zeigen, so müßten ihm seine Kameraden schon Anleitung gegeben, so müßte er von ihnen schon gelernt haben, über seine Zurückhaltung zu spotten, und nach ihrem Beispiele mit frecher Stirne einherzugehen. Welcher Mensch auf Erden hat aber weniger Nachahmungstrieb als Emil? Welcher Mensch läßt sich weniger durch einen Alles in das Scherzhafte hinabziehenden Ton leiten, als derjenige, der von allen eigenen Vorurtheilen frei ist, und nichts auf diejenigen gibt, welche Andere hegen? Zwanzig Jahre habe ich daran gearbeitet, ihn gegen die Spötter zu waffnen; sie werden sich länger als vierundzwanzig Stunden abmühen müssen, ehe es ihnen gelingt, ihn hinter das Licht zu führen, denn das Lächerliche gilt in seinen Augen nur für die Thoren als Beweisgrund, und nichts macht gegen Spöttereien unempfindlicher, als über die allgemeine Meinung erhaben zu sein. Anstatt der Spöttereien bedarf es bei ihm der Gründe, und hat er sich erst einmal bis zu dieser Höhe emporgeschwungen, dann hege ich keine Furcht, daß ihn mir junge Thoren entführen werden; ich habe das Gewissen und die Wahrheit für mich. Sollte sich aber das Vorurtheil gleichwol einmischen, so muß eine zwanzigjährige Zuneigung doch auch in Anschlag gebracht werden; man wird ihm niemals die Ueberzeugung aufdrängen können, daß ich ihn mit nichtigen Lehren gelangweilt habe, und in einem redlichen und fühlenden Herzen wird die Stimme eines treuen und wahren Freundes das Geschrei von zwanzig Verführern leicht verstummen lassen. Da es sich alsdann nur darum handelt, ihm den Nachweis zu führen, daß sie ihn betrügen, und daß sie ihn, während sie sich den Anschein geben, als behandelten sie ihn als Mann, in Wahrheit doch nur als Kind behandeln, so werde ich mich bestreben, bei der Darlegung meiner Gründe stets einfach, aber ernst und klar zu sein, damit er herausfühlt, daß umgekehrt ich es gerade bin, der ihn als Mann behandelt. Ich werde zu ihm sagen: »Du begreifst, daß dein Interesse allein, welches mit dem meinigen zusammenfällt, mich antreibt, mit dir zu reden; ich kann mich dabei von keinem anderen Interesse leiten lassen. Weshalb gehen aber jene jungen Leute darauf aus, dich zu überreden? Deshalb, weil sie dich verführen wollen. Sie lieben dich nicht, noch nehmen sie Antheil an dir. Sie lassen sich von keinem anderen Beweggrunde bestimmen, als von einem geheimen Aerger darüber, daß du, wie ihnen nicht entgeht, besser bist, als sie. Sie wollen dich erniedrigen, bis du mit ihnen auf gleicher Stufe stehst, und machen dir nur deshalb den Vorwurf, du lassest dich leiten, damit sie dich selbst beherrschen möchten. Kannst du dich wol dem Wahne hingeben, daß du bei dem Tausche gewinnen wirst? Zeichnen sie sich denn durch eine so hervorragende Weisheit aus, und ist ihre nur nach Stunden zählende Zuneigung denn stärker als die meinige? Um ihrem Gespött irgend ein Gewicht beizumessen, müßte man doch auf ihre Autorität etwas geben können. Auf welche Erfahrung können sie sich aber wol stützen, um ihren Grundsätzen den Vorrang vor den unserigen anzuweisen? Wie sie immer nur andere Leichtsinnige nachgeahmt haben, so verlangen sie jetzt ihrerseits nachgeahmt zu werden. Um sich über die angeblichen Vorurteile ihrer Väter zu erheben, unterwerfen sie sich denen ihrer Kameraden. Was sie dabei gewinnen, vermag ich nicht einzusehen. Sicherlich aber verlieren sie, so viel ist mir klar, zwei große Vortheile: die väterliche Liebe, deren Rathschläge so wohlmeinend und aufrichtig sind, und die Erfahrung, welche den Menschen in den Stand setzt, über das zu urtheilen, was er kennt; denn die Väter sind Kinder gewesen, nicht aber die Kinder Väter.«

