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Wofür soll man sich nun aber entscheiden? Man geht hierbei gewöhnlich von der Voraussetzung aus, daß es nur eine Alternative gebe, entweder seine Neigungen zu begünstigen oder zu bekämpfen, sein Tyrann zu werden oder seinen Leidenschaften Vorschub zu leisten. Mit Beidem sind jedoch so gefährliche Folgen verknüpft, daß man bei der Wahl nicht vorsichtig genug zu Werke gehen kann.

Das erste Mittel, welches sich darbietet, um dieser Schwierigkeit aus dem Wege zu gehen, besteht darin, ihn so früh wie möglich zu verheirathen. Es ist unstreitig der sicherste und naturgemäßeste Ausweg; trotzdem hege ich gerechten Zweifel, ob es auch der beste und vorteilhafteste ist. Ich werde weiter unten meine Gründe dafür anführen. Vorläufig will ich indeß zugeben, daß man junge Leute im mannbaren Alter verheirathen muß. Aber dieses Alter erscheint für sie vor der Zeit; wir selbst haben dazu beigetragen, daß es zu früh eintritt; man muß es also bis zur völligen Reife hinauszuschieben suchen.

Brauchte man nur auf die Neigungen zu hören und ihren Anzeichen nachzugehen, so ließe sich das bald erreichen. Allein es gibt so viel Widersprüche zwischen den Rechten der Natur und unseren sozialen Gesetzen, daß man zu einer Ausgleichung derselben fortwährend zu Ausflüchten und Winkelzügen seine Zuflucht nehmen muß. Es gehört ein großer Aufwand von Kunst dazu, um den socialen Menschen vor einer völligen Verkünstelung zu bewahren.

Aus den oben auseinandergesetzten Gründen bin ich der Ansicht, daß man durch die von mir angegebenen sowie andere ähnliche Mittel die Unkenntniß der Begierden und die Reinheit der Sinne wenigstens bis zum zwanzigsten Jahre zu erhalten vermag. Dies ist so wahr, daß bei den germanischen Völkern ein junger Mann, welcher vor diesem Alter die Keuschheit verletzte, auf immer für ehrlos galt, und mit Recht suchen die Geschichtsschreiber den Grund zu der Körperkraft derselben und zu der Menge ihrer Kinder in der Enthaltsamkeit während der Jugend.

Dieser Zeitpunkt läßt sich sogar noch viel weiter hinausschieben, und noch vor wenig Jahrhunderten war selbst in Frankreich nichts gewöhnlicher. Unter anderen bekannten Beispielen verdient der Vater des Montaigne, ein nicht weniger gewissenhafter und wahrheitsliebender als kräftiger und kerngesunder Mann der Erwähnung, der sich nach seiner eigenen eidlichen Versicherung in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahre, nach längerer Dienstzeit in den italienischen Kriegen, als reiner Junggesell verheirathet hat, und man kann aus den Schriften seines Sohnes ersehen, welche Lebenskraft und Heiterkeit sich sein Vater bis über sein sechzigstes Jahr hinaus bewahrt hat. Sicherlich stützt sich die entgegengesetzte Anschauung mehr auf unsere Sitten und Vorurtheile, als auf die Kenntniß des Menschengeschlechts im Allgemeinen.

Ich brauche deshalb nicht erst auf das Beispiel unserer Jugend einzugehen. Es liefert keinen Beweis gegen den, welcher nicht so erzogen ist wie sie. In Erwägung dessen, daß die Natur in dieser Beziehung keinen bestimmten Zeitpunkt hat, dessen Eintritt sich nicht beschleunigen oder verzögern ließe, glaube ich, ohne ihr Gesetz zu verletzen, annehmen zu können, daß sich Emil bis jetzt durch meine Sorgfalt seine ursprüngliche Unschuld bewahrt hat, sehe aber auch, daß sich dieser glückliche Lebensabschnitt seinem Ende nähert. Von beständig wachsenden Gefahren umringt, wird er mir, was ich auch immer thun möge, bei der ersten Gelegenheit entschlüpfen, und diese Gelegenheit wird nicht lange ausbleiben. Er wird dem blinden Triebe seiner Sinne folgen, und man kann tausend gegen eins wetten, daß er auf bestem Wege ist, sich ins Verderben zu stürzen. Ich habe zu viele Betrachtungen über die Sitten der Menschen angestellt, um nicht den unüberwindlichen Einfluß dieses ersten Augenblicks auf die ganze übrige Lebenszeit zu erkennen. Verstelle ich mich und nehme ich den Anschein an, als ob ich nichts bemerkte, so macht er sich meine Schwäche zu Nutze. Während er mich hinter das Licht zu führen glaubt, verachtet er mich, und ich bin mit an seinem Verderben Schuld. Mache ich dagegen den Versuch, ihn auf den rechten Weg zurückzubringen, so ist es nicht mehr Zeit, und er hört nicht mehr auf mich. Ich werde ihm unbequem, verhaßt und unerträglich. Er wird nicht säumen, sich meiner zu entledigen. Unter diesen Umständen bleibt mir vernünftigerweise nur noch ein Mittel übrig, das nämlich, ihn selbst für seine Handlungen verantwortlich zu machen, ihn wenigstens vor den Täuschungen des Irrthums zu bewahren und ihm offen die Gefahren darzulegen, von denen er umgeben ist. Hatte ich ihn bisher durch seine Unwissenheit zurückgehalten, so müssen mir jetzt seine Einsichten zu gleichem Zwecke dienen.

Diese neuen Belehrungen sind von Wichtigkeit, und es erscheint angemessen, die Dinge von einem höheren Standpunkte aus zu betrachten. Das ist der rechte Augenblick, ihm gleichsam Rechenschaft abzulegen; ihm den Nachweis über die Verwendung seiner und meiner Zeit zu führen; ihm zu erklären, was er ist, und was ich bin, was ich gethan habe, und was er gethan hat, was wir uns gegenseitig schuldig sind; ihm alle seine moralischen Verhältnisse, alle seine Verpflichtungen zu erklären, die er eingegangen ist und auf welche Andere ihm gegenüber eingegangen sind; ihm darzulegen, welchen Höhepunkt er in der Entwickelung seiner Fähigkeiten erreicht, welchen Weg er noch zurückzulegen hat, welche Schwierigkeiten ihm auf demselben begegnen werden und durch welche Mittel sich dieselben überwinden lassen, worin ich ihm noch ferner Beistand leisten kann, worin er sich in Zukunft nur allein zu helfen vermag, kurz, ihm den kritischen Punkt zu zeigen, auf welchem er sich befindet, ihm die neuen Gefahren, welche ihn umringen, und alle jene stichhaltigen Gründe vorzuführen, welche ihn dazu bestimmen müssen, mit aller Aufmerksamkeit über sich zu wachen, bevor er den in ihm aufsteigenden Gelüsten nachgibt.

