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Man muß glauben, um selig zu werden. Die falsche Auffassung dieses Dogmas ist die Quelle der blutgierigsten Intoleranz und die Ursache aller dieser nutzlosen Lehren, welche der menschlichen Vernunft den Todesstreich versetzen, indem dieselbe dadurch gewöhnt wird, sich mit Worten abspeisen zu lassen. Ohne Zweifel ist kein Augenblick zu verlieren, um der ewigen Seligkeit gewiß zu werden; ist aber zu ihrer Erlangung das Nachplappern gewisser Worte hinreichend, so sehe ich nicht ein, was uns abhält, den Himmel eben so gut mit Staarmätzen und Elstern als mit Kindern zu bevölkern.

Die Pflicht zu glauben setzt die Möglichkeit dazu voraus. Der Philosoph, welcher nicht glaubt, begeht Unrecht, weil er von der Vernunft, die er ausgebildet hat, einen schlechten Gebrauch macht, und weil er im Stande ist, die Wahrheiten zu verstehen, die er verwirft. Was aber glaubt ein Kind, welches sich zu der christlichen Religion bekennt? Das, was es versteht; allein es versteht das, was man es nachsprechen läßt, in so geringem Grade, daß es, falls ihr ihm plötzlich das Gegentheil vorsprecht, dies eben so willig annehmen wird. Der Glaube der Kinder so wie der vieler Erwachsener ist lediglich eine Sache der Geographie. Soll ihnen etwa dafür ein Lohn zu Theil werden, daß sie in Rom und nicht in Mekka geboren sind? Dem Einen redet man vor, daß Mahomed der Prophet Gottes ist, und es sagt nun natürlich auch: »Mahomed ist der Prophet Gottes!« Dem Andern sagt man, Mahomed sei ein Betrüger, und es behauptet deshalb gleichfalls: »Mahomed ist ein Betrüger!« Jeder von diesen Beiden hätte das behauptet, was der Andere behauptet, wenn ihre Geburtsstätten vertauscht wären. Können nun wol diese angeborenen Anlagen, die sich bei Beiden so ähnlich zeigen, eine so verschiedene Wirkung ausüben, daß das Eine in das Paradies versetzt, das Andere aber der Hölle überantwortet wird? Variante: Dem Einen redet man vor, man müsse Mahomed verehren, und es versichert nun auch, es verehre Mahomed. Dem Andern sagt man, man müsse die Jungfrau verehren, und es behauptet, es verehre die Jungfrau. Jedes von Beiden würde das gethan haben, was das Andere gethan hat, wenn sie sich in umgekehrter Lage befunden hätten. Können nun wol diese Ansichten, die sich bei Beiden u. s. w. Legt ein Kind das Bekenntniß ab, daß es an Gott glaube, so ist es eigentlich nicht Gott, an den es glaubt, sondern der Peter oder der Jacob, welche ihm sagen, es gebe etwas, was man Gott nenne; und es glaubt dies in der Weise des Euripides, der öffentlich bekennt:

O Jupiter, von dem ich nichts
Als nur den Namen kenne!

Plutarch's Abhandlung über die Liebe. Mit diesen Worten begann zuerst die Tragödie Menalippus; aber das Geschrei des Volkes von Athen nöthigte Euripides, diesen Anfang abzuändern.

Wir glauben, daß kein vor dem Alter der Vernunft gestorbenes Kind von der ewigen Seligkeit ausgeschlossen werde; die Katholiken glauben dasselbe von allen getauften Kindern, wenn sie auch noch nie von Gott haben reden hören. Folglich gibt es Fälle, wo man, ohne an Gott zu glauben, selig werden kann, und solche Fälle kommen theils in der Kindheit, theils beim Wahnsinne vor, wo dem menschlichen Geiste diejenige Fähigkeit genommen ist, die zu der Erkenntniß der Gottheit nothwendig ist. Der ganze Unterschied, den ich zwischen euch und mir finde, besteht darin, daß ihr die Behauptung aufstellt, die Kinder besäßen diese Fähigkeit schon in einem Alter von sieben Jahren, während ich sie ihnen noch im fünfzehnten Jahre abspreche. Ob ich nun Recht oder Unrecht habe, so handelt es sich hier keineswegs um einen Glaubensartikel, sondern um eine einfache naturhistorische Beobachtung.

Nach demselben Grundsatze ist es auch einleuchtend, daß selbst ein Mensch, der ohne an Gott zu glauben das Greisenalter erreicht hat, um deswillen noch nicht des zukünftigen Lebens verlustig gehen wird, wenn er nicht absichtlich in seiner Verblendung verharrte, und ich bekenne offen, daß meiner Ansicht nach dies nicht immer der Fall sein wird. Ihr theilt meine Ansicht, wenn es sich um Wahnsinnige handelt, die eine Krankheit zwar ihrer geistigen Fähigkeiten, damit aber noch nicht ihrer Eigenschaft als Menschen und also auch nicht ihres Anrechtes auf die Wohlthaten ihres Schöpfers beraubt hat. Weshalb mir also eure Beistimmung in Bezug auf solche Personen versagen, welche, von ihrer Kindheit an der menschlichen Gesellschaft fern stehend, ein völlig wildes Leben geführt haben, und denen deshalb alle jene Einsichten fehlen, die man sich nur im Umgange mit Menschen anzueignen vermag. Man lese über den Naturzustand des menschlichen Geistes und über die Langsamkeit seiner Fortschritte den ersten Theil der Abhandlung über die Ungleichheit nach. Denn es ist eine erwiesene Unmöglichkeit, daß ein solcher Wilder je im Stande sein sollte, sich durch eigene Ueberlegung zur Erkenntniß des wahren Gottes zu erheben. Die Vernunft sagt uns, daß ein Mensch nur für die aus freiem Antriebe begangenen Fehler straffällig sei und daß eine Unwissenheit, die sich zu belehren nie Gelegenheit hatte, ihm nie als Verbrechen angerechnet werden könne. Hieraus ergibt sich, daß jeder Mensch, welcher glauben würde, wenn er die nöthigen Einsichten hätte, vor der ewigen Gerechtigkeit für gläubig angesehen wird, und daß die Strafe des Unglaubens nur diejenigen treffen wird, deren Herz sich der Wahrheit verschließt.

