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Statt mich stolz zu machen, rührt mich diese Betrachtung vielmehr, denn diese Stellung ist nicht ein Act meiner freien Wahl und kann nicht dem Verdienste eines Wesens angerechnet werden, welches noch gar nicht existirte. Kann ich mich aber wol in solcher Weise ausgezeichnet sehen, ohne mir zugleich Glück zu wünschen, diese ehrenvolle Stelle einnehmen zu dürfen, und ohne die Hand zu segnen, welche sie mir angewiesen hat? Bei meiner ersten Einkehr in mich selbst erwacht in meinem Herzen ein Gefühl der Dankbarkeit und Segnung gegen den Schöpfer meines Geschlechts, und dieses Gefühl treibt mich zu meiner ersten Huldigung der wohlthätigen Gottheit. Ich bete die höchste Macht an und fühle mich von ihren Wohlthaten gerührt. Zu diesem Cultus bedarf ich keiner Anleitung, er ist mir von der Natur selbst eingegeben. Ist es nicht eine natürliche Folge der Liebe zu uns selbst, daß wir den ehren, der uns beschützt, und den lieben, der uns wohl will?

Wenn ich nun aber, um jetzt auch meine individuelle Stellung innerhalb meiner Gattung kennen zu lernen, unter den verschiedenen Rangstufen und den Menschen, welche dieselben einnehmen, Umschau halte, was wird dann aus mir? Welch ein Schauspiel! Wo ist die Ordnung, die ich vorher beobachtet hatte? Das Bild der Natur zeigte mir nur Harmonie und Ebenmaß, das des menschlichen Geschlechts stellt sich mir nur als Verwirrung und Unordnung dar! Unter den Elementen herrscht Einklang, und die Menschen leben im Chaos! Die Thiere sind glücklich, ihr König allein ist elend! O Weisheit, wo sind deine Gesetze? O Vorsehung, regierst du so die Welt? Gnadenvolles Wesen, was ist aus deiner Macht geworden? Auf Erden sehe ich Schmerz und Leiden.

Sollten Sie wol glauben, junger Freund, daß sich gerade aus diesen traurigen Betrachtungen und diesen scheinbaren Widersprüchen in meinem Geiste die erhabenen Vorstellungen von der Seele entwickelten, auf welche mich meine Untersuchungen bis dahin noch nicht geführt hatten? Indem ich über die menschliche Natur nachdachte, glaubte ich in ihr zwei völlig verschiedene Principien zu entdecken, deren eine ihn zur Erforschung der ewigen Wahrheiten, zur Liebe der Gerechtigkeit und des moralisch Schönen, bis zu den Regionen der intellectuellen Welt erhob, deren Betrachtung die Wonne des Weisen bildet, während das andere ihn sich nicht über sein eigenes Ich erheben ließ, ihn der Herrschaft der Sinne und ihrer Dienerinnen, der Leidenschaften, unterwarf und durch sie alle dem hinderlich entgegentrat, was ihm das Gefühl des ersteren einflößte. Als ich mich von diesen beiden entgegengesetzten Antrieben fortgerissen fühlte und den steten Kampf in meinem Herzen wahrnahm, sagte ich zu mir selbst: Nein, der Mensch ist keine Einheit; ich will und will auch nicht, ich fühle mich zugleich frei und unfrei, ich erkenne und liebe das Gute und thue trotzdem das Böse; ich zeige mich thätig, wenn ich auf die Vernunft höre, aber passiv, wenn ich mich von meinen Leidenschaften fortreißen lasse, und unterliege ich, so besteht meine größte Qual in dem Gefühle, daß ich hätte Widerstand leisten können.

Hören Sie mich mit Vertrauen an, junger Mann, ich werde stets aufrichtig sein. Wenn das Gewissen das Resultat der Vorurtheile ist, so habe ich unzweifelhaft Unrecht, und es gibt keine nachweisbare Moral. Wenn es nun aber ein dem Menschen natürlicher Hang ist, sich Allem vorzuziehen, und wenn dessenungeachtet dem menschlichen Herzen ein ursprüngliches Gerechtigkeitsgefühl angeboren ist, dann überlasse ich demjenigen, welcher den Menschen zu einem einfachen Wesen macht, die Lösung dieser Widersprüche und dann will auch ich zugeben, daß er nur aus einer einzigen Substanz bestehe.