Lasset nicht außer Acht, daß man bei der Leitung eines Erwachsenen gerade das Gegentheil von dem thun muß, was ihr bei der Leitung eines Kindes gethan habt. Heget kein Bedenken, ihn in jenen gefährlichen Geheimnissen zu unterrichten, welche ihr ihm so lange mit aller Sorgfalt verborgen habt. Da er sie am Ende doch einmal erfahren muß, so kommt viel darauf an, daß er sie weder von einem Anderen, noch von sich selbst, sondern nur von euch kennen lerne. Da er von nun an doch gezwungen sein wird, gegen dieselben anzukämpfen, so muß er, um nicht der Gefahr der Ueberraschung ausgesetzt zu sein, seinen Feind doch kennen.

Nie sind junge Leute, die man in Bezug auf diese Gegenstände aufgeklärt findet, ohne zu wissen, wie sie zu dieser Kenntniß gelangt sind, es ungestraft geworden. Da sich diese unbedachtsame Unterweisung um keinen ehrbaren Gegenstand drehen kann, so befleckt sie wenigstens die Einbildungskraft derer, die sie empfangen, und flößt ihnen Neigung zu den Lastern derer ein, die sie ertheilen. Dies ist jedoch noch nicht einmal Alles. Das ist die Handhabe, deren sich die Dienstleute bedienen, um sich in den Geist des Kindes einzuschleichen. Dadurch gewinnen sie das Vertrauen desselben, malen ihm seinen Erzieher als eine mürrische und lästige Persönlichkeit aus, und einen Lieblingsgegenstand ihrer geheimen Unterredungen bilden die Klatschereien über denselben. Ist es mit dem Zöglinge erst so weit gekommen, dann kann der Erzieher sein Amt nur getrost aufgeben; Gutes vermag er nicht mehr zu wirken.

Weshalb wählt sich nun aber das Kind solche seltsame Vertraute? Regelmäßig wegen der Tyrannei derer, welche seine Erziehung leiten. Weshalb sollte es gegen dieselben Zurückhaltung beobachten, wenn es nicht dazu gezwungen würde? Weshalb sollte es sich über sie beklagen, wenn es keinen Grund zur Klage hätte? Sie sind naturgemäß die ersten Vertrauten desselben; an dem Eifer, mit dem es kommt, ihnen alle seine Gedanken mitzutheilen, kann man wahrnehmen, daß es sie nur zur Hälfte gedacht zu haben meint, so lange es ihnen dieselben nicht bekannt hat. Ihr könnt mit Sicherheit darauf rechnen, daß das Kind, sobald es von eurer Seite weder Strafpredigt noch Rüge zu befürchten hat, euch stets Alles sagen wird, und daß man sich nicht unterfangen wird, ihm etwas anzuvertrauen, was es euch verschweigen muß, wenn man sich überzeugt halten kann, daß es euch nie etwas verschweigt.

Was mir die Richtigkeit meiner Methode am augenscheinlichsten macht, ist der Umstand, daß ich, wenn ich mir über ihre Erfolge so genau wie möglich Rechenschaft ablege, doch nie im Leben meines Zöglings auch nur eine einzige Lage finde, die mir nicht irgend ein freundliches Bild von ihm hinterließe. Selbst in dem Momente, in welchem ihn die Leidenschaftlichkeit seines Temperamentes hinreißt, und in welchem er, voller Empörung gegen die Hand, die ihn zurückhält, sich sträubt und mir zu entschlüpfen beginnt, erkenne ich in der Unruhe seines Gemüths, in seinem Aufbrausen noch immer seine ursprüngliche Einfalt wieder. Sein Herz, das noch so rein wie sein Körper ist, kennt eben so wenig Verstellung wie Laster. Noch haben Vorwürfe und verächtliche Behandlung sein Ehrgefühl nicht abgestumpft; nie hat elende Furcht ihm den Gedanken, sich zu verstellen, eingeflößt. Noch besitzt er die ganze Unbedachtsamkeit der Unschuld, ohne Bedenken überläßt er sich seiner Naivetät, er weiß noch nicht, welchen Nutzen eine Täuschung verschaffen könnte. Keine Bewegung geht in seinem Innern vor, die sein Mund oder seine Augen nicht errathen ließen, und oft sind mir die Gedanken, welche ihn erfüllen, früher bekannt, als ihm selbst.

So lange er fortfährt, mir in solcher Offenherzigkeit seine Seele zu enthüllen und mir Alles, was er fühlt, mit Freuden zu offenbaren, habe ich nichts zu befürchten; die Gefahr ist noch nicht nahe. Sobald er jedoch schüchterner und zurückhaltender wird, sobald mir in seinen Unterhaltungen die erste Verlegenheit der Scham auffällt, dann regt der Trieb sich in ihm schon, ja, dann beginnt sich bereits die Vorstellung des Bösen mit demselben zu verbinden. Jetzt gilt es, keinen Augenblick mehr zu verlieren, und wenn ich mich nicht beeile ihn selbst zu unterrichten, so wird er bald auch wider meinen Willen unterrichtet sein.