Nehmen wir uns in Acht, denen die Wahrheit zu verkündigen, die sie nicht zu verstehen im Stande sind, denn dadurch würden wir der Wahrheit gerade den Irrthum substituiren. Es wäre besser, von der Gottheit gar keine Vorstellung zu haben, als sich von derselben eine niedrige, phantastische, sie herabwürdigende und ihrer unwürdige zu bilden. Es ist ein geringeres Uebel, von der Gottheit keine Kenntniß zu besitzen, als sie zu beleidigen. »Ich würde es vorziehen,« sagt der ehrenwerthe Plutarch, Abhandlung über den Aberglauben, §. 27. »daß man glaubte, es gäbe gar keinen Plutarch in der Welt, als daß man sagte: Plutarch ist ungerecht, neidisch, eifersüchtig und so tyrannischen Geistes, daß er mehr verlangt, als zu erfüllen möglich ist.«

Der große Uebelstand eines falschen Bildes der Gottheit, welches man dem Geiste der Kinder einprägt, besteht darin, daß dasselbe ihr ganzes Leben hindurch in ihnen haften bleibt, und daß sie, auch wenn sie erwachsen sind, sich von den Anschauungen ihrer Kindheit nicht loszureißen vermögen. Ich habe in der Schweiz eine brave und fromme Hausmutter gekannt, die von der unumstößlichen Richtigkeit dieses Satzes so vollkommen überzeugt war, daß sie ihren Sohn in seiner frühesten Jugend unter keinen Umständen in der Religion unterrichten wollte, weil sie von der Besorgniß erfüllt war, er könnte sich durch eine so unvollkommene Belehrung befriedigt fühlen und im Alter der Vernunft einer eingehenderen sein Ohr nicht mehr schenken. Dieses Kind hörte immer nur mit Andacht und Ehrfurcht von Gott reden, und sobald es selbst von ihm reden wollte, legte man ihm darüber, als über einen Gegenstand, der für dasselbe viel zu erhaben und groß wäre, sofort Stillschweigen auf. Diese Zurückhaltung fachte seine Neugier an, und in seiner Eigenliebe wünschte es sehnlichst den Augenblick herbei, wo es dieses Geheimniß kennen lernen sollte, welches man ihm mit so großer Sorgfalt verbarg. Je weniger man mit ihm von Gott redete, je weniger man ihm gestattete, selbst von ihm zu sprechen, desto mehr beschäftigte es sich mit ihm; dieses Kind sah Gott schließlich überall. Bei diesem Anscheine von Geheimnißkrämerei würde ich, wenn sie gar zu unvorsichtig zur Schau träte, freilich die Befürchtung hegen, daß sie durch die allzu große Erhitzung der Einbildungskraft des jungen Mannes ihm ganz den Kopf verdrehte und daß man am Ende einen Schwärmer aus ihm machte, anstatt ihn auf den Weg des Glaubens zu bringen.

Dergleichen ist indeß für meinen Emil, der sich niemals dazu bewegen läßt, einem Gegenstande, welcher außer den Grenzen seiner Fassungskraft liegt, Aufmerksamkeit zu schenken, und deshalb solche Dinge, die er nicht versteht, mit der gründlichsten Gleichgültigkeit anhört, durchaus nicht zu befürchten. Es gibt so Vielerlei, von dem er zu sagen gewohnt ist: »Das gehört nicht zum Kreise meiner Kenntnisse,« daß er durch einen Gegenstand mehr nicht leicht in Verlegenheit gesetzt wird, und sobald er beginnt, über diese großen Fragen in Unruhe zu gerathen, so geschieht es nicht deshalb, weil sie in seiner Gegenwart aufgestellt sind, sondern weil der natürliche Fortschritt seiner Einsichten seine Forschungen nach dieser Richtung hinlenkt.

Wir haben bereits gesehen, auf welchem Wege sich der herangereifte menschliche Geist diesen Geheimnissen nähert, und ich will gern einräumen, daß er, wenn er nur der Natur folgte, selbst im Schooße der Gesellschaft, erst in einem vorgeschrittenen Lebensalter dahin gelangen würde. Weil sich jedoch in dieser nämlichen Gesellschaft unvermeidliche Ursachen vorfinden, welche den Fortschritt der Leidenschaften beschleunigen, so würde man, wenn man nicht den Fortschritt der Einsichten, welche zur Zügelung unserer Leidenschaften dienen, in gleichem Verhältnisse beschleunigte, in Wirklichkeit von der Ordnung der Natur abweichen, und das Gleichgewicht würde aufgehoben werden. Wenn man eine allzu schnell fortschreitende Entwickelung nicht zu mäßigen vermag, so muß man Alles, was damit naturgemäß in Verbindung steht, in gleicher Geschwindigkeit weiter zu führen suchen, so daß nirgends die Ordnung gestört, das, was die Bestimmung hat, gleichmäßig fortzuschreiten, nicht von einander geschieden werde und der Mensch, der in allen Lebensmomenten nur ein einziges Ganzes bildet, hinsichtlich der Entwickelung seiner einzelnen Fähigkeiten nicht einen verschiedenen Standpunkt einnehme.

Ich sehe schon im Geiste, welche Schwierigkeiten sich hier erheben, Schwierigkeiten, die um so größer sind, als sie weniger in den Dingen, als vielmehr auf dem Kleinmuthe derer beruhen, die sie nicht zu heben wagen. Unternehmen wir zunächst das Wagestück, sie uns wenigstens klar zu machen. Ein Kind soll in der Religion seines Vaters erzogen werden. Man liefert ihm stets den vollkommenen Beweis, daß diese Religion, was für eine es auch immer sei, die einzig wahre ist, alle andern dagegen voller Überspanntheiten und Ungereimtheiten sind. Was diesen Punkt anlangt, so hängt die Stärke der Beweisgründe durchaus von dem Lande ab, in welchem man sie vorbringt. Ein Türke, welchem in Constantinopel das Christenthum so lächerlich erscheint, möge nur einmal nach Paris gehen und mit anhören, was man dort vom Muhamedanismus hält! Hauptsächlich auf religiösem Gebiete feiern die Vorurtheile ihre Triumphe. Allein wir, die wir stolz versichern, wir schüttelten ihr Joch in jeder Beziehung ab, wir, die wir der Autorität kein Vorrecht zugestehen, wir, die wir unsern Emil in nichts unterrichten wollen, was er nicht in jedem Lande von selbst lernen könnte, in welcher Religion sollen wir ihn erziehen? In welche Sekte sollen wir diesen Naturmenschen aufnehmen lassen? Die Antwort ist, wie mir scheint, sehr einfach. Wir bestimmen ihn weder für diese noch für jene, setzen ihn aber in den Stand, sich selbst diejenige zu wählen, welcher ihn der beste Gebrauch seiner Vernunft zuführen muß.