Sie werden bemerken, daß ich mit dem Worte Substanz im Allgemeinen ein Wesen bezeichne, welches mit irgend einer ursprünglichen Eigenschaft ausgestattet ist, wobei ich von allen besonderen oder secundären Modificationen absehe. Lassen sich nun alle ursprünglichen Eigenschaften, die uns bekannt sind, in einem und demselben Wesen vereinigen, so darf man auch nur eine Substanz annehmen. Kommen jedoch solche vor, die sich gegenseitig ausschließen, so muß es auch eben so viele verschiedene Substanzen geben, als man dergleichen Ausschließungen vornehmen kann. Sie werden darüber nachdenken; ich aber brauche, was Locke auch immer darüber sagen möge, nur die Ausdehnung und Theilbarkeit der Materie zu kennen, um dessen sicher zu sein, daß sie nicht denken kann; und wenn ein Philosoph auf den Einfall käme, mir gegenüber zu behaupten, daß die Bäume fühlten und die Felsen dächten, Es kommt mir so vor, als habe die neuere Philosophie, weit davon entfernt zu behaupten, daß die Felsen denken, im Gegentheile die Entdeckung gemacht, daß die Menschen nicht denken. Sie erkennt nur noch empfindende Wesen in der Natur, und der ganze Unterschied, den sie zwischen einem Menschen und einem Steine aufzufinden vermag, besteht darin, daß der Mensch ein empfindendes Wesen mit Bewußtsein, der Stein dagegen ein empfindendes Wesen ohne Bewußtsein ist. Wenn es nun aber eine Wahrheit ist, daß die ganze Materie empfindet, wo werde ich dann die empfindende Einheit oder das individuelle Ich zu suchen haben? Wird es sich in jedem Molecül der Materie oder in den zusammengesetzten Körpern vorfinden? Muß ich dieser Einheit eben so in den flüssigen wie in festen, in zusammengesetzten wie in einfachen Körpern eine Stelle einräumen? Es gibt, wie man sagt, in der Natur nur Individuen. Aber welches sind diese Individuen? Ist dieser Stein ein Individuum oder ein Aggregat von Individuen? Ist er ein einziges empfindendes Wesen, oder ist jedes Sandkörnchen, welches er enthält, ein solches? Ist jedes elementare Atom ein empfindendes Wesen, wie soll ich dann die innige Verbindung verstehen, in welcher sich das Eine in dem Andern dergestalt empfindet, daß ihre beiden Ich in ein einziges zusammenfließen? Die Anziehungskraft mag ein Naturgesetz sein, dessen Geheimniß wir noch nicht durchschaut haben; aber wir begreifen wenigstens, daß in ihr, da sie nach Verhältniß der Massen wirkt, nichts liegt, was mit der Ausdehnung und Theilbarkeit im Widerspruch stände. Läßt es sich aber wol denken, daß dasselbe Verhältniß bei der Empfindung stattfindet? Die empfindenden Theile besitzen eine Ausdehnung, während das empfindende Wesen eine untheilbare Einheit bildet. Es ist untrennbar, es ist entweder ein Ganzes oder nichts. Das empfindende Wesen ist folglich kein Körper. Ich weiß nicht, was unsere Materialisten dazu sagen, mir aber kommt es so vor, als ob dieselben Schwierigkeiten, die sie bewogen haben, das Denken zu verwerfen, sie dazu bewegen müßten, das Empfinden ebenfalls abzuläugnen. Ich sehe nicht ein, weshalb sie nicht, nachdem sie einmal den ersten Schritt gethan haben, nun auch den zweiten thun sollten. Weshalb sollte er ihnen sauer werden? Da sie sich völlig überzeugt halten, daß sie nicht denken, wie dürfen sie zu behaupten wagen, daß sie empfinden? so könnte ich in ihm, wenn es ihm auch gelänge, mich mit seinen spitzfindigen Schlußfolgerungen in Verlegenheit zu setzen, doch nur einen Sophisten erblicken, der keinen Glauben verdient, und den Steinen lieber Empfindung zuschreiben, als dem Menschen eine Seele zugestehen möchte.

Stellen wir uns einen Tauben vor, welcher läugnet, daß es Töne gibt, weil sie sein Ohr noch nie hat erklingen hören. Ich zeige ihm ein Saiteninstrument, dem ich durch Anschlagen eines anderen, verborgen gehaltenen und gleich gestimmten Instruments Töne entlocke. Der Taube gewahrt die schwingenden Bewegungen der Saite und ich sage zu ihm: »Der Ton bringt diese Wirkung hervor.« »Keineswegs,« erwidert er, »die Ursache der schwingenden Bewegungen der Saite liegt in ihr selbst. Es ist eine allen Körpern gemeinsame Eigenschaft, in solche Schwingungen zu gerathen.« »Zeige mir dann auch,« entgegne ich, »dieses Schwingen in den andern Körpern oder wenigstens die Ursache desselben in dieser Saite.« »Das,« erwidert der Taube, »bin ich freilich nicht im Stande; weshalb soll ich aber, weil ich nicht zu begreifen vermag, wie diese Saite in Schwingungen geräth, es mir gerade durch eure Töne erklären, von denen ich nicht den geringsten Begriff habe? Das hieße ja, eine dunkle Thatsache durch eine noch dunklere Ursache erklären wollen. Sorgt entweder dafür, daß ich eure Töne vernehmen kann, oder ich behaupte, daß es gar keine gibt.«