»Hältst du sie bei ihren thörichten Grundsätzen aber wenigstens für aufrichtig? Auch das nicht einmal, mein lieber Emil. Sie täuschen sich selbst, um dich zu täuschen; es fehlt ihnen an der inneren Übereinstimmung. Ihr Herz straft sie unaufhörlich Lügen, und häufig widerspricht ihnen ihr eigener Mund. Hier macht Einer von ihnen Alles, was ehrbar ist, zum Gespött, und würde doch in Verzweiflung gerathen, wenn seine Gattin seine Gesinnung theilte. Dort dehnt ein Anderer die Gleichgültigkeit gegen die guten Sitten bis auf die Sittlichkeit der Frau aus, die er noch gar nicht hat, oder, um der Schamlosigkeit die Krone aufzusetzen, auf die Sittsamkeit der Frau, die er wirklich besitzt. Gehe aber noch einen Schritt weiter. Rede mit ihm von seiner Mutter und sieh, ob es ihm angenehm ist, für ein im Ehebruche erzeugtes Kind, für den Sohn eines anrüchigen Weibes, für einen Menschen zu gelten, der sich den Namen einer Familie widerrechtlich anmaßt, der den rechtmäßigen Erben um sein Erbtheil bringt, kurz, ob er sich geduldig als Bastard behandeln lassen wird. Wer unter ihnen wird wünschen, daß man seiner Tochter die Ehre raube, wie er sie den Töchtern Anderer geraubt hat? Nicht einen Einzigen gibt es unter ihnen, der nicht dein Leben bedrohen würde, wenn du dich im Verkehre mit ihm nach all den Grundsätzen, die er sich dir einzuimpfen bemüht, richten wolltest. So verrathen sie schließlich ihre Inconsequenz, und man überzeugt sich, daß keiner von ihnen glaubt, was er sagt. Damit habe ich dir meine Gründe erklärt, lieber Emil; erwäge nun auch die ihrigen, wenn sie solche für sich anführen können, und vergleiche. Wollte ich mich wie sie der Verachtung und des Spottes als Waffen bedienen, so würdest du sehen, daß sie der Spottsucht eine eben so große, ja vielleicht noch größere Zielscheibe darbieten würden als ich. Allein ich scheue eine ernstliche Prüfung nicht. Der Triumph der Spötter ist von kurzer Dauer. Die Wahrheit hat Bestand, aber jener unverständiges Gelächter verstummt.«

Es ist euch unerklärlich, wie folgsam Emil noch in seinem zwanzigsten Jahre sein kann. Wie verschiedene Gedanken wir doch in Bezug darauf haben! Ich meinerseits kann nicht begreifen, wie er es in seinem zehnten Jahre hat sein können; denn was für eine Handhabe bot er mir wol in diesem Alter dar? Fünfzehn Jahre lang habe ich die größte Sorgfalt aufwenden müssen, um es dahin zu bringen. Damals erzog ich ihn noch nicht, sondern bereitete ihn erst vor, daß er erzogen werden konnte. Jetzt ist er es hinreichend, um lenksam zu sein; er erkennt die Stimme der Freundschaft und weiß der Vernunft zu gehorchen. Ich lasse ihm allerdings den Schein der Freiheit, allein nie war er mir in Wahrheit mehr unterworfen, denn er ist es, weil er es sein will. So lange ich mich nicht habe zum Herrn seines Willens machen können, bin ich Herr seiner Person geblieben; ich verließ ihn keinen Schritt. Jetzt überlasse ich ihn mitunter sich selbst, weil ich beständig die Herrschaft über ihn ausübe. Beim Abschiede umarme ich ihn und sage mit zuversichtlichem Tone zu ihm: »Emil, ich vertraue dich meinem Freunde an; ich übergebe dich seinem ehrlichen Herzen; er wird mir gegenüber die Verantwortlichkeit für dich tragen.«

Es ist nicht das Werk einen Augenblicks, feste Gewohnheiten, die noch keine vorausgehende Trübung erlitten haben, zu verderben und Grundsätze, welche unmittelbar aus den ursprünglichen Einsichten der Vernunft abgeleitet sind, in Vergessenheit zu bringen. Wenn während meiner Abwesenheit irgend eine Wandlung vor sich gehen sollte, so würde sie doch nie von so langer Dauer sein und er vermöchte nie sie so vollkommen vor mir zu verbergen, daß ich die Gefahr nicht noch vor Eintritt des Nebels bemerken und nicht Zeit haben sollte, Heilmittel anzuwenden. Wie man nicht mit einem Male schlecht wird, so lernt man sich auch nicht plötzlich verstellen, und wenn sich je ein Mensch in dieser Kunst ungeschickt benimmt, so ist es Emil, der in seinem ganzen Leben nicht eine einzige Gelegenheit gehabt hat, sie anzuwenden.