Incedo per ignes
Suppositos cineri doloso
.

... Durch Gluten schreit' ich,
Welche mit trüglicher Asch' umhüllt sind. (Horat II. Od. I, V. 7-8.)

Sei es trotzdem gewagt! Eifer und Aufrichtigkeit haben mir bisher die Klugheit ersetzt. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß mich diese Bürgen im Nothfalle nicht verlassen werden. Leser, fürchtet von mir keine Vorsichtsmaßregeln, die eines Wahrheitsfreundes unwürdig wären. Ich werde meines Wahlspruchs stets eingedenk bleiben, aber man muß mir vergönnen, in mein eigenes Urtheil Mißtrauen zu setzen. Anstatt euch meine eigenen Gedanken darüber zu entschleiern, will ich euch erzählen, was ein Mann dachte, der mich um Vieles übertraf. Ich stehe für die Wahrheit der Thatsachen ein, die ich hier mittheilen will; sie sind dem Verfasser der schriftlichen Aufzeichnung, die ich abzuschreiben gedenke, wirklich zugestoßen. Eure Sache ist es nun, zu sehen, ob sich daraus nützliche Betrachtungen über den Gegenstand, um den es sich hier handelt, ziehen lassen. Weder eines Anderen noch meine eigene Ansicht stelle ich euch als maßgebende Richtschnur auf; ich wünsche sie euch lediglich zur Prüfung vorzulegen.

»Es sind dreißig Jahre her, daß ein junger Mann, der fern von seinem Vaterlande lebte, in einer Stadt Italiens in das äußerste Elend gerieth. Er war im Schooße des Calvinismus geboren, wechselte indeß, da er in Folge einer Unbesonnenheit hatte die Flucht ergreifen müssen und sich nun in einem fremden Lande ohne alle Hilfsmittel sah, seine Religion, um sich dadurch seinen Unterhalt zu verschaffen. Es befand sich in dieser Stadt ein Hospiz für Proselyten, und in dieses wurde er aufgenommen. Während man ihn über die Unterscheidungslehren unterrichtete, rief man Zweifel in ihm wach, die er vorher nicht gehabt hatte, und lehrte ihn das Böse kennen, das ihm bis dahin fremd gewesen war. Er hörte neue Dogmen, sah aber gleichzeitig Sitten, die ihm noch neuer waren. Er sah sie und wäre beinahe ihr Opfer geworden. Er wollte fliehen, aber man sperrte ihn ein; er beschwerte sich, man bestrafte ihn für seine Beschwerden. Der Willkür seiner Tyrannen Preis gegeben, sah er sich als Verbrecher behandelt, weil er nicht hatte in die Sünde willigen wollen. Wer da weiß, in wie hohem Grade die erste Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit, die einem jungen, unerfahrenen Herzen zugefügt wird, dasselbe aufzuregen vermag, kann sich eine Vorstellung von dem Zustande machen, in welchen das seinige versetzt wurde. Thränen der Wuth stürzten ihm aus den Augen, der Unwille drohte ihn zu ersticken; Himmel und Erde bestürmte er mit seinen Bitten; er vertraute sich Jedermann an und doch fand er bei Niemandem Gehör. Seine Augen vermochten Niemand zu entdecken als feile Diener, die völlig von jenem Niederträchtigen, der ihn so schimpflich behandelte, abhängig waren, oder Thäter der ihm zugemutheten Sünde, die sich über seinen Widerstand lustig machten und ihn aufforderten, ihnen nachzuahmen. Ohne einen redlichen Geistlichen, der wegen irgend einer Angelegenheit das Hospiz besuchte, und den er Mittel fand im Geheimen um Rath zu fragen, wäre er verloren gewesen. Der Geistliche war arm und bedurfte selbst aller Welt Hilfe; aber der Unterdrückte hatte seiner in noch höherem Grade nöthig, und er trug keinen Augenblick Bedenken, seine Flucht zu befördern, selbst auf die Gefahr hin, sich dadurch einen gefährlichen Feind zuzuziehen.«

»Dem Laster war er nun zwar entronnen, aber nur um von Neuem in Mangel zu gerathen. Vergeblich kämpfte der junge Mann gegen sein Schicksal an. Einen Augenblick glaubte er freilich schon desselben Herr geworden zu sein. Bei dem ersten Aufleuchten des Glückes waren sofort seine Leiden und sein Beschützer vergessen. Diese Undankbarkeit sollte aber bald ihre Strafe erhalten; alle seine Hoffnungen scheiterten. Kam ihm auch seine Jugend zu Statten, so verdarben doch seine romanhaften Ideen Alles wieder. Obwol es ihm an den hinreichenden Talenten und dem nöthigen Geschick gebrach, um sich einen leichten Lebensweg zu bahnen, und er weder gemäßigt noch schlecht zu sein verstand, so machte er doch auf so Vielerlei Anspruch, daß er schließlich keines seiner Ziele zu erreichen vermochte. Zurückgesunken in sein früheres Elend, ohne Brod, ohne Obdach, dem Hungertode nahe, erinnerte er sich mit einem Male wieder seines Wohlthäters.«