Mehr als einer meiner Leser wird, selbst wenn er auf meine Ideen eingeht, die Ansicht hegen, daß es sich hierbei nur um eine gelegentlich herbeigeführte Unterredung mit dem jungen Manne handele, und daß nun damit Alles abgemacht sei. Ach, daß sich das menschliche Herz leider nicht auf diese Weise lenken läßt! Worte sind bedeutungslos, wenn man nicht den Augenblick der Unterredung vorbereitet hat. Bevor man den Samen ausstreut, muß man das Erdreich bestellen. Der Same der Tugend geht schwer auf. Es bedarf langwieriger Zubereitungen, ehe er Wurzel zu schlagen vermag. Eine der Ursachen, in Folge deren die Predigten so äußerst wenig Nutzen stiften, liegt darin, daß man sie ohne Unterschied und Wahl an alle Welt richtet. Wie kann man sich nur einbilden, daß ein und dieselbe Predigt sich für so viele Zuhörer eignen könne, die sich in so verschiedener Stimmung befinden und an Geist, Temperament, Alter, Geschlecht, Lebensstellung und Ansichten einander so unähnlich sind? Es gibt vielleicht nicht Zwei, auf welche das, was an Alle gerichtet ist, vollkommen paßt, und alle unsere Seelenzustände haben so wenig Beständigkeit, daß es im Leben eines jeden Menschen vielleicht wieder nicht zwei Augenblicke gibt, in denen dieselbe Rede den gleichen Eindruck auf ihn hervorbringt. Beurtheilt nun selbst, ob dann, wenn die entbrannte Sinnlichkeit den Verstand zum Schweigen bringt und den Willen beherrscht, wol die rechte Zeit ist, auf die ernsten Lehren der Weisheit zu lauschen. Redet deshalb mit jungen Leuten nie von Vernunft, nicht einmal wenn sie schon das Alter der Vernunft erreicht haben, bevor ihr sie nicht in den Stand versetzt habt, euch zu verstehen. An der Wirkungslosigkeit der meisten Reden tragen weit mehr die Lehrer als die Schüler die Schuld. Der Pedant und der wahre Erzieher sagen ungefähr dasselbe, allein ersterer sagt es bei jeder Gelegenheit, während letzterer es nur dann in Worte kleidet, wenn er des Erfolges sicher ist.

Wie ein Nachtwandler, der im Schlafe umherirrt, mit zugemachten Augen am Rande eines Abgrundes dahinschreitet, in den er beim plötzlichen Erwachen hinabstürzen würde, so entgeht auch mein Emil im Schlafe der Unwissenheit Gefahren, die er bis jetzt noch gar nicht bemerkt; erwecke ich ihn plötzlich, so ist er verloren. Unser Bemühen muß deshalb zunächst darauf gerichtet sein, ihn vom Abgrunde zu entfernen; erst dann werden wir ihn wecken können, um ihm denselben aus der Ferne zu zeigen.

Lesen, Einsamkeit, Müßiggang, weichliche und sitzende Lebensweise, Umgang mit Frauen und jungen Leuten, das sind die gefährlichen Abwege, auf die er in seinem Alter gar leicht geräth und die ihn unaufhörlich dicht neben der Gefahr erhalten. Durch andere sinnliche Gegenstände suche ich seine Sinnlichkeit von ihnen abzulenken. Dadurch, daß ich seinen Lebensgeistern eine andere Richtung vorzeichne, leite ich sie von derjenigen ab, die sie schon einzuschlagen anfingen. Durch stete Uebung seines Körpers in allerlei anstrengenden Arbeiten hemme ich die Lebhaftigkeit seiner Einbildungskraft, die ihn fortzureißen droht. Wenn die Arme unablässig arbeiten, so ruht die Einbildungskraft; wenn der Körper völlig ermüdet ist, fängt das Herz nicht Feuer. Die kürzeste und leichteste Vorsichtsmaßregel besteht darin, ihn der örtlichen Gefahr zu entrücken. Zunächst darf er seinen Wohnsitz nicht länger in Städten haben, auch trenne ich ihn von den Gegenständen, die ihn möglicherweise zu versuchen vermöchten. Das ist indeß noch nicht genügend; in welcher Wüste, in welcher Wildniß könnte er wol den ihn verfolgenden Bildern seiner Einbildungskraft entrinnen? Ihn nur von den gefährlichen Gegenständen trennen, ist ganz erfolglos, wenn ich nicht gleichzeitig dafür sorge, daß auch die Erinnerung an dieselben in ihm erblaßt. Wenn ich nicht die Kunst entdecke, ihn von Allem loszulösen, wenn ich ihn nicht von sich selbst ablenke, dann hätte ich ihn eben so gut lassen können, wo er war.

Emil versteht ein Handwerk, aber hierbei nehmen wir nicht zu demselben unsere Zuflucht. Er liebt und versteht die Landwirthschaft, indeß die Landwirthschaft genügt uns hierbei nicht. Die ihm schon bekannten Beschäftigungen werden ihm zu einer rein äußerlichen Fertigkeit. Wenn er sich mit ihnen befaßt, so ist dies eben so gut, als thäte er nichts. Er denkt dabei an etwas ganz Anderes. Kopf und Arme sind auf ganz verschiedene Weise thätig. Für ihn ist jetzt eine ganz neue Beschäftigung nöthig, die ihm durch ihre Neuheit Interesse einflößt, ihn in Athem erhält, ihm gefällt, die ihm Mühe macht und mit körperlicher Uebung verbunden ist, kurz eine Beschäftigung, die ihn leidenschaftlich erregt und in der er fortan lebt und webt. Die einzige, welche mir alle diese Bedingungen in sich zu vereinen scheint, ist die Jagd. Wenn die Jagd je ein unschuldiges Vergnügen ist, wenn sie je für den Menschen paßt, so muß man jetzt seine Zuflucht zu ihr nehmen. Emil besitzt alle Eigenschaften eines tüchtigen Jägers; er ist kräftig, gewandt, geduldig, unermüdlich. Unfehlbar wird er Gefallen an dieser Uebung finden. Er wird sie mit dem ganzen Feuer seines Alters betreiben und dabei, wenigstens auf einige Zeit, die gefährlichen Neigungen verlieren, welche die Verweichlichung zur Folge hat. Die Jagd härtet Leib und Seele gleichermaßen ab. Sie gewöhnt an Blut, an Grausamkeit. Diana gilt als Feindin der Liebe, und diese Allegorie ist durchaus richtig. Das Schmachten der Liebe keimt nur im Schooße süßer Ruhe; heftige körperliche Bewegung erstickt die zärtlichen Empfindungen. In den Wäldern und in ländlichen Gegenden werden Liebende und Jäger von so verschiedenartigen Gefühlen beseelt, daß sie an die nämlichen Gegenstände ganz verschiedene Vorstellungen knüpfen. In den kühlen Schatten, den Hainen, den süßen Plätzen verschwiegener Liebe, die die Ersteren erblicken, sehen Letztere nur Weideplätze des Wildes, Schonungen und Wildlager; wo jene nur Schalmeien, Nachtigallen und Vogelgesang vernehmen, hören diese nur den Klang der Jagdhörner und Rüdengebell heraus. Dem Einen spiegelt ihre Phantasie Dryaden und Nymphen vor, den Anderen Jäger, Jagdhunde und Pferde. Macht mit diesen beiden Arten von Menschen einen Ausflug auf das Land hinaus, und ihr werdet an der Verschiedenheit ihrer Ausdrucksweise bald erkennen, daß ihnen die Erde nicht in demselben Lichte erscheint, und daß ihr Ideengang eben so verschieden ist, wie die Wahl ihrer Vergnügungen.