Durch diese so wie ähnliche Beweise meiner Sorgfalt halte ich ihn vor fremden Zwecken und gemeinen Grundsätzen so gut bewahrt, daß ich ihn lieber inmitten der schlechtesten Gesellschaft von Paris sehen möchte, als allein in seinem Zimmer oder in einem Parke, der ganzen Unruhe seines Alters überlassen. Was man auch immer thun möge, so wird doch von allen Feinden, welche einen jungen Mann bedrohen können, der gefährlichste und der einzige, den man nicht fern halten kann, stets er selbst sein. Dieser Feind ist indeß nur durch unsere eigene Schuld gefährlich; denn wie ich schon tausendmal gesagt habe, wird die Sinnlichkeit lediglich durch die Einbildungskraft wachgerufen. Ihr Bedürfniß ist im eigentlichen Sinne gar kein physisches Bedürfniß; es beruht durchaus nicht auf Wahrheit, daß es ein wirkliches Bedürfniß ist. Hätte sich nie ein unzüchtiger Gegenstand unseren Blicken dargeboten, nie ein unreiner Gedanke in unseren Geist Eingang gefunden: so hätte sich uns dies angebliche Bedürfniß vielleicht nie fühlbar gemacht, und wir wären dann ohne Versuchungen, ohne Anstrengungen und ohne Verdienst keusch geblieben. Man macht sich keine Vorstellung davon, welche geheime Gährung gewisse Situationen und gewisse Bilder im Blute der Jugend erregen, ohne daß sie sich selbst über die Ursache dieser ersten Unruhe, die sich nicht leicht stillen läßt und nicht wiederzukehren säumt, Rechenschaft abzulegen vermag. Je mehr ich nun aber über diese wichtige Krisis so wie über ihre näheren oder entfernteren Ursachen nachdenke, desto mehr bildet sich in mir die Ueberzeugung aus, daß ein Mensch, der einsam in einer Wüste, ohne Bücher, ohne Unterricht und ohne Weiber erzogen wäre, daselbst in jungfräulicher Reinheit sterben würde, ein wie hohes Alter er auch erreichen möge.

Allein hier handelt es sich nicht um einen Wilden dieser Art. Wenn man einen Menschen im Kreise seiner Mitmenschen und für die Gesellschaft erzieht, so ist es unmöglich, ja nicht einmal empfehlenswerth, ihn beständig in dieser heilsamen Unwissenheit zu erhalten. Nichts ist für die Bewahrung der Keuschheit schlimmer als ein halbes Wissen. Die Erinnerung an die Gegenstände, die unsere Blicke auf sich gezogen, die Ideen, welche wir erworben haben, begleiten uns in die Einsamkeit, bevölkern sie wider unfern Willen mit Bildern, die weit verführerischer sind als die Gegenstände selbst, und machen die Einsamkeit für denjenigen, welcher jene mit dahin nimmt, eben so unheilvoll, wie sie demjenigen, welcher sich stets allein in ihr aufhält, Nutzen bringt.

Wachet deshalb mit aller Sorgfalt über den jungen Mann; vor allem Uebrigen wird er sich schon zu schützen wissen, euch aber liegt es ob, ihn vor sich selbst zu schützen. Lasset ihn weder bei Tage noch bei Nacht allein; schlafet wenigstens in einem Zimmer mit ihm; nur vom Schlafe übermannt, lege er sich zu Bett, und verlasse es unmittelbar nach dem Erwachen. Mißtrauet dem Instincte, sobald ihr euch nicht mehr auf ihn beschränkt. Obwol er gut ist, so lange er allein wirkt, so wird er doch verdächtig, sobald er sich mit menschlichen Einrichtungen verbindet. Man darf ihn nicht vernichten, sondern muß ihn regeln, und letzteres macht vielleicht größere Schwierigkeiten als seine völlige Vernichtung. Es wäre sehr gefährlich, wenn er eurem Zöglinge Anleitung gäbe, seine Sinnlichkeit zu täuschen und für die Gelegenheit zu ihrer Befriedigung Ersatz zu gewähren. Kennt er erst einmal diesen gefährlichen Ersatz, so ist er verloren. Von da ab wird sein Körper und Geist für immer entnervt sein; bis zum Grabe wird er mit den traurigen Folgen dieser Gewohnheit, der unheilvollsten, welcher ein junger Mann unterworfen sein kann, behaftet bleiben. Ohne Zweifel würde es noch besser sein ... Wenn die Glut eines feurigen Temperamentes unbezähmbar wird, dann, mein lieber Emil, beklage ich dich; aber nicht einen Augenblick werde ich schwanken, unter keinen Umständen werde ich dulden, daß der Zweck der Natur umgangen werde. Wenn du dich einmal der Herrschaft eines Tyrannen fügen mußt, so will ich dich doch lieber dem überliefern, von welchem ich dich wieder zu befreien im Stande bin. Was sich auch immer ereignen möge, so werde ich dich doch leichter den Frauen als dir selbst entreißen können.