»Er kehrt zu ihm zurück, findet ihn und hat sich einer freundlichen Aufnahme zu erfreuen. Sein Anblick ruft in dem Geistlichen wieder das Andenken an eine gute Handlung, welche er vollbracht hatte, wach. Eine solche Erinnerung kann für die Seele stets nur erfreulich sein. Dieser Mann war von Natur menschenfreundlich und mitleidig; seine eigenen Leiden erfüllten ihn mit Mitgefühl für fremdes Leid, und Wohlstand hatte sein Herz nicht verhärtet; außerdem hatten die Lehren der Weisheit und eine fleckenlose Tugend seinem guten Naturell noch größeren Halt gegeben. Er nimmt den jungen Mann auf, verschafft ihm ein Nachtlager, empfiehlt ihn und theilt mit ihm sein geringes Einkommen, das für Zwei kaum ausreichend ist. Er thut sogar noch mehr, er unterrichtet ihn, tröstet ihn und lehrt ihn vor Allem die schwierige Kunst, jedes Mißgeschick mit Geduld zu ertragen. Hättet ihr, mit Vorurtheilen erfüllte Menschen, dies wol von einem Geistlichen, hättet ihr es wol in Italien vermuthet?«

»Dieser redliche Geistliche war ein armer savoyischer Vikar, der wegen eines Jugendabenteuers bei seinem Bischofe in Ungnade gefallen war und deshalb jenseits der Berge ein Unterkommen aufgesucht hatte, welches ihm in seinem Vaterlande versagt war. Es fehlte ihm weder an Geist noch an wissenschaftlicher Bildung. Diese Gaben so wie eine einnehmende Figur hatten ihm Gönner verschafft, welche ihn bei einem Minister unterbrachten, um die Erziehung seines Sohnes zu übernehmen. Allein er zog die Dürftigkeit der Abhängigkeit vor, und es fehlte ihm auch an dem richtigen Tacte im Umgange mit den Großen. Daher blieb er nicht lange in diesem Wirkungskreise, verlor jedoch, als er aus demselben schied, keineswegs die Achtung des Ministers, und da er einen unanstößigen Lebenswandel führte und sich bei Jedermann beliebt machte, so schmeichelte er sich mit der Hoffnung, doch noch die Gunst des Bischofs wieder zu gewinnen und irgend eine kleine Pfarrei im Gebirge von demselben zu erhalten, wo er seine übrigen Tage verleben könnte. Ein höheres Ziel kannte sein Ehrgeiz nicht.«

»Eine natürliche Neigung zog ihn zu dem jungen Flüchtlinge hin und trieb ihn an, denselben genau zu beobachten. Er nahm wahr, daß das Unglück sein Herz bereits gebrochen, daß Schmach und Verachtung seinen Muth gebeugt hatte, und daß seinem Stolze, der schon in tiefste Bitterkeit übergegangen war, die Ungerechtigkeit und Härte der Menschen nur als ein Gebrechen ihrer Natur und jede Tugend als eitler Wahn erschien. Derselbe hatte zu sehen geglaubt, daß die Religion nur die Maske des Eigennutzes abgibt und der religiöse Cultus die Heuchelei groß zieht; es war ihm vorgekommen, als ob bei allem Aufgebote des Scharfsinnes in den gelehrten Streitigkeiten Himmel und Hölle immer nur als Preis für ein Spielen mit Worten gelten, in seinen Augen war die erhabene und ursprüngliche Idee der Gottheit durch die phantastischen Einbildungen der Menschen entstellt, und da es ihm schien, daß man, um an Gott zu glauben, auf den Verstand verzichten müßte, den man von ihm erhalten hat, so zollte er sowol diesen ihm lächerlich dünkenden Träumereien der Menschen als auch dem Gegenstande derselben die nämliche Verachtung. Ohne die geringste Kenntniß von dem, was ist, ohne eine richtige Vorstellung von der Entstehung der Dinge, verharrte er mit tiefer Verachtung aller derer, die davon mehr als er zu wissen meinten, in seiner krassen Unwissenheit.«

»Die Verwerfung aller Religion führt zur Verabsäumung der Pflichten des Menschen. Unser Freigeist hatte in seinem Herzen schon mehr als die Hälfte dieses Weges zurückgelegt. Trotzdem war er nicht etwa mit besonders bösen Anlagen geboren, sondern der Unglaube und das Elend, welche seine Natur allmählich erstickten trieben ihn nur mit furchtbarer Schnelligkeit seinem Verderben entgegen und hatten ihn fast schon so weit gebracht, daß er in den Sitten zu einem Bettler herabsank, und in ihm den Grund zu der Moral eines Atheisten gelegt.«

»Obgleich das Uebel fast unvermeidlich einen traurigen Ausgang nehmen zu müssen schien, so hatte es doch bis jetzt seinen Höhepunkt noch nicht erreicht. Der junge Mann besaß Kenntnisse, und seine Erziehung war nicht vernachlässigt worden. Er stand in jenem glücklichen Alter, in welchem das gährende Blut die Seele zu erwärmen beginnt, ohne sie den Leidenschaften der Sinne zu unterwerfen. Die seinige hatte noch ihre ganze Spannkraft. Eine angeborne Schamhaftigkeit und eine gewisse Schüchternheit des Charakters vertraten bei ihm den Zwang und verlängerten für ihn jene Lebensperiode, in welcher ihr euren Zögling euch so sorgfältig zu erhalten bemüht. Das hassenswerthe Beispiel einer thierischen Entartung und eines reizlosen Lasters war so weit davon entfernt gewesen, seine Einbildungskraft anzufachen, daß es dieselbe vielmehr ertödtet hatte. Durch Widerwille und Ekel, die ihm lange Zeit die Tugend ersetzten, vermochte er seine Unschuld zu bewahren; sie sollte nur süßeren Verführungen unterliegen.«

»Der Geistliche erkannte nicht nur die Gefahr, sondern auch die Mittel zur Abwehr. Die Schwierigkeiten schreckten ihn durchaus nicht zurück; er fand Gefallen an seinem Werke und beschloß es zu vollenden und das Opfer, welches er der Versunkenheit und Schande entrissen hatte, in den Schooß der Tugend zurückzuführen. Nur mit größter Behutsamkeit ging er bei Ausführung seines Planes zu Werke. Der gute Zweck belebte seinen Muth und gab ihm Mittel ein, die seines edlen Strebens würdig waren. Welchen Erfolg er auch erzielen mochte, er war sicher, seine Zeit nicht verloren zu haben. Wer nur Gutes bezweckt, muß seine Bemühungen stets mit Erfolg gekrönt sehen.«