Ich begreife, wie sich diese verschiedenen Geschmacksrichtungen auch wieder vereinigen können, und wie man schließlich Zeit für Alles findet. Indeß lassen sich die Leidenschaften der Jugend noch nicht auf solche Weise theilen. Gebt ihr eine einzige Beschäftigung, die ihr zusagt, und bald wird alles Uebrige vergessen sein. Die Mannigfaltigkeit der Wünsche hat die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse zur Quelle, und die Vergnügungen, die man zuerst kennen gelernt hat, sind lange Zeit die einzigen, die man sucht. Es ist durchaus nicht mein Wunsch, daß Emil seine ganze Jugend ausschließlich damit zubringen soll, Wild zu erlegen, und ich bin nicht einmal Willens, diese wilde Leidenschaft in allen Stücken zu rechtfertigen. Für mich genügt schon, daß sie dazu dient, eine noch gefährlichere Leidenschaft zurückzuhalten, so daß er mich, wenn ich davon rede, kaltblütig anzuhören vermag, und mir Zeit zu lassen, sie ihm zu schildern, ohne daß sie dadurch in ihm wachgerufen wird.

Es gibt Epochen im Menschenleben, welche dazu bestimmt sind, nie wieder aus dem Gedächtnisse zu entschwinden. Eine solche ist für Emil die Zeit der Unterweisung, von der ich eben rede. Sie soll einen bleibenden Einfluß auf sein ganzes übriges Leben ausüben. Verwenden wir deshalb allen Fleiß darauf, sie seinem Gedächtnisse dergestalt einzugraben, daß sie unauslöschlich in demselben haftet. Es gehört zu den Irrthümern unserer Zeit, die Vernunft gern in allzu nackter Form in Anwendung zu bringen, als ob die Menschen nur geistige Wesen wären. Dadurch, daß man die Zeichensprache vernachlässigt, welche so beredt zur Einbildungskraft spricht, entbehrt man die allerüberzeugendste Sprache. Der Eindruck des Wortes ist stets nur schwach, und man spricht zum Herzen ungleich besser durch die Augen als durch die Ohren. Weil wir uns in Allem nur auf die logische Beweisführung verlassen wollen, haben wir uns bei unseren Vorschriften auf Worte beschränkt und sie nicht gleichzeitig in Handlungen verlegt. Die bloße Vernunft ist nicht wirksam, sie hält zwar zuweilen von etwas zurück, aber selten gibt sie einen starken Anreiz, und noch nie hat sie etwas Großes hervorgerufen. Fortwährendes Klügeln ist die Sucht kleiner Geister. Starke Seelen reden eine ganz andere Sprache; durch diese Sprache überzeugt man und gibt den Impuls zu Thaten.

Ich habe die Bemerkung gemacht, daß in neuerer Zeit die Menschen nur durch Ausübung von Gewalt oder durch Erregung des Interesses einander beeinflussen, während die Alten vielmehr durch Ueberredung und Gemüthsbewegungen eine Einwirkung auf einander ausübten, weil sie die Zeichensprache nicht vernachlässigten. Um den Verträgen einen unverbrüchlicheren Charakter zu verleihen, fand ihr Abschluß unter großer Feierlichkeit statt. Ehe die Gewalt zur Geltung kam, waren die Götter die Obrigkeit des menschlichen Geschlechts. Vor ihnen schlossen die einzelnen Persönlichkeiten ihre Verträge und Bündnisse und gaben ihre festen Zusagen. Die Oberfläche der Erde bildete das Buch, in welchem sie ihre Urkunden aufbewahrten. Felsen, Bäume, Steinhaufen, die durch solche Acte geheiligt und den rohen Menschen ehrwürdig gemacht waren, dienten als Blätter dieses vor Aller Augen beständig offen daliegenden Buches. Der Brunnen des Eides, der Brunnen des Lebendigen und Sehenden, die alte Eiche zu Mamre, der Steinhaufe des Zeugnisses, das waren die zwar rohen, aber hehren Denkmale der Heiligkeit der Verträge. Niemand hätte gewagt, sich mit ruchloser Hand an diesen Denkmalen zu vergreifen, und die Treue der Menschen war durch die Bürgschaft dieser stummen Zeugen gesicherter als heut zu Tage durch alle nichtige Strenge der Gesetze.

Hinsichtlich der Staatsregierung flößte der majestätische Prunk königlicher Macht den Völkern Achtung ein. Zeichen der Würde, ein Thron, ein Scepter, ein Purpurgewand, eine Krone, eine Stirnbinde galten ihnen als geheiligte Dinge. Diese in Ehren gehaltenen Zeichen machten ihnen auch den Mann ehrwürdig, den sie damit geschmückt sahen. Ohne Soldaten, ohne Drohungen wurde ihm auf das Wort gehorcht. Gegenwärtig gefällt man sich darin, diese Zeichen abzuschaffen; Der römische Clerus hat dieselben klüglich beibehalten, und nach seinem Beispiele auch einige Republiken, unter anderen Venedig. Deshalb genießt die venetianische Regierung, trotz des Verfalls des Staates, unter dem Gepränge ihrer alten Majestät auch jetzt noch immer die ganze Liebe, die ganze Ehrerbietung des Volks, und nächst dem mit seiner Tiara geschmückten Papste gibt es vielleicht keinen König, keinen Monarchen, keinen Menschen in der Welt, dem man so viel Ehrerbietung erwiese, als dem Dogen von Venedig, welcher zwar keine Macht, kein Ansehen besitzt, dem aber sein Gepränge und der Schmuck einer Frauenfrisur unter seinem Herzogshute einen Schein der Heiligkeit verleiht. Die bekannte Feierlichkeit auf dem Bucentaur, die das Gelächter der Thoren erregt, würde doch die ganze Bevölkerung von Venedig dazu hinreißen, ihr Blut für die Aufrechterhaltung ihrer tyrannischen Regierung zu vergießen. was ist aber die Folge dieser Mißachtung? Daß die königliche Majestät in Aller Herzen mehr und mehr in Vergessenheit geräth, daß sich der den Königen schuldige Gehorsam nur noch durch Truppenmacht erzwingen läßt und daß die Ehrfurcht der Unterthanen nur in der Furcht vor der Strafe besteht. Die Könige sind zwar der Mühe überhoben, ihr Diadem zu tragen, und die Großen brauchen die Abzeichen ihrer Würde nicht mehr stets mit sich zu führen, aber sie müssen dafür beständig hunderttausend Arme zur Verfügung haben, um über die Ausführung ihrer Befehle zu wachen. Obgleich ihnen dies vielleicht angenehmer erscheint, so läßt sich doch leicht einsehen, daß auf die Länge dieser Tausch nicht zu ihrem Vortheile ausfallen kann.