Bis zum zwanzigsten Jahre wächst der Körper und hat dazu alle ihm zugeführten Nahrungsstoffe nöthig. Bis dahin wird die Enthaltsamkeit von der Ordnung der Natur verlangt, und nur auf Kosten seiner Constitution versündigt man sich gegen dieselbe. Vom zwanzigsten Jahre an ist die Enthaltsamkeit dagegen eine sittliche Pflicht. Sie hat darum eine so hohe Bedeutung, weil sie uns lehrt, uns selbst zu beherrschen und unsere Begierden zu zügeln. Indeß haben die sittlichen Pflichten ihre Modificationen, ihre Ausnahmen und Regeln. Sobald die menschliche Schwachheit eine Alternative unvermeidlich macht, verdient das kleinste von zwei Uebeln den Vorzug. In jedem Falle ist es besser, einen Fehler zu begehen, als sich an ein Laster zu gewöhnen.

Seid eingedenk, daß ich hier nicht mehr von meinem Zöglinge rede, sondern von dem eurigen. Seine Leidenschaften, die durch eure Zulassung in Gährung gerathen sind, unterjochen euch. Füget euch also offen in sie, und zwar ohne ihm seinen Sieg zu verhehlen. Wenn ihr es versteht, ihm denselben in seinem wahren Lichte zu zeigen, so wird er sich darüber weniger stolz als vielmehr beschämt fühlen, und ihr werdet euer Recht aufrecht erhalten, ihn auch während seiner Verirrung zu leiten, um ihn wenigstens nicht in den Abgrund versinken zu lassen. Es ist von Wichtigkeit, daß der Schüler ohne Wissen und Willen des Lehrers nichts, nicht einmal wenn es böse ist, thue, und es ist hundertmal besser, daß der Lehrer einen Fehler billigt, wenn er sich dabei auch einer Täuschung hingibt, als daß er von seinem Zöglinge getäuscht und der Fehltritt ohne sein Wissen begangen würde. Wer sich einredet, die Augen bei irgend etwas zudrücken zu müssen, wird sich bald genöthigt sehen, sie bei Allem zuzudrücken. Der erste geduldete Mißbrauch führt in seinem Gefolge einen andern mit sich, und diese Kette endet erst mit dem Umsturz jeglicher Ordnung und mit der Verachtung jeder gesetzlichen Vorschrift.

Ein anderer Fehler, gegen den ich schon angekämpft habe und der Leuten von geringen Gaben stets eigen sein wird, besteht darin, daß man sich beständig mit einer gewissen schulmeisterlichen Würde umhüllt und darauf ausgeht, in den Augen seines Schülers für einen vollkommenen Mann zu gelten. Diese Methode ist widersinnig. Vermögen Erzieher dieser Art denn nicht einzusehen, daß sie ihr Ansehen gerade durch das vernichten, wodurch sie es befestigen wollen; daß man sich, um seinen Worten Gehör zu verschaffen, an deren Stelle versetzen muß, an welche sie gerichtet sind, und daß man Mensch sein muß, um zum menschlichen Herzen reden zu können? Alle diese vollkommenen Leute sind außer Stande, zu rühren oder zu überzeugen; man sagt sich beständig, es sei für sie sehr leicht, Leidenschaften, die sie nicht fühlen, zu bekämpfen. Zeigt eurem Zöglinge eure Schwächen, wenn ihr anders darauf Anspruch macht, ihn von den seinigen zu heilen. Möge er bei euch dieselben Kämpfe wahrnehmen, die er zu bestehen hat; möge er an eurem Beispiele sich besiegen lernen und nicht wie die Anderen sagen: »Diese Greise sind voller Verdruß darüber, daß sie nicht mehr jung sind, und wollen deshalb die Jünglinge wie Greise behandeln, und weil ihre eigenen Begierden sämmtlich erloschen sind, rechnen sie uns die unserigen zum Verbrechen an.«