»Sein Erstes war, sich das Vertrauen des Proselyten dadurch zu gewinnen, daß er auf seine Wohlthaten keinen Preis setzte, daß er ihm nicht lästig fiel, ihm keine langen Predigten hielt, nie über die Grenzen seiner Fassungskraft hinausging und sich nicht scheute sich zu erniedrigen, um sich ihm so viel als möglich gleichzustellen. Es mußte meinem Bedünken nach in der That ein ergreifendes Schauspiel darbieten, mit anzusehen, wie sich ein ernster Mann zum Kumpane eines tief gesunkenen Menschen hergab und die Tugend den Ton ungebundener Zügellosigkeit annahm, um desto sicherer zum Ziele zu gelangen. Als der leichtsinnige Mensch endlich Vertrauen zu ihm faßte und ihm sein Herz ausschüttete, hörte ihn der Priester an und suchte ihm durch freundliches Entgegenkommen sein Geständniß zu erleichtern. Ohne das dabei vorkommende Böse zu billigen, legte er doch ein lebhaftes Interesse für Alles an den Tag. Niemals hemmte er durch unbesonnenen Tadel sein Geplauder oder machte ihm das Herz schwer. Das Vergnügen, mit welchem derselbe seine Worte aufgenommen glaubte, erhöhte noch die Freude, von der er bei diesen Herzensergießungen beseelt war. So beichtete er Alles, was er auf dem Herzen hatte, ohne sich doch seiner Beichte bewußt zu werden.«

»Nachdem der Priester über seine Gesinnungen und seinen Charakter ins Klare gekommen war, erkannte er deutlich, daß derselbe, obwol man ihn für sein Alter nicht unwissend nennen konnte, doch alles das vergessen hatte, was für ihn zu wissen von größter Wichtigkeit war, und daß die Schmach, in welche er durch die Schuld des Schicksals versunken war, in ihm jedes wahre Gefühl für Gut und Böse erstickt hatte. Es gibt einen Grad von Verkommenheit, welcher der Seele alles Leben entzieht. Die innere Stimme vermag sich dem nicht vernehmbar zu machen, der nur an die Sorge für seine Ernährung zu denken hat. Um den jungen Unglücklichen vor diesem moralischen Tode, dem er so nahe war, zu bewahren, suchte der Priester zunächst wieder Selbstliebe und Selbstachtung in ihm anzufachen; er malte ihm aus, eine wie glückliche Zukunft er sich durch eine geschickte Anwendung seiner Talente bereiten könnte, und verstand es durch die Erzählung guter Handlungen, welche Andere ausgeübt hatten, sein Herz wieder für alles Edele zu erwärmen; indem er ihn mit Bewunderung für die Personen erfüllte, welche so edel gehandelt hatten, rief er in ihm zugleich den Wunsch hervor, ähnliche Thaten zu vollbringen. Um ihn nach und nach von seinem müßigen und unstäten Leben loszureißen, verwandte er ihn zur Anfertigung von Auszügen aus auserlesenen Büchern, und indem er sich stellte, als bedürfe er dieser Auszüge, gab er dem edelen Gefühle der Dankbarkeit in ihm Nahrung. Er belehrte ihn mittelbar durch diese Bücher und flößte ihm wieder eine gute Meinung von sich selbst ein, damit er sich nicht für ein zu allem Guten unfähiges Wesen halten und sich des Gedankens entschlagen sollte, sich in seinen eigenen Augen verächtlich zu machen.«

»Die Mittheilung eines an und für sich unbedeutenden Vorfalles wird ausreichend sein, damit sich der Leser ein richtiges Urtheil über die große Kunst bilden könne, welche dieser wohlthätige Mann anwandte, um das Herz seines Schülers unmerklich aus der Erniedrigung zu erheben, ohne daß es den Anschein erweckte, er ginge darauf aus, ihm eine Belehrung zu ertheilen. Der Geistliche war von so anerkannter Rechtschaffenheit und von so unzweifelhafter Menschenkenntniß, daß sich mehrere Personen behufs Vertheilung ihrer Almosen lieber an ihn als an die reichen Stadtpfarrer wandten. Als man ihm eines Tages wieder einiges Geld zu diesem Zwecke übergeben hatte, war der junge Mensch unwürdig genug, ihn um einen Theil desselben anzusprechen, da er ja auch zu den Armen gehörte. »Nein«, versetzte dieser jedoch, »wir sind Brüder, Sie gehören mir an, und ich darf, wo es sich um meinen persönlichen Vortheil handelt, nichts von dem mir anvertrauten Gute anrühren.« Darauf schenkte er ihm aus seinen eigenen Mitteln so viel Geld, als er verlangt hatte. Lehren solcher Art verfehlen auf das Herz junger Leute, welche noch nicht völlig verdorben sind, selten ihre Wirkung.«

»Ich bin es aber müde, immer in der dritten Person zu reden, und es ist dies auch eine völlig überflüssige Mühe, denn ihr werdet wol schon vermuthen, liebe Mitbürger, daß ich selbst dieser unglückliche Flüchtling bin. Ich denke, die Verirrungen meiner Jugend liegen mir jetzt fern genug, daß ich es wagen darf, sie einzugestehen; und die Hand, die mich ihnen entriß, verdient es gewiß, daß ich ihren Wohlthaten, selbst auf die Gefahr hin, mich einer geringen Beschämung auszusetzen, wenigstens einige Ehre erweise.«

»Am auffallendsten war mir jedoch, daß ich in dem Privatleben meines würdigen Lehrers eine Tugend ohne Heuchelei, eine Menschlichkeit ohne Schwäche entdeckte, daß seine Reden immer aufrichtig und einfach waren und daß seine Handlungen stets seinen Worten entsprachen. Nie habe ich die Wahrnehmung gemacht, daß er sich darum bekümmert hätte, ob diejenigen, welchen er Handreichung leistete, auch zur Vesper gingen, ob sie fleißig beichteten, an den vorgeschriebenen Tagen fasteten oder sich der Fleischspeisen enthielten, noch daß er ihnen andere dergleichen Bedingungen auferlegt hätte, ohne welche man bei Frömmlern, und sollte man auch im Elende zu Grunde gehen, auf keine Hilfe rechnen kann.«