Die Erfolge, welche die Alten durch die Beredtsamkeit erzielt haben, sind geradezu wunderbar. Diese Beredtsamkeit bestand indeß nicht allein in schönen und wohlgesetzten Worten; vielmehr konnte sie nie auf eine größere Wirkung rechnen, als wenn der Redner am wenigsten sprach. Was den lebhaftesten Eindruck hervorbrachte, drückte man nicht durch Worte, sondern durch Zeichen aus; man sagte es nicht, man zeigte es. Der Gegenstand, den man den Blicken darbietet, ergreift die Einbildungskraft, erregt die Neugier, versetzt den Geist in Spannung auf das, was man sagen will, und oft liegt in seinem Anblicke schon Alles ausgedrückt. Lag in der Handlungsweise des Thrasybulus und Tarquinius, als sie Mohnköpfe abschlugen, des Alexander, als er seinem Lieblinge sein Siegel auf den Mund drückte, des Diogenes, als er vor dem Zeno hin und her ging, nicht mehr ausgesprochen, als wenn sie lange Reden gehalten hätten? Wie wäre man wol bei aller Weitschweifigkeit im Stande gewesen, dieselben Ideen mit Worten eben so gut auszudrücken? Als Darius mit seinem Heere in Scythien eingedrungen ist, empfängt er vom Könige des Landes einen Vogel, einen Frosch, eine Maus und fünf Pfeile. Der Gesandte übergibt sein Geschenk und kehrt, ohne ein einziges Wort zu sagen, zurück. Heutigen Tages würde dieser Mann freilich für einen Narren gegolten haben, allein damals wurde diese furchtbare Sprache verstanden, und Darius hatte nichts Eiligeres zu thun, als so schnell er nur konnte, wieder in sein Land zurückzukehren. Ersetzet diese Zeichen durch einen Brief; je drohender er wäre, desto weniger würde er Furcht einzujagen vermögen; er hätte wie Prahlerei geklungen, die Darius nur verlacht hätte.

Wie viel Aufmerksamkeit wandten die Römer dieser Zeichensprache zu! Die nach Alter und Lebensstellung verschiedenartige Kleidung, die Toga, das Sagum, die Prätexta, die Bulla, das Laticlarium, die Sella curulis, die Lictoren, die Fasces, die Beile, die Kränze von Gold, Gräsern und Blättern, die Ovationen, die Triumphzüge: Alles war bei ihnen Pomp, Repräsentation, Ceremonie, und Alles machte auf die Herzen der Bürger Eindruck. Der Staat legte Gewicht darauf, ob sich das Volk lieber an diesem oder an jenem Orte versammelte, ob es seine Augen auf das Capitol richtete oder nicht, ob es sich dem Senate zuwandte oder von ihm abwandte, ob es für seine Berathungen diesem oder jenem Tage den Vorzug gab. Die Angeklagten wechselten ihre Kleidung, und dieselbe Sitte beobachteten diejenigen, welche sich um ein Amt bewarben; die Krieger rühmten sich nicht ihrer Heldenthaten, sondern zeigten ihre Wunden. Stelle ich mir vor, daß bei dem Tode Cäsars einer unserer Redner das Volk erregen wollte, wie verschwenderisch würde er mit allen Gemeinplätzen der Kunst um sich werfen, um eine recht rührende Schilderung von den Wunden, dem Blute und dem Leichname desselben zu entwerfen. Antonins sagt, so beredt er auch ist, von alledem kein Wort; er läßt den Leichnam herbeibringen. Was für eine Rhetorik!

Diese Abschweifung führt mich indeß unvermerkt von meinem Gegenstande ab. Wenn nun auch viele Andere denselben Fehler begehen, so kehren doch meine Abschweifungen allzu häufig wieder, als daß man sie bei ihrer Länge erträglich finden könnte. Ich komme also wieder zur Sache.

Laßt euch der Jugend gegenüber nie auf trockene Erörterungen ein. Wollt ihr die Vernunft derselben faßbar machen, so umkleidet sie auch mit einem faßbaren Körper. Laßt die Sprache des Geistes ihren Weg durch das Herz nehmen, damit sie verständlich werde. Noch einmal sei es gesagt: frostige Vernunftschlüsse sind wol im Stande unsere Ansichten, nicht aber unsere Handlungen zu bestimmen; sie sind die Quelle des Glaubens, aber nicht des Handelns. Man beweist, was man denken, aber nicht, was man thun muß. Wenn diese Wahrheit schon in Bezug auf alle Menschen gilt, mit wie viel mehr Grund gilt sie dann in Bezug auf junge Leute, die sich von den Banden der Sinnenwelt noch nicht frei gemacht haben und nur das zu denken vermögen, was sie sich sinnlich vorstellen können.