Montaigne berichtet, er habe den Herrn von Langey eines Tages gefragt, wie oft er sich als Gesandter in Deutschland im Dienste des Königs habe betrinken müssen. Ich möchte wol den Hofmeister eines gewissen jungen Herrn fragen, wie oft er zum Heile seines Zöglings ein verrufenes Haus betreten habe. Wie oft? Ich irre mich. Wenn nicht schon das erste Mal dem jungen Wüstlinge die Lust austreibt, je wieder seinen Fuß über jene Schwelle zu setzen, wenn nicht Scham und Reue seine Begleiterinnen auf dem Rückwege sind, wenn er nicht Ströme von Thränen an eurer Brust vergießt, dann gebt ihn sofort auf, dann ist er nur ein Unmensch oder ihr seid nur Schwachköpfe. Ihr werdet nicht mehr zu seinem Nutzen wirken können. Doch lassen wir diese alleräußersten Auswege bei Seite, die eben so traurig als gefährlich sind und mit unserer Erziehungsweise nichts zu schaffen haben.

Wie viele Vorsichtsmaßregeln müssen getroffen werden, bevor man einen jungen Mann von guter Herkunft den Anstoß erregenden Sitten der heutigen Zeit aussetzen darf! Diese Vorsichtsmaßregeln sind zwar lästig, aber sie sind unerläßlich. Gerade die Nachlässigkeit in diesem Punkte ist es, welche die ganze Jugend dem Verderben entgegenführt. In Folge der Ausschweifungen in frühen Jahren entarten die Menschen und sinken zu der Stufe hinab, auf der wir sie heut zu Tage erblicken. Selbst in ihren Lastern verächtlich und feig, haben sie nur gemeine Seelen, weil ihre abgelebten Körper schon frühzeitig zu Grunde gerichtet sind. Kaum ist ihnen noch so viel Lebenskraft übrig geblieben, daß sie sich rühren können. Ihre umherirrenden, haltlosen Gedanken verrathen Geister ohne Stoff; für etwas Großes und Edles fehlt ihnen alles Gefühl. Sie besitzen weder Natürlichkeit noch Kraft. In jeder Beziehung verworfen und boshaft bis zur Niederträchtigkeit zeichnen sie sich nur durch Eitelkeit, betrügerischen Sinn und Falschheit aus. Sie haben nicht einmal Muth genug, hervorragende Verbrecher zu werden. So sind die verächtlichen Menschen beschaffen, welche das in Völlerei und Ausschweifung zugebrachte Leben der Jugend erzeugt. Fände sich unter derselben ein Einziger, der ein mäßiges und nüchternes Leben zu führen verstände, der in ihrer Mitte sein Herz, sein Blut, seine Sitten vor der Ansteckung ihres Beispiels zu bewahren wüßte, so würde er in seinem dreißigsten Jahre im Stande sein, dieses ganze Geschmeiß zu zertreten, und würde sich zum Herrn über dasselbe mit weniger Mühe emporschwingen können, als er anwenden mußte, seiner selbst Herr zu bleiben.

Hätten Geburt und Glück meinem Emil nur einigermaßen helfend zur Seite gestanden, so würde er, falls er wollte, dieser Mann sein; aber er würde sie in zu hohem Grade verachten, als daß er sich herabließe, sich zu ihrem Herrn aufzuwerfen. Beobachten wir jetzt, wie er in die von ihnen angefüllte Welt eintritt, nicht um darin eine dominirende Stellung einzunehmen, sondern um sie kennen zu lernen und in ihr eine Gefährtin zu finden, die seiner würdig ist.