»Durch diese Beobachtungen ermuthigt und weit davon entfernt, vor seinen Augen mit dem erkünstelten Eifer eines Neubekehrten zu prunken, verhehlte ich ihm meine Denkweise keineswegs und fand nicht, daß ich dadurch Anstoß bei ihm erregte. Bisweilen hätte ich allerdings in Versuchung gerathen können, zu mir zu sagen: Er hält mir meine Gleichgiltigkeit gegen den Cultus, zu dem ich übergetreten bin, um deswillen zu Gute, weil er mich auch von derselben Gleichgiltigkeit gegen denjenigen erfüllt sieht, in dem ich geboren bin. Er begreift, daß meine Geringachtung nicht aus Parteilichkeit entsteht. Was für Gedanken mußten aber in mir aufsteigen, wenn ich ihn bisweilen Dogmen billigen hörte, welche denen der römisch-katholischen Kirche völlig widersprachen, und er sich den Anschein gab, als ob alle Ceremonien derselben in seinen Augen nur einen geringen Werth hätten? Hätte ich ihn nicht in der Beobachtung derselben Gebräuche, denen er so wenig Wichtigkeit beizulegen schien, so gewissenhaft gesehen, so würde ich ihn für einen heimlichen Protestanten gehalten haben; da ich mir aber die Ueberzeugung verschafft hatte, daß er seine priesterlichen Pflichten ohne Zeugen mit der nämlichen Pünktlichkeit erfüllte, mit denen er sie öffentlich beobachtete, so wußte ich nicht mehr, welches Urtheil ich mir über diese Widersprüche bilden sollte. Abgesehen von dem einen Fehler, welcher die Ursache seines Unglücks war und unter dessen Folgen er noch immer zu leiden hatte, war sein Leben exemplarisch, zeigte er sich in seinem Wandel untadelhaft, bekundeten seine Reden Rechtschaffenheit und Scharfsinn. Da ich mit ihm in größter Vertraulichkeit lebte, lernte ich ihn täglich höher achten, und die große Güte, die er gegen mich an den Tag gelegt, hatte ihm mein ganzes Herz gewonnen. Mit einer gewissen neugierigen Unruhe wartete ich auf den Augenblick, wo ich erfahren sollte, auf welchen Grundsatz er die Gleichmäßigkeit eines so eigentümlichen und ausgezeichneten Lebens gründete.«

»Dieser Augenblick erschien indeß nicht so bald. Bevor er sich seinem Schüler ganz enthüllte, bemühte er sich, den Samen der Vernunft und Güte, welchen er in seine Seele gestreut hatte, emporkeimen zu lassen. Was sich in mir am schwierigsten wollte ausrotten lassen, war ein stolzer Menschenhaß, eine gewisse Bitterkeit gegen die Reichen und Glücklichen in dieser Welt, als ob sie sich nur auf meine Kosten dazu hätten emporschwingen können und als ob durch ihr vermeintliches Glück das meinige geschmälert würde. Die thörichte Eitelkeit der Jugend, welche gegen jede Demüthigung ankämpft, erhöhte diese gehässige Stimmung nur in allzu hohem Grade, und da die Eigenliebe, die mein Mentor sich wieder rege in mir zu machen bemühte, mir ein Gefühl des Stolzes einflößte, so machte mir dieselbe die Menschen in meinen Augen noch verächtlicher und wurde die Ursache, daß zu meinem Hasse gegen sie noch die Verachtung hinzutrat.«

»Ohne diesem Stolze direct entgegenzutreten, trug er doch dafür Sorge, daß derselbe nicht in Verhärtung des Gemüths ausarten konnte, und ohne mir die Selbstachtung zu rauben, nahm er ihr doch einen Theil der Verachtung meines Nächsten, der sich sonst mit derselben gepaart hatte. Dadurch, daß er regelmäßig den leeren Schein entfernte und mir die eigentlichen Uebel nachwies, welche sich unter jenem verbergen, lehrte er mich die Fehler meiner Mitmenschen bedauern, an ihren Leiden Antheil nehmen und sie mehr beklagen als beneiden. Da er in Folge des tiefen Gefühls seiner eigenen Schwächen von innigem Mitleid mit den menschlichen Schwächen bewegt war, so betrachtete er die Menschen in jeder Beziehung als Opfer ihrer eigenen oder fremder Fehler; er erkannte, wie die Armen unter dem Joche der Reichen, die Reichen dagegen unter dem Joche ihrer Vorurtheile seufzten. Glauben Sie mir, sagte er, unsere Illusionen sind so weit davon entfernt, uns unsere Uebel zu verhüllen, daß sie dieselben vielmehr vermehren, indem sie an sich werthlosen Dingen einen hohen Werth beilegen und die falsche Vorstellung in uns erregen, daß wir tausenderlei Dinge entbehren müßten, deren Mangel wir sonst gar nicht fühlen würden. Der Friede der Seele besteht in der Verachtung alles dessen, was ihn zu stören im Stande ist. Der Mensch, welcher das Leben am höchsten schätzt, versteht es am wenigsten zu genießen, und wer dem Glücke am gierigsten nachjagt, wird sich stets am unglücklichsten fühlen.«

»O, was für traurige Bilder! rief ich mit Bitterkeit aus. Wozu frommt es, geboren zu werden, wenn wir uns Alles versagen müssen? Und wer vermag glücklich zu sein, wenn wir das Glück selbst verachten müssen? Ich! erwiderte eines Tages der Geistliche in einem Tone, der einen tiefen Eindruck auf mich machte. Wie? Sie glücklich? Sie, der sich in einer so wenig günstigen Lage befindet, der mit Armuth zu kämpfen hat, der in der Verbannung lebt und sich Verfolgungen ausgesetzt sieht, Sie sind glücklich? Und auf welchem Wege sind Sie dazu gelangt? – Das, mein Sohn, entgegnete er, will ich Ihnen gern mittheilen.«