Je mehr ich über das Denken und die Natur des menschlichen Geistes nachdenke, desto mehr überzeuge ich mich davon, daß die Schlußfolgerungen der Materialisten denen dieses Tauben gleichen. Sie sind wahrlich taub gegen die innere Stimme, welche ihnen in einem Tone, er sich nur schwer mißverstehen läßt, zuruft: Eine Maschine denkt nicht; Ueberlegung kann weder durch Bewegung noch durch eine Gestalt hervorgebracht werden. Es lebt in dir ein Etwas, welches die Bande, die es zurückhalten, zu zerreißen sucht. Dein Maßstab kann der Raum nicht sein, das ganze Weltall ist nicht groß genug für dich. Deine Empfindungen, deine Wünsche, deine Unruhe, dein Stolz sogar haben einen anderen Urgrund als dieser beschränkte Körper, an welchen du dich gefesselt fühlst.

Kein materielles Wesen ist durch sich selbst thätig, ich aber bin es. Vergeblich wird man mir dies zu bestreiten suchen, ich fühle es, und dies Gefühl, welches zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, welche es bekämpft. Ich besitze einen Körper, auf welchen die andern eben so einwirken, wie er auf sie. Diese wechselseitige Einwirkung auf einander ist unzweifelhaft; aber mein Wille ist von meinen Sinnen unabhängig; ich stimme bei oder widerstehe, ich unterliege oder bleibe Sieger, immer sagt mir eine innere Stimme, ob ich gethan habe, was ich habe thun wollen, oder ob ich nur meinen Leidenschaften nachgegeben habe. Zwar habe ich stets die Macht zu wollen, aber nicht immer die Macht zur Ausführung des Gewollten. Wenn ich mich den Versuchungen ergebe, so lasse ich mich bei meinem Handeln durch den Antrieb äußerer Objecte bestimmen. Wenn ich mir dagegen wegen meiner Schwäche Vorwürfe mache, so schenke ich nur meinem Willen Gehör. Ich bin durch meine Laster Sklave und frei durch meine Gewissensbisse. Das Gefühl meiner Freiheit verliert sich in mir nur dann, wenn ich sittlich so tief sinke, daß ich die Stimme der Seele verhindere, sich gegen das Gesetz des Körpers zu erheben.

Ich kenne den Willen nur, in so weit ich mir des meinigen bewußt werde, und der Verstand ist mir nicht besser bekannt. Wenn man mich nach der Ursache fragt, welche meinen Willen bestimmt, so frage ich meinerseits nach der Ursache, welche mein Urtheil bestimmt; denn es ist klar, daß diese beiden Ursachen eigentlich nur eine einzige ausmachen; und wenn man genau begreift, daß der Mensch beim Fällen seiner Urtheile eine Tätigkeit ausübt, daß sein Verstand in nichts Anderem als in der Fähigkeit zu vergleichen und zu urtheilen besteht, dann wird man auch begreiflich finden, daß seine Freiheit nur eine ähnliche oder von jener abgeleitete Fähigkeit ist. Erwählt das Gute nach dem, was seinem Urtheile zufolge das Wahre ist; hat er ein falsches Urtheil gefällt, so wird auch seine Wahl schlecht sein. Welches ist also die Ursache, die seinen Willen bestimmt? Es ist sein Urtheil. Und welches ist nun wieder die Ursache, die sein Urtheil bestimmt? Es ist seine geistige Fähigkeit, sein Vermögen zu urtheilen. Die bestimmende Ursache liegt in ihm selbst. Hier ist die Grenze, über welche hinaus ich nichts mehr verstehe.

Ohne Zweifel reicht meine Freiheit nicht so weit, mein eigenes Wohl nicht zu wollen; ich habe nicht die Freiheit, mein Unglück zu wollen. Meine Freiheit besteht eben darin, daß ich nur das zu wollen im Stande bin, was mir heilsam ist, oder was ich wenigstens dafür halte, ohne daß etwas mir Fremdes mich bestimmt. Folgt schon aus dem Umstände, daß es nicht in meiner Gewalt steht, ein Anderer zu sein, als ich bin, daß ich nun auch nicht mein eigener Herr bin?