Selbst nach den Vorbereitungen, von denen ich bereits gesprochen habe, werde ich mich deshalb wol hüten, Emil plötzlich auf seinem Zimmer aufzusuchen und ihm über den Gegenstand, über welchen ich ihn belehren will, ungeschickterweise eine lange Rede zu halten. Ich werde zunächst seine Einbildungskraft anzuregen suchen und Ort, Zeit und Umstände so wählen, wie ich sie für den Eindruck, den ich hervorzurufen beabsichtige, am günstigsten halte. Ich werde gleichsam die ganze Natur zur Zeugin unserer Unterredung herbeirufen, werde das ewige Wesen, dessen Werk sie ist, zum Zeugen der Wahrheit meiner Rede anrufen und es als Richter zwischen Emil und mir aufstellen; werde auf den Platz, an dem wir weilen, auf die Felsen, Haine und Berge, die uns umgeben, als auf Denkmale seiner und meiner Versprechungen hinweisen; werde in meine Blicke, in meinen Ton, in meine Geberden die Begeisterung und das Feuer hineinlegen, mit welchen ich ihn zu erfüllen wünsche. Dann erst werde ich zu ihm sprechen, und er wird auf mich hören; Rührung wird sich meiner bemächtigen, und auch er wird sich bewegt fühlen. Dadurch, daß ich selbst von der Heiligkeit meiner Pflichten durchdrungen bin, werde ich ihm die seinigen um so achtbarer erscheinen lassen. Die Stärke der Beweisgründe werde ich durch Bilder und bildliche Ausdrücke beleben; ich werde mich nicht lang und weitschweifig in kalten Grundsätzen ergehen, sondern mein übervolles Herz wird von Gefühlen überströmen. Meine Vernunft wird mir ernste und sentenzenreiche Worte in den Mund legen, aber mein Herz wird nie genug gesagt haben. Wenn ich vor seiner Seele dann Alles vorüberziehen lasse, was ich für ihn gethan habe, werde ich es ihm so schildern, als ob ich es um meinetwillen gethan hätte. Er wird dann den Grund aller meiner Sorgfalt in meiner zärtlichen Zuneigung erblicken. Wie überrascht, wie bewegt wird er sich fühlen, wenn ich in dieser Weise plötzlich die Sprache ändere! Anstatt ihm die Seele niederzudrücken, indem ich beständig nur von seinem Interesse rede, werde ich von nun an nur von meinem eigenen reden und seine Rührung dadurch nur noch erhöhen. In seinem jungen Herzen werde ich alle jene Gefühle der Freundschaft, des Edelmuths und der Dankbarkeit, die ich schon vorher wachgerufen habe, und deren Pflege so süß ist, mehr und mehr anfachen. Unter Thränen der Rührung werde ich ihn in meine Arme schließen und zu ihm sagen: »Du bist mein Reichthum, mein Kind, bist mein Werk; von deinem Glücke erwarte ich das meine; wenn du meine Hoffnungen täuschest, raubst du mir zwanzig Jahre meines Lebens und machst mich noch in meinen alten Tagen unglücklich.« So muß man es anfangen, um sich bei einem jungen Manne Gehör zu verschaffen und ihm die Erinnerung an das, was man ihm sagt, tief in das Herz zu graben.

Bisher habe ich mich bemüht, an Beispielen nachzuweisen, wie ein Erzieher bei der Unterweisung seines Zöglings in schwierigen Fällen verfahren muß. Auch in Bezug auf den letztangeregten Fall habe ich versucht, ein solches Beispiel zu geben. Aber nach diesen vielfachen Versuchen stehe ich endlich davon ab, da ich mich nicht gegen die Ueberzeugung verschließen kann, daß die französische Sprache viel zu gekünstelt ist, um je in einem Buche die Naivetät der ersten Unterweisungen hinsichtlich gewisser Punkte ertragen zu können.

Die französische Sprache soll, wie behauptet wird, die keuscheste aller Sprachen sein; ich für meinen Theil halte sie indeß für die allerunzüchtigste, denn die Keuschheit einer Sprache besteht meinem Bedünken nach nicht sowol in dem Vermögen, unanständige Wendungen vermeiden zu können, als vielmehr in dem völligen Mangel an denselben. In der That muß man ja, um sie vermeiden zu können, an sie denken, und es gibt keine Sprache, in welcher es schwieriger wäre, rein zu sprechen, welchen Sinn man auch mit diesem Worte verbinden möge, als die französische. Da der Leser stets eine größere Geschicklichkeit besitzt, einen unkeuschen Sinn herauszufinden, als der Schriftsteller, ihn von seinen Werken fern zu halten, so nimmt derselbe an Allem Anstoß und Aergerniß. Wie sollte das, was durch unreine Ohren hindurchgeht, von ihrer Unreinigkeit nicht etwas annehmen? Ein Volk von guten Sitten hat dagegen für alle Dinge einen bezeichnenden Namen, und diese Bezeichnungen sind stets anständig, weil sie nie anders als in anständiger Weise angewendet werden. Es ist unmöglich, sich eine züchtigere Sprache als die der Bibel zu denken, eben deswegen, weil in derselben Alles mit völliger Unbefangenheit herausgesagt wird. Um die nämlichen Dinge unzüchtig erscheinen zu lassen, ist es ausreichend, sie in das Französische zu übersetzen. Was ich meinem Emil zu sagen habe, wird für sein Ohr nur keusch und ehrbar sein; damit es aber diesen Charakter beim Lesen nicht verliert, muß man ein eben so reines Herz haben wie er.