Welcher Rang ihm auch durch seine Geburt beschieden sein und in welchen Gesellschaftskreis er sich auch zuerst einführen möge, sein erstes Auftreten wird einfach und anspruchslos sein. Gott wolle ihn davor bewahren, daß er so unglücklich sei, darin zu glänzen! Mit jenen Eigenschaften, welche gleich auf den ersten Blick bestechen, ist er nicht ausgestattet; er besitzt sie nicht und will sie gar nicht besitzen. Er legt zu wenig Werth auf die Urtheile der Menschen, als daß er ihren Vorurteilen einen solchen zugestehen sollte, und hat gar kein Verlangen danach, daß man ihn achte, bevor man ihn kennt. Die Art und Weise seines Auftretens ist eben so frei von übertriebener Zurückhaltung wie von einem eitlen Hervordrängen; sie ist natürlich und wahr. Er kennt weder Zwang noch Verstellung, und ist inmitten einer Gesellschaft der nämliche, der er allein und ohne Zeugen ist. Wird er nun deshalb etwa gegen irgend Jemand grob, zurückstoßend oder unaufmerksam sein? Ganz im Gegentheile. Hegt er, schon wenn er allein ist, keine nichtachtenden Gedanken gegen seine Mitmenschen, weshalb sollte er sie dann wol, wenn er unter ihnen lebt, mit Nichtachtung behandeln? Aeußerlich räumt er ihnen allerdings keinen Vorzug vor sich ein, weil er sie in seinem Herzen sich nicht vorzieht, aber er trägt auch eben so wenig Gleichgiltigkeit zur Schau, die seinem Wesen völlig fremd ist. Ist er auch nicht mit den Höflichkeitsphrasen vertraut, so erzeigt er doch die Aufmerksamkeiten, welche in der allgemeinen Menschenliebe ihre Wurzel haben. Er sieht nicht gern Jemanden leiden; aus Ziererei wird er zwar einem Andern seinen Platz nicht anbieten, aus Gutmütigkeit wird er ihm dagegen denselben gern abtreten, sobald er wahrnimmt, daß derselbe zurückgesetzt wird, und glaubt, daß ihn diese Vernachlässigung kränke; denn es wird meinem jungen Manne weniger sauer werden, freiwillig stehen zu bleiben, als mit anzusehen, daß ein Anderer gezwungenerweise stehen bleibe.

Obgleich Emil im Allgemeinen keine hohe Achtung vor den Menschen hat, so wird er ihnen doch auch keineswegs Verachtung bezeigen, weil er sie beklagt und von Mitleid mit ihnen erfüllt ist. Da er ihnen keinen Geschmack an den wirklichen Gütern einzuflößen vermag, so läßt er ihnen die eingebildeten Güter, an denen sie ihr Genüge finden, weil er sich der Besorgniß nicht entschlagen kann, daß er sie nur noch unglücklicher machen würde, als sie schon sind, wenn er sie ihnen raubte, ohne ihnen einen Ersatz für dieselben bieten zu können. Er leidet daher weder an Streitsucht noch an Rechthaberei, und spricht den Leuten eben so wenig nach dem Munde wie er ihnen schmeichelt. Er spricht seine Ansicht aus, ohne die eines Anderen zu bekämpfen, weil er die Freiheit über Alles liebt und ihm die Freimütigkeit als eines der beneidenswertesten Rechte erscheint.

Er spricht wenig, weil er nichts danach fragt, ob man sich mit ihm beschäftige. Aus demselben Grunde redet er nur von nützlichen Dingen. Was sollte ihn auch wol sonst zum Sprechen bewegen? Emil ist zu unterrichtet, um sich je zum Schwätzer herabzuwürdigen. Die Schwatzhaftigkeit kann nur eine doppelte Quelle haben; entweder entspringt sie der krankhaften Einbildung, man besitze Geist, wovon weiter unten die Rede sein soll, oder dem hohen Werthe, welchen man auf Kleinigkeiten legt, und dem damit verbundenen Wahne, daß Andere sie mit denselben Augen betrachten wie wir. Wer genug Einsicht besitzt, um jedem Dinge seinen wahren Werth beizulegen, spricht niemals zu viel; denn er vermag ja auch schon vorauszusehen, welche Aufmerksamkeit man ihm schenken kann und welches Interesse sein Gespräch zu erwecken im Stande ist. Im Allgemeinen sprechen die Leute, welche wenig wissen, viel, während die Leute, welche viel wissen, wenig reden. Es hängt sehr einfach zusammen, daß ein unwissender Mensch Alles, was er weiß, für höchst wichtig hält und es vor aller Welt ausposaunt. Allein ein unterrichteter Mann öffnet nicht leicht die Fundgrube seines Wissens; er hätte zu viel zu sagen und weiß nur zu wohl, daß auch nach ihm noch weit mehr zu sagen wäre. So schweigt er denn.

Weit davon entfernt, an den Sitten Anderer Anstoß zu nehmen, findet er sich vielmehr in dieselben und richtet sich willig nach ihnen, nicht etwa um den Anschein zu gewinnen, als ob er mit den Gebräuchen vertraut sei, noch um sich den Anstrich eines Weltmannes zu geben, sondern im Gegentheil aus Besorgniß, er könnte sich sonst von den Andern unterscheiden und Aufsehen erregen; und nie fühlt er sich wohler, als wenn er gar keine Beachtung findet.


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