Die Quelle einer jeden Handlung liegt in dem Willen eines freien Wesens; einen noch tiefer liegenden Grund vermögen wir nicht nachzuweisen. Nicht das Wort Freiheit ist nichtssagend, sondern das Wort Nothwendigkeit. Irgend eine Handlung, irgend eine Wirkung annehmen, die nicht von einem thätigen Princip ausgeht, heißt doch fürwahr Wirkungen ohne Ursachen annehmen, heißt in einen Kreis unrichtiger Schlüsse verfallen. Entweder gibt es überhaupt keinen ersten Anstoß, oder jeder erste Anstoß entbehrt einer andern vorhergehenden Ursache, und es gibt dann keinen wahren Willen ohne Freiheit. Der Mensch ist demnach in seinen Handlungen frei und als solch freies Wesen von einer immateriellen Substanz beseelt. So lautet mein dritter Glaubensartikel. Aus diesen drei ersten werden Sie sich leicht alle übrige herleiten können, ohne daß ich sie noch weiter aufzuzählen brauche.

Ist der Mensch nun selbstthätig und frei, so handelt er auch aus eigenem Antriebe. Alle seine freien Handlungen sind von dem von der Vorsehung geordneten Systeme unabhängig und können ihr nicht angerechnet werden. Sie will das Böse nicht, das der Mensch thut, indem er die Freiheit, die sie ihm gewährt, mißbraucht. Aber sie hält ihn nicht von der Ausführung desselben zurück, sei es nun, daß das Uebel, welches von einem so schwachen Geschöpfe ausgeht, in ihren Augen völlig bedeutungslos ist, sei es, weil sie ihn nicht daran behindern kann, ohne daß zugleich seine Freiheit darunter leidet und durch Herabwürdigung seiner Natur ein noch größeres Uebel hervorgerufen wird. Sie hat ihn frei geschaffen, damit er sich aus eigener Wahl nicht für das Böse, sondern für das Gute entscheide. Sie hat ihn auch in den Stand gesetzt, diese Wahl unter richtiger Benutzung der ihm von ihr verliehenen Gaben zu treffen. Aber sie hat seine Kräfte in dem Grade beschränkt, daß der Mißbrauch der Freiheit, die sie ihm gestattet, die allgemeine Ordnung nicht zu stören vermag. Das Böse, was der Mensch thut, fällt auf ihn allein zurück, ohne daß dadurch die geringste Aenderung im Weltsysteme einträte, ohne zu verhindern, daß sich das Menschengeschlecht, selbst wider seinen Willen, noch immer erhalte. Darüber murren, daß Gott der Ausübung des Bösen nicht hindernd entgegentritt, heißt darüber murren, daß er dem Menschengeschlechte so hohe Gaben verliehen hat, daß er mit den Handlungen der Menschen eine Moralität verbunden hat, die sie veredelt, daß er ihnen ein Anrecht auf die Tugend verlieh. Der höchste Genuß liegt in der Zufriedenheit mit sich selbst. Gerade um uns diese Zufriedenheit zu verdienen, wird uns diese Erde angewiesen, werden wir mit Freiheit begabt, von unsern Leidenschaften versucht, von unserm Gewissen zurückgehalten. Was konnte selbst die göttliche Allmacht wol mehr zu unserm Besten thun? Konnte sie Widerspruch in unsere Natur legen und dem, der unfähig war, Böses zu thun, noch eine besondere Belohnung dafür gewähren, daß er Gutes gethan hat? Wie, um den Menschen an der Ausübung des Bösen zu behindern, hätte sie ihn auf den Instinct beschränken und auf den Standpunkt eines Thieres herabdrücken sollen? Nein, Gott meiner Seele, nie werde ich mich unterfangen, dich zu tadeln, daß du mich nach deinem Bilde geschaffen hast, damit ich frei, gut und glücklich sein könne wie du.