Ich bin sogar der Ansicht, daß solchen Betrachtungen über die wahre Reinheit der Rede und über die falsche Zartheit des Lasters eine nützliche Stelle in den moralischen Unterhaltungen, auf welche dieses Thema uns führt, eingeräumt werden könnte; denn indem mein Zögling die Sprache der Ehrbarkeit lernt, muß er auch die des äußeren Anstands lernen, und er muß notwendigerweise erfahren, weshalb diese beiden Sprachen in so hohem Grade von einander abweichen. Wie dem nun aber auch immer sein mag, so stelle ich doch die Behauptung auf: wenn man, anstatt der Jugend vor der Zeit immer und immer wieder leere Vorschriften zu predigen, über welche sich dieselbe in dem Alter, in welchem sie angebracht wären, doch nur lustig macht, den Augenblick, wo man sich verständlich machen kann, ruhig abwartet und vorbereitet; wenn man ihr alsdann die Gesetze der Natur in ihrer ganzen Wahrheit darlegt; wenn man ihr dadurch, daß man sie auf die physischen und moralischen Uebel aufmerksam macht, welche die Uebertretung dieser Gesetze nach sich zieht, die Richtigkeit derselben nachweist; wenn man, sobald man mit ihr von dem unbegreiflichen Geheimnisse der Zeugung spricht, mit der Idee des Reizes, den der Schöpfer der Natur an diesen Act geknüpft hat, noch die Idee einer ausschließlichen Zuneigung, die ihn gerade erst so entzückend macht, so wie die von den Pflichten der Treue und Schamhaftigkeit verbindet, welche ihn umhüllen und seinen Zauber durch die Befriedigung seines Gegenstandes verdoppeln; wenn man ihr die Ehe nicht nur als die süßeste aller Vereinigungen, sondern auch als den unverletzlichsten und heiligsten aller Verträge darstellt, und ihr mit größtem Nachdruck alle Gründe auseinandersetzt, aus welchen ein so heiliges Band allen Menschen ehrwürdig ist, und weshalb derjenige, welcher die Reinheit desselben zu beflecken wagt, vor aller Welt mit Haß und Fluch bedeckt dasteht; wenn man vor ihr ein treffendes und treues Gemälde von den Gräueln der Ausschweifung, von der stumpfsinnigen Verthierung, von der unmerklichen Steigerung des Triebes entrollt, in Folge dessen der erste Fehltritt zu immer neuen Ausschweifungen fortreißt und denjenigen, der sich ihnen hingibt, rettungslos ins Verderben stürzt; wenn man ihr, sage ich, den Nachweis liefert, daß sich nur mit einem keuschen Sinne Gesundheit, Kraft und Tugend paaren, ja daß sogar von ihm die Liebe und alle wahre Güter des Menschen abhängen: dann, behaupte ich, wird man ihr die Keuschheit wünschenswerth und theuer erscheinen lassen und ihren Geist für die Mittel, die man ihr zur Bewahrung derselben empfiehlt, empfänglich finden. Denn so lange man sie bewahrt, hält man sie auch in Ehren; man verachtet sie erst, nachdem man sie verloren hat.

Es ist durchaus nicht wahr, daß die Neigung zum Bösen unbezähmbar sei und daß man sie nicht zu überwinden vermöge, bevor es zur Gewohnheit geworden sei, ihr zu unterliegen. Aurelius Victor berichtet, daß mehrere Männer, von glühender Liebe zur Kleopatra erfüllt, gern eine mit derselben zugebrachte Nacht mit ihrem Leben erkauft hätten, Aur. Vict., de vir. ill. cap. 86. und im Rausche der Leidenschaft ist dies Opfer allerdings nicht unmöglich. Wir wollen aber einmal annehmen, ein Mann, der von leidenschaftlicher Liebe ergriffen wäre und seine Sinnlichkeit nicht mehr zu beherrschen vermöchte, sähe die Vorbereitungen zu seiner Hinrichtung und wäre sicher, eine Viertelstunde später sein Leben unter qualvollen Martern zu enden: so würde dieser Mensch nicht allein seine Versuchungen sofort besiegen, sondern es würde ihm sogar nur wenig Mühe kosten, ihnen zu widerstehen. Das entsetzliche Bild, das in ihrer Begleitung erschiene, würde ihn bald von denselben ablenken, und beständig zurückgewiesen, würden sie endlich gar nicht mehr in ihm auftauchen. Nur aus der Schlaffheit unseres Willens entsteht alle unsere Schwäche; um das zu thun, was man mit aller Kraft will, besitzt man stets die Kraft. Volenti nihil difficile! (Dem, der da will, ist nichts schwer.) Ach, wenn wir das Laster eben so verabscheuten, wie wir das Leben lieben, so würden wir auch vor einem lockenden Verbrechen eben so zurückschaudern wie vor einem tödtlichen Gifte in einem leckeren Gerichte.

Wie vermag man sich nur gegen die Einsicht zu verschließen, daß, wenn alle Belehrungen, die man einem Jünglinge über diesen Punkt ertheilt, dennoch erfolglos bleiben, die Ursache darin zu suchen ist, daß sie ihm auf seiner Altersstufe unverständlich sind, und daß es für jedes Lebensalter von Wichtigkeit ist, auch das an sich Vernünftige stets in solche Formen einzukleiden, die im Stande sind, für den Gegenstand Interesse zu erwecken? Redet mit Ernst zu ihm, wenn es sich nöthig macht; aber das, was ihr ihm sagt, muß jedesmal so fesselnd sein, daß er sich angetrieben fühlt, euch Gehör zu schenken. Bekämpfet seine Begierden nicht durch lieblose Schroffheit; erstickt seine Phantasie nicht, sondern leitet dieselbe vielmehr, aus Besorgniß, daß sie durch ihre traurigen Ausgeburten seine Sinnlichkeit noch mehr erhitzen könnte. Redet mit ihm von Liebe, von Frauen und Lustbarkeiten; tragt Sorge, daß er in euren Unterhaltungen einen Reiz findet, der sein junges Herz angenehm berührt. Unterlaßt nichts, was euch zu seinem Vertrauten machen kann; nur in dieser Stellung werdet ihr in Wahrheit Gewalt über ihn besitzen. Dann braucht ihr keine Furcht mehr zu hegen, daß ihm eure Unterhaltungen Langeweile bereiten werden. Er wird euch mehr Veranlassung zum Sprechen geben, als euch vielleicht angenehm ist.

Ich zweifle keinen Augenblick, daß Emil, wenn ich es verstanden habe, unter Befolgung dieser Grundsätze alle nöthige Vorsichtsmaßregeln zu treffen und ihm gegenüber eine Sprache zu führen, die die Umstände so wie sein Fortschreiten im Alter mit Recht erfordern, von selbst dahin gelangen wird, wohin ich ihn bringen möchte, daß er sich nämlich gern unter meine Obhut stellt, und, betroffen von den Gefahren, von welchen er sich umringt sieht, mit der ganzen Wärme seines Alters zu mir sagt: »O mein Freund, mein Beschützer, mein Lehrer, behalten Sie nach wie vor die Autorität, auf welche Sie gerade in dem Zeitpunkte verzichten wollen, wo es mein eigener Vortheil am meisten erheischt, daß dieselbe in Ihren Händen bleibe. Bisher besaßen Sie dieselbe nur in Folge meiner Schwäche, von nun an sollen Sie sie mit meinem eigenen Willen ausüben, und sie wird mir deshalb nur um so heiliger sein. Vertheidigen Sie mich gegen alle Feinde, die mich umlagern, hauptsächlich aber gegen diejenigen, die ich in mir trage und die mich verrathen. Wachen Sie über Ihr Werk, damit es Ihrer würdig bleibe. Ich will Ihren Gesetzen gehorchen, ich will es immer; es ist mein unerschütterlicher Wille. Sollte ich Ihnen je ungehorsam sein, so würde es unabsichtlich geschehen. Machen Sie mich frei, indem Sie mich gegen meine Leidenschaften schützen, deren ich mich nicht selbst erwehren kann. Halten Sie mich davon zurück, ihr Sklave zu werden, zwingen Sie mich, meiner selbst in so weit Herr zu sein, daß ich nicht meinen Sinnen, sondern meiner Vernunft gehorche.«