»Darauf sagte er, nachdem ich mit meinen Bekenntnissen ihm gegenüber nicht zurückgehalten hätte, wollte er mir auch die seinigen ablegen. Ich werde Ihnen, sagte er, indem er mich umarmte, mein ganzes Herz ausschütten. Sie sollen mich, wenn auch nicht so wie ich bin, doch wenigstens so, wie ich mich selbst erblicke, kennen lernen. Sobald Sie mein Glaubensbekenntniß völlig angehört und meinen Seelenzustand genau erfahren haben werden, so werden Sie auch begreifen, weshalb ich mich glücklich schätze, und einsehen, was Sie selbst zu thun haben, um es zu werden, wenn Sie meinen Ansichten huldigen. Diese Geständnisse lassen sich jedoch nicht in einem Augenblicke ablegen. Es gehört Zeit dazu, Ihnen Alles, was ich über das Menschenloos und über den wahren Werth des Lebens denke, auseinander zu setzen. Lassen Sie uns eine Stunde und einen Ort bestimmen, die sich am besten für uns eignen, um in ungestörter Ruhe diese Unterhaltung führen zu können.«

»Ich sprach ihm mein lebhaftes Verlangen aus, ihn zu hören. Die Zusammenkunft wurde deshalb auch nur bis zum folgenden Morgen hinausgeschoben. Wir befanden uns gerade im Sommer; schon bei Tagesanbruche erhoben wir uns. Er führte mich zur Stadt hinaus auf einen hohen Hügel, dessen Fuß vom Po bespült wurde, den man zwischen fruchtbaren Ufern majestätisch dahinströmen sah. In weiter Ferne wurde die Landschaft von der unermeßlichen Alpenkette umrahmt. Hier und da glitten schon einige Strahlen der aufgehenden Sonne über die Ebenen, und indem die Bäume, Hügel und Häuser ihre langen Schatten auf die Fluren warfen, wurde das vollendetste Gemälde, welches das menschliche Auge zu fesseln vermag, durch den tausendfachen Wechsel von Licht und Schatten noch mehr gehoben. Man hätte glauben können, die Natur wolle vor unseren Augen ihre ganze Pracht entfalten, um uns dadurch gleichsam den Text für unser Gespräch zu liefern. Nachdem wir das liebliche Bild einige Zeit stillschweigend betrachtet hatten, hob der Mann des Friedens folgendermaßen zu erzählen an:

Glaubensbekenntniß des savoyischen Vicars.

Mein Kind, erwarten Sie von mir weder gelehrte Abhandlungen, noch tief eingehende Erörterungen. Ich bin kein großer Philosoph und mache mir auch nichts daraus, daß ich es nicht bin. Indeß kann ich mich bisweilen auf mein gesundes Urtheil verlassen und liebe unter allen Umständen die Wahrheit. Ich beabsichtige nicht mit Ihnen zu disputiren, ja ich will nicht einmal versuchen, Sie zu meiner Ansicht herüberzuziehen. Es genügt mir, Ihnen das darzulegen, was ich in aller Einfalt meines Herzens denke. Befragen Sie während meiner Mittheilungen ihr eigenes Herz, das ist Alles, was ich verlange. Irre ich mich, so geschieht es wenigstens in gutem Glauben, und das ist ausreichend, daß mir mein Irrthum nicht zum Verbrechen angerechnet werden kann. Würden Sie sich in ähnlicher Weise täuschen, so würde dies durchaus nicht schlimm sein. Stellen sich meine Gedanken jedoch als richtig heraus, so sind wir ja Beide mit Vernunft begabt und haben das nämliche Interesse, auf sie zu hören. Weshalb sollten Sie nicht eben so denken können wie ich?

Ich bin in Armuth und in einer Bauernhütte geboren; mein Stand bestimmte mich offenbar dazu, das Land zu bebauen; aber man hielt es für zweckmäßiger, daß ich mir mein Brod im geistlichen Stande verdienen lernte, und fand Mittel, mich studiren zu lassen. Sicherlich dachten weder meine Eltern noch ich daran, daß ich es mir in dieser Stellung zur Aufgabe machen müßte, zu erforschen, was gut, wahr und nützlich ist, sondern unser Augenmerk drehte sich ausschließlich um den Wissensgrad, den ich mir aneignen müßte, um die Weihe erhalten zu können. Ich lernte, was man von mir verlangte, redete, wie man es haben wollte, legte das Gelübde ab, wie man es mir vorsprach, und endlich war der Priester fertig. Aber bald genug merkte ich, daß ich, als ich das Gelübde abgelegt hatte, nicht als Mann zu leben, mehr versprochen hatte, als ich halten konnte.

Man sucht uns einzureden, daß das Gewissen das Ergebniß der Vorurtheile sei; jedoch weiß ich aus eigener Erfahrung, daß dasselbe allen Menschengesetzen gegenüber durchaus die strenge Befolgung der Naturordnung verlangt. Ob man uns dies oder jenes verbietet, stets wird uns das Gewissen für Alles, was uns die wohlgeordnete Natur gestattet oder wol gar vorschreibt, nur äußerst geringe Vorwürfe machen. O lieber junger Mann, zu Ihren Sinnen hat sie noch nicht gesprochen, leben Sie noch recht lange in dem glücklichen Zustande, wo Ihre Stimme die Stimme der Unschuld ist. Seien Sie dessen stets eingedenk, daß man sich noch mehr an ihr versündigt, wenn man ihr zuvorkommt, als wenn man sie bekämpft; erst muß man ihr widerstehen lernen, damit man daraus die Kenntniß schöpfe, wenn man ihr ohne Sünde nachgeben darf.

Von Jugend auf habe ich die Ehe als die vorzüglichste und heilsamste Institution der Natur hochgeachtet. Nachdem ich freiwillig auf das Recht verzichtet hatte, eine Ehe einzugehen, beschloß ich, sie nun auch in keiner Weise zu entweihen, denn trotz meiner Schulbildung und meiner Studien hatte ich meinem Geiste, da ich beständig ein gleichmäßiges und einfaches Leben geführt hatte, doch die ganze Klarheit seiner ursprünglichen Einsichten bewahrt. Die Grundsätze der Welt hatten sie in keiner Hinsicht verdunkelt, und meine Armuth hielt die Versuchungen von mir fern, die uns zu den Sophismen des Lasters führen.