Nur der Mißbrauch unserer Anlagen macht uns unglücklich und böse. An unserm Kummer, unseren Sorgen, unseren Leiden sind wir selbst Schuld. Das moralische Uebel ist unstreitig unser eigenes Werk, und das physische Uebel würde ohne unsere Fehler, die es uns erst fühlbar gemacht haben, nichts sein. Läßt uns die Natur nicht um unserer Erhaltung willen unsere Bedürfnisse empfinden? Gibt uns der körperliche Schmerz nicht ein Zeichen, daß in der Maschine etwas in Unordnung gerathen ist, und eine Mahnung, derselben schleunigst abzuhelfen? Und nun der Tod?... Vergiften die Bösen nicht ihr und unser Leben? Wer möchte wol immer zu leben wünschen? Der Tod ist das Mittel gegen die Uebel, welche wir uns selbst zufügen. Die Natur hat gewollt, daß wir nicht ewig leiden sollen. Wie wenigen Uebeln ist doch der Mensch unterworfen, der in seiner ursprünglichen Einfachheit fortlebt! Fast ohne Krankheiten wie auch ohne Leidenschaften verbringt er seine Tage; den Tod sieht er weder voraus noch fühlt er ihn; sollte er ihn jedoch fühlen, so machen ihm seine Leiden denselben auch wünschenswerth, und sofort hört er dann auf, ein Uebel für ihn zu sein. Begnügten wir uns damit, das zu sein, was wir einmal sind, so würden wir unser Schicksal nicht zu beklagen haben, aber dadurch, daß wir einem eingebildeten Glücke nachjagen, öffnen wir tausenderlei wirklichen Uebeln den Weg zu uns. Wer nicht ein kleines Leid zu ertragen versteht, muß sich darauf gefaßt machen, viele über sich ergehen zu lassen. Wenn man seine Gesundheit durch einen zügellosen Lebenswandel untergraben hat, so bemüht man sich, sie durch Arzneimittel wieder herzustellen, und fügt auf diese Weise zu dem Uebel, welches man fühlt, noch dasjenige hinzu, welches man fürchtet. Die Voraussicht des Todes vermehrt seine Schrecken und beschleunigt seine Annäherung. Je mehr man sich bemüht, ihm zu entfliehen, desto mehr fühlt man seine Nähe, und in Folge der Angst verwandelt sich das ganze Leben in ein langsames Dahinsterben, indem man gegen die Natur um der Uebel willen murrt, die man sich doch nur durch eigene Schuld zugezogen hat, als man die Gesetze derselben verletzte.

Mensch, forsche nicht länger nach dem Urheber des Uebels. Du selbst bist dieser Urheber. Es ist kein anderes Uebel vorhanden als dasjenige, welches du begehst oder leidest, und beides geht von dir selber aus. Das allgemeine Uebel könnte nur in der Unordnung bestehen, und ich erblicke in dem Weltsysteme eine Ordnung, die sich stets gleich bleibt. Das besondere Leiden macht sich nur in der Empfindung des leidenden Wesens fühlbar, und diese Empfindung hat der Mensch nicht von der Natur erhalten, sondern selbst in sich erweckt. Wer wenig Betrachtungen angestellt hat und deshalb auch weder Erinnerung noch Voraussicht besitzt, wird dem Schmerze nur in geringem Grade ausgesetzt sein. Beseitigt unsere unglückseligen Fortschritte, beseitigt unsere Irrthümer und Laster, beseitigt das Menschenwerk, und Alles ist gut.

Wo Alles gut ist, gibt es nichts Ungerechtes. Gerechtigkeit ist von der Güte untrennbar; die Güte ist die nothwendige Wirkung einer grenzenlosen Macht und der Selbstliebe, die als eine wesentliche Eigenschaft eines jeden sich fühlenden Wesens betrachtet werden muß. Derjenige, welcher Alles kann, gibt seinem Dasein gleichsam vermittelst dem aller anderer Wesen eine größere Ausdehnung. Im Hervorbringen und Erhalten äußert sich deshalb die unaufhörliche Thätigkeit der Macht. Gott ist nicht ein Gott der Todten; er würde nicht im Stande sein zu zerstören und Uebles zuzufügen, ohne sich selbst zu schaden. Wem alle Macht zu Gebote steht, der kann nur wollen, was gut ist. Wenn die Alten den höchsten ihrer Götter optimus maximus nannten, so drückten sie sich vollkommen richtig aus; wenn sie aber maximus optimus gesagt hätten, so wäre der Ausdruck noch glücklicher gewesen; da seine Güte seiner Macht entspringt, so ist er gütig, weil er groß ist. Deshalb muß auch das allgütige Wesen, weil es allmächtig ist, zugleich auch das allergerechteste sein; sonst würde es mit sich selbst in Widerspruch treten, denn der Act der Liebe zur Ordnung, welcher die Ordnung erzeugt, wird Güte, jener dagegen, welcher die Ordnung erhält, Gerechtigkeit genannt.