Habt ihr nun aber euren Zögling bis zu diesem Punkte gebracht (und die Schuld wird lediglich an euch liegen, wenn er nicht dahin gelangt), dann hütet euch ja, ihn allzu schnell beim Worte zu nehmen, denn ihr liefet sonst Gefahr, daß er sich, sobald ihm je eure Herrschaft doch gar zu streng erschiene, für berechtigt hielte, sich ihr zu entziehen, indem er euch beschuldigte, ihr hättet sein Versprechen erschlichen. In einem solchen Augenblicke ist Zurückhaltung und Würde am Platze, und dieser Ton wird ihm um so mehr Ehrerbietung abnöthigen, als es das erste Mal sein wird, daß er ihn euch annehmen sieht. Ihr müßt deshalb zu ihm sagen: »Junger Mann, du übernimmst mit großer Leichtfertigkeit schwere Verbindlichkeiten; ehe du das Recht hattest, sie freiwillig zu übernehmen, hättest du sie genau kennen lernen sollen. Du weißt nicht, mit welchem leidenschaftlichen Eifer die Sinne junge Leute deines Alters unter den Lockungen des Vergnügens in den Abgrund des Lasters reißen. Du hast, wie ich wol weiß, kein verworfenes Gemüth. Dein einmal gegebenes Wort wirst du nie brechen, aber wie oft wirst du vielleicht bedauern, es gegeben zu haben! Wie oft wirst du den verwünschen, der dich lieb hat, wenn er, um dich den Nebeln, die dich bedrohen, zu entreißen, sich gezwungen sehen wird, deinem Herzen wehe zu thun! Wie Ulysses, beim Gesange der Sirenen von glühender Leidenschaft ergriffen, seine Begleiter aufforderte, seine Fesseln zu lösen, so wirst auch du, durch den Reiz des Vergnügens verführt, die Bande zerreißen wollen, die dich beengen, wirst mich mit deinen Klagen verfolgen, wirst mir gerade dann Tyrannei vorwerfen, wenn ich am zärtlichsten mit dir beschäftigt sein werde. Während ich nur darauf sinne, dich glücklich zu machen, werde ich mir deinen Haß zuziehen. O mein Emil, ich werde den Schmerz, mich von dir gehaßt zu wissen, niemals ertragen; um diesen Preis ist mir selbst dein Glück zu theuer. Guter Jüngling, begreifst du nicht, daß du durch die übernommene Verpflichtung, mir Gehorsam zu leisten, auch mich gleichzeitig verpflichtest, dich zu führen, mich zu vergessen, um mich ganz dir widmen zu können, weder auf dein Klagen noch auf dein Murren zu hören und unaufhörlich gegen deine und meine Wünsche anzukämpfen? Du legst mir ein Joch auf, das härter als das deinige ist. Bevor wir uns Beide diese Last aufbürden, laß uns erst unsere Kräfte prüfen. Nimm dir Bedenkzeit und laß sie auch mir und wisse, daß, wer sich am längsten besinnt, ein Versprechen abzulegen, es auch stets am treuesten halten wird.«

Laßt es euch aber auch selbst gesagt sein: je bedenklicher ihr bei der Uebernahme einer Verpflichtung zu Werke geht, desto mehr erleichtert ihr deren Ausführung. Es ist von großer Bedeutung, daß der junge Mensch es selbst fühlt, wie viel er verspricht, und daß ihr trotzdem noch mehr versprecht. Ist aber der Augenblick einmal gekommen und hat er den Contract gleichsam unterzeichnet, dann führet eine andere Sprache und laßt durch eure Herrschaft so viel Milde hindurchleuchten, als ihr vorher Strenge angekündigt habt. Saget zu ihm: »Mein junger Freund, es mangelt dir zwar an Erfahrung, indeß habe ich dafür Sorge getragen, daß es dir nicht an Vernunft mangelt. Du bist im Stande überall klar einzusehen, welche Beweggründe mich bei meinem Verfahren geleitet haben. Hierzu ist nur nöthig, daß du wartest, bis du bei kaltem Blute bist. Zuerst gehorche mir jederzeit, ehe du von mir Auskunft über meine Anordnungen verlangst. Ich werde immer bereit sein, dir jeden Aufschluß zu geben, sobald du im Stande sein wirst, mich ruhig anzuhören, und ich werde nie Bedenken tragen, dich zum Richter zwischen dir und mir zu machen. Du versprichst, mir gehorsam zu sein, und ich meinerseits verspreche dir, diesen Gehorsam nur dazu zu benutzen, daß ich dein wahres Glück begründe. Als Bürgschaft meines Versprechens kann dir das glückliche Loos dienen, das dir bis jetzt zu Theil geworden ist. Findest du einen Altersgenossen, dessen Leben eben so glücklich verflossen ist wie das deinige, dann höre ich auf, dir etwas zu versprechen.«

Nachdem ich meine Autorität auf solche Weise fest begründet habe, wird es meine Hauptsorge sein, der Nothwendigkeit, sie in Anwendung zu bringen, vorzubeugen. Ich werde nichts unversucht lassen, um mich mehr und mehr in seinem Vertrauen zu befestigen, mich zum Vertrauten seines Herzens und zum Herrn seiner Vergnügungen zu machen. Weit davon entfernt, die Neigungen seines Alters zu bekämpfen, werde ich mir vielmehr aus ihnen selber die Mittel zu verschaffen suchen, die sie meiner Herrschaft unterwerfen können. Ich werde auf seine Ansichten eingehen, damit ich sie zu lenken im Stande bin und werde für ihn keineswegs auf Kosten seines gegenwärtigen Glückes einem entfernten nachjagen. Es ist nicht meine Absicht, daß er dereinst, sondern daß er wo möglich immer glücklich sei.


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