Aber gerade dieser Entschluß gereichte mir zum Verderben. Meine Achtung vor fremdem Ehebette mußte meine Fehltritte bald offenbar werden lassen. Das Aergerniß verlangte Sühne; gefänglich eingezogen, abgesetzt, verbannt, war ich mehr das Opfer meiner Gewissenhaftigkeit, als meiner Unkeuschheit, und aus den Vorwürfen, mit denen mein Vorgesetzter die Ungnade, welche er mir erklärte, begleitete, konnte ich sehr wohl abnehmen, daß man, um sich der Strafe zu entziehen, oft nur den Fehler zu verschlimmern braucht.

Wenige Erfahrungen dieser Art genügen, einen Geist, der an Nachdenken gewöhnt ist, großer Gefahr auszusetzen. Da ich in Folge meiner traurigen Beobachtungen die Vorstellungen, die ich mir von Gerechtigkeit, Redlichkeit und allen menschlichen Pflichten gebildet hatte, umgestoßen sah, so verlor ich täglich irgend eine der Ansichten, die ich angenommen hatte. Diejenigen, welche mir noch blieben, waren unzulänglich, ein einheitliches Ganze zu bilden, das sich durch sich selbst hätte erhalten können. Ich fühlte, wie sich in meinem Geiste allmählich die Klarheit der Grundsätze verdunkelte, und da ich schließlich nicht mehr wußte, was ich denken sollte, so gelangte ich auf denselben Punkt, auf dem Sie sich jetzt befinden, lediglich mit dem Unterschiede, daß sich mein Unglaube, die spät gezeitigte Frucht eines reiferen Alters, unter ungleich größeren Leiden entwickelt hatte und schwieriger auszurotten sein mußte.

Ich befand mich in jener Stimmung von Ungewißheit und Zweifel, welche Cartesius als eine Voraussetzung zur Erforschung der Wahrheit betrachtet. Ein solcher Zustand ist zu einer längeren Dauer nicht geeignet und ist eben so beunruhigend wie peinlich. Nur das Interesse an dem Laster oder die Trägheit des Geistes kann uns in demselben zurückhalten. Noch war mein Herz nicht verdorben genug, um darin Gefallen zu finden, und nichts erhält die Gewohnheit, nachzudenken, besser, als wenn man mit sich zufriedener als mit seinem Schicksale ist.

Ich stellte also Betrachtungen über das traurige Loos der Sterblichen an, welche ohne einen anderen Führer, als einen unerfahrenen Steuermann, der die Fahrstraße nicht kennt und nicht weiß, von wannen er kommt, noch wohin er segelt, auf dem Meere der menschlichen Meinungen ohne Steuerruder, ohne Kompaß und ihren stürmischen Leidenschaften überlassen, dahintreiben. Ich sagte mir: Ich liebe die Wahrheit und suche sie, vermag sie aber nicht zu erkennen. Man zeige sie mir und ich werde ihr stets treu bleiben. Weshalb muß sie sich gerade dem eifrigen Entgegenkommen eines Herzens entziehen, welches dazu geschaffen ist, sie zu verehren?

Obgleich ich oft noch größere Leiden erduldet habe, so habe ich doch nie ein so anhaltend unangenehmes Leben geführt, wie in dieser Zeit der Aufregung und peinlicher Unruhe, wo ich, unaufhörlich von einem Zweifel in den andern verfallend, als Frucht meines langen Nachdenkens nur Ungewißheit, Dunkelheit und Widersprüche über den Urgrund meines Daseins und über den Inhalt meiner Pflichten davontrug.

Wie kann man nur systematisch und mit voller Aufrichtigkeit ein Zweifler sein? Mir ist es unbegreiflich. Solche Philosophen existiren entweder gar nicht oder müssen die unglücklichsten Menschen sein. Zweifel in Bezug auf Dinge, deren Kenntniß für uns durchaus wichtig ist, ruft einen für den menschlichen Geist allzu aufreibenden Zustand hervor. Er ist nicht im Stande, ihn lange auszuhalten. Wider Willen entscheidet er sich nach dieser oder jener Seite hin und will sich lieber täuschen als gar nichts glauben.

Daß ich durch Geburt einer Kirche angehörte, welche Alles selbst entscheidet und keinen Zweifel duldet, trug wesentlich zur Vermehrung meiner Verlegenheit bei, weil ich durch Verwerfung eines einzigen Dogmas genöthigt wurde, auch alle übrigen zu verwerfen. Dazu kam, daß die Unmöglichkeit, eine so große Menge absurder Entscheidungen als richtig anzuerkennen, mir auch diejenigen verleidete, welche es nicht waren. Indem man von mir verlangte, Alles zu glauben, hielt man mich davon zurück, überhaupt etwas zu glauben, und ich wußte nicht mehr, wobei ich stehen bleiben sollte.

Nun suchte ich bei den Philosophen Rath, durchblätterte ihre Werke, prüfte ihre verschiedenen Ansichten. Sämmtliche fand ich stolz, absprechend und selbst bei all ihrem vermeintlichen Skepticismus dogmatisch. Es ging ihnen alles Wissen ab, sie vermochten nichts zu beweisen und verspotteten sich gegenseitig, und dieser Punkt, der ihnen Allen gemeinsam war, schien mir auch der einzige zu sein, in Bezug auf welchen sie Alle Recht hatten. Siegestrunken beim Angriff, fehlt es ihnen bei der Verteidigung an aller Energie. Prüft ihr ihre Gründe, so zeigt es sich bald, daß sie nur solche anzuführen wissen, die zum Niederreißen dienen. Zählt ihr die Stimmen, so seid ihr durch die Entdeckung überrascht, daß nicht Zwei übereinstimmen. Sie gehen nur scheinbar einen Vergleich ein, um desto besser disputiren zu können. Auf sie zu hören, war für mich nicht das Mittel, von meiner Ungewißheit befreit zu werden.


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