Gott, sagt man, ist seinen Geschöpfen nichts schuldig. Ich hingegen glaube, daß er ihnen Alles schuldig ist, was er ihnen dadurch versprach, daß er sie ins Dasein rief. In der Vorstellung eines Gutes, die er ihnen gab und in dem Bedürfnisse nach demselben, das er sie empfinden ließ, liegt das Versprechen eingeschlossen, ihnen dies Gut zu gewähren. Je mehr ich in mich einkehre, je mehr ich überlege, desto klarer lese ich in meiner Seele die Worte geschrieben: »Sei gerecht, und du wirst glücklich sein.« Trotzdem hat sich dies bei dem gegenwärtigen Zustande der Dinge noch nicht erfüllt; dem Bösen geht es wohl, und der Gerechte bleibt unterdrückt. Man lasse aber auch nicht außer Acht, wie empört wir uns fühlen, wenn sich diese Erwartung getäuscht sieht. Das Gewissen erhebt sich und murrt gegen seinen Schöpfer, seufzend ruft es ihm zu: »Du hast mich getäuscht.«

Vermessener, ich habe dich getäuscht! Wer hat dir das gesagt? Ist deine Seele vernichtet? Hast du aufgehört zu sein? O Brutus, o mein Sohn! Schände dein edles Leben nicht, indem du ihm freiwillig ein Ende machst! Laß nicht mit deinem Körper zugleich deine Hoffnung und deinen Ruhm auf den Feldern von Philippi zurück! Weshalb sagst du: »Die Tugend ist nichts,« während du schon im Begriffe stehst, den Lohn für die deinige zu empfangen? Du werdest sterben, denkst du? Nein, nun erst beginnt dein wahres Leben, und ich werde Alles halten, was ich dir versprochen habe.

Dem Murren der ungeduldigen Sterblichen nach sollte man glauben, Gott sei ihnen den Lohn schuldig, ehe sie ihn verdient haben, und er habe die Verpflichtung, ihnen ihre Tugend im Voraus zu zahlen. O, laßt uns nur erst gut sein, dann werden wir auch glücklich sein! Laßt uns den Preis nicht vor dem Siege, noch den Lohn vor der Arbeit fordern! »Nicht in den Schranken,« sagt Plutarch, »werden die Sieger in unseren heiligen Spielen gekrönt, sondern erst nachdem sie die Rennbahn durchlaufen haben.«

Wenn die Seele immateriell ist, so vermag sie auch den Körper zu überleben; und wenn sie ihn überlebt, so steht die Vorsehung gerechtfertigt da. Hätte ich auch keinen andern Beweis für die Immaterialität der Seele als den Triumph des Bösen und die Unterdrückung des Gerechten in dieser Welt, so würde mich schon dies allein von jedem Zweifel zurückhalten. Eine so schreiende Dissonanz in der allgemeinen Harmonie würde mich antreiben, ihre Lösung zu suchen. Ich würde mir sagen: Mit dem Leben endet nicht Alles für uns, Alles kehrt mit dem Tode in die ursprüngliche Ordnung zurück. Die Frage: Wo ist der Mensch, wenn alles Sinnliche an ihm zerstört ist? würde mich freilich in einige Verlegenheit setzen. Doch auch diese Frage verliert alle Schwierigkeit für mich, sobald ich zwei Substanzen angenommen habe. Da ich während meines leiblichen Lebens nur durch meine Sinne wahrzunehmen vermag, so ist es sehr einleuchtend, daß mir das, was ihnen nicht unterworfen ist, entgehen muß. Es läßt sich nun ganz wohl begreifen, daß sich nach Aufhebung der Vereinigung des Körpers und der Seele ersterer sich auflösen und letztere fortbestehen kann. Weshalb sollte auch die Vernichtung des Körpers die Vernichtung der Seele nach sich ziehen? Im Gegentheile befanden sie sich bei der großen Verschiedenheit ihrer Natur in Folge ihrer Vereinigung in einem gewaltsamen Zustande und kehren nun beide, sobald diese aufhört, in ihren natürlichen Zustand zurück. Die thätige und lebende Substanz gewinnt alle Kraft wieder, die sie aufwandte, um die passive und todte Substanz in Bewegung zu setzen. Ach, meine Fehler machen es mir nur allzu fühlbar, daß der Mensch während seines Lebens eigentlich nur halb lebt, und das Leben der Seele erst mit dem Tode des Körpers beginnt.

Was für ein Leben ist dies nun aber? Und ist die Seele ihrer Natur nach unsterblich? Ich weiß es nicht. Mein begrenzter Verstand begreift nichts Schrankenloses. Alles, was man unendlich nennt, ist mir unbegreiflich. Was kann ich wol verneinen oder bejahen? Vermag ich ein Urtheil über Ideen zu fällen, die mir ganz fremd sind? Ich glaube, daß die Seele den Körper so lange überlebt, als es die Aufrechterhaltung der Ordnung erheischt; wer weiß, ob dies ihre ewige Fortdauer bedingt? So viel erkenne ich, daß sich der Körper in Folge der Trennung von der Seele zerstört und auflöst, aber ich vermag mir nicht eine ähnliche Zerstörung des denkenden Wesens vorzustellen, und da ich nicht im Stande bin, mir zu denken, wie es sterben kann, so nehme ich an, daß es nicht stirbt. Da mir diese Annahme Trost gewährt und nichts Unvernünftiges hat, weshalb sollte ich Anstand nehmen, mich derselben hinzugeben?

Ich bin mir meiner Seele bewußt, ich erkenne sie durch die Empfindung und das Denken; ich weiß, daß sie ist, wenn ich auch nicht weiß, worin ihr Wesen besteht. Ueber Ideen, die ich nicht habe, kann ich nicht aburtheilen. Nur so viel weiß ich mit Gewißheit, daß sich das Bewußtsein (die Identität) des Ich nur durch das Gedächtniß verlängert, und daß ich, um in Wirklichkeit ein und derselbe zu sein, mich erinnern muß, daß ich schon vorher gewesen bin. Nun würde ich mich aber nach meinem Tode nicht dessen erinnern können, was ich während meines Lebens gewesen bin, wenn ich mich nicht zugleich auch dessen erinnerte, was ich gefühlt, und folglich auch dessen, was ich gethan habe. Ich hege nicht den geringsten Zweifel, daß gerade in dieser Erinnerung dereinst das Glück der Guten und die Qual der Bösen bestehen wird. Hienieden beschäftigen tausend glühende Leidenschaften das innere Gefühl und schläfern das Gewissen ein. Die Demütigungen und Widerwärtigkeiten, welche die Ausübung der Tugend in ihrem Gefolge hat, verhindern uns, alle Reize derselben zu empfinden. Wenn wir aber, von den Täuschungen befreit, die der Körper und die Sinne in uns hervorrufen, das höchste Wesen schauen und die ewigen Wahrheiten, deren Urquell es ist, erkennen werden, wenn die Schönheit der Weltordnung alle unsere Seelenkräfte erheben wird, und wenn wir ausschließlich damit beschäftigt sein werden, das, was wir gethan haben, mit dem zu vergleichen, was wir hätten thun sollen: dann wird die Stimme des Gewissens ihre Kraft und Herrschaft wieder erlangen, dann wird sich in der reinen Freude, die aus der Zufriedenheit mit sich selbst entsteht, und in der bittern Reue darüber, so tief gesunken zu sein, durch unerschöpfliche Empfindungen deutlich das Schicksal zu erkennen geben, welches sich ein Jeder bereitet hat. Fragen Sie mich nicht, mein geliebter Freund, ob es auch noch andere Quellen des Glücks und der Qual gibt; ich weiß es nicht. Allein schon diejenige, welche ich mir vorstelle, reicht hin, um mir in diesem Leben Trost zu geben und mich ein anderes hoffen zu lassen. Ich behaupte durchaus nicht, daß die Guten werden belohnt werden, denn welch anderes Gut kann wol ein so reich begabtes Wesen erwarten, als seiner Natur gemäß fortzuleben? Indeß behaupte ich, daß sie glücklich sein werden, weil ihr Schöpfer, der Ausfluß aller Gerechtigkeit, der ihnen Empfindung gegeben, sie nicht zum Leiden geschaffen hat, und weil sie außerdem, da sie mit ihrer Freiheit auf Erden keinen Mißbrauch getrieben haben, ihre Bestimmung nicht durch eigene Schuld verscherzt haben. Sie haben jedoch in diesem Leben gelitten und werden nun dafür in einem andern entschädigt werden. Diese Ansicht gründet sich weniger auf das menschliche Verdienst, als vielmehr auf die Vorstellung der Güte, die mir vom göttlichen Wesen untrennbar zu sein scheint. Ich setze dabei nur voraus, daß die Gesetze der Weltordnung beobachtet werden und Gott unveränderlich ist. Nicht uns, Herr, nicht uns, sondern deinem Namen gib Ehre, um deine Gnade und Wahrheit. Psalm 115, V. 1.

Fragen Sie mich auch nicht, ob die Qualen der Bösen ewig dauern werden, und ob es ein Beweis der Güte ihres Schöpfers ist, sie zu ewigen Qualen zu verdammen. Auch dieses ist mir unbekannt, und ich bin von der eitlen Neugier frei, über solche nutzlose Fragen Licht zu verbreiten. Was geht mich das Loos der Bösen an? Ich nehme wenig Antheil an ihrem Schicksale. Dessenungeachtet kann ich mich nicht mit dem Gedanken befreunden, daß sie zu endlosen Qualen verdammt sein sollten. Wenn die höchste Gerechtigkeit Rache ausübt, so nimmt sie schon in diesem Leben ihren Anfang. Ihr selbst, ihr Völker, seid mit euren Irrthümern ihre Vollstrecker. Die Uebel, die ihr euch zufügt, bilden die Strafe für die Verbrechen, durch welche jene hervorgerufen sind. In euren unersättlichen, von Neid, Habsucht und Ehrgeiz verzehrten Herzen strafen die vergeltenden Leidenschaften eure Frevel inmitten eures scheinbaren Glücks. Weshalb sollen wir die Hölle erst in einem andern Leben suchen? Schon in diesem Leben ist sie im Herzen der Bösen zu finden.

Wo unsere vergänglichen Bedürfnisse endigen, wo unsere unsinnigen Lüste aufhören, müssen auch unsere Leidenschaften schweigen und unsere Verbrechen ein Ende nehmen. Welcher Verderbtheit könnten Geister, die ihres Körpers entkleidet sind, noch fähig sein? Weshalb sollten sie böse sein, da sie keine Bedürfnisse mehr fühlen? Wenn sie, von unserer groben Sinnlichkeit befreit, all ihr Glück einzig und allein im Anschauen der Wesen finden, so sind sie nur im Stande das Gute zu wollen, und ist es wol möglich, daß derjenige, welcher nicht mehr in das Böse willigt, für immer elend sein sollte? Diese Ansicht sagt mir am meisten zu, ohne daß ich mir jedoch die Mühe nehme, ein endgiltiges Urtheil darüber abgeben zu wollen. O gnädiges und gütiges Wesen! Was auch immer deine Ratschlüsse sein mögen, ich verehre sie. Wenn du die Bösen ewig strafst, so erkennt meine schwache Vernunft in Demuth deine Gerechtigkeit an. Wenn jedoch die Gewissensbisse dieser Unglücklichen im Laufe der Zeit schwächer werden, und ihre Leiden ein Ende nehmen sollten, wenn uns dereinst Alle ohne Unterschied der gleiche Friede erwartete, so will ich dich dafür preisen. Muß ich nicht auch im Bösen meinen Bruder erblicken? Wie oft hat nur wenig daran gefehlt, daß ich ihm ähnlich wurde! Möchte er, vom Elend befreit, auch die Bosheit verlieren, diese Begleiterin des Elends! Möchte er eben so glücklich werden, wie ich bin; weit davon entfernt, daß sein Glück meine Eifersucht erregte, würde es vielmehr das meinige nur erhöhen.

Nachdem ich Gott auf diese Weise in seinen Werken betrachtet und an ihnen diejenigen seiner Eigenschaften studirt habe, deren Kenntniß für mich von Wichtigkeit war, ist es mir gelungen, die Anfangs unvollkommene und beschränkte Idee, welche ich mir von diesem unendlichen Wesen gebildet hatte, stufenweise zu erweitern und zu vervollkommnen. Wenn diese Idee nun auch edler und erhabener geworden ist, so hat sie dafür aber der menschlichen Vernunft gegenüber viel von ihrer Verständlichkeit eingebüßt. Je mehr ich mich im Geiste dem ewigen Lichte nähere, desto mehr blendet und verwirrt mich sein Glanz, und ich sehe mich genöthigt, alle irdische Begriffe fahren zu lassen, die es mir bisher erst möglich gemacht hatten, mir eine Vorstellung von ihm zu bilden. Nun verliert Gott für mich alles Körperliche und Sinnliche; die höchste Vernunft, welche die Welt regiert, ist nicht mehr die Welt selbst; vergeblich erhebe ich bis zur Ermattung meinen Geist zu ihr, um ihr unfaßbares Wesen zu erfassen. Wenn ich erwäge, daß sie es ist, die der lebenden und thätigen Substanz, welche die beseelten Körper regiert, erst Leben und Thätigkeit verleiht, und wenn ich dann behaupten höre, daß meine Seele geistiger Natur und Gott ebenfalls ein Geist sei, so erfüllt mich diese Herabwürdigung des göttlichen Wesens mit gerechtem Unwillen. Als ob Gott und meine Seele von gleicher Natur sein könnten! Als ob Gott nicht das einzige absolute, das einzige wirklich durch sich selbst thätige, fühlende, denkende, wollende Wesen wäre, von welchem wir unser Denken wie Fühlen, unsere Thätigkeit wie unseren Willen, unsere Freiheit wie unser Wesen erhalten haben. Wir sind nur deshalb frei, weil er will, daß wir es sein sollen, und seine unerforschliche Substanz ist für unsere Seelen dasselbe, was unsere Seelen für unsern Körper sind. Ob er die Materie, die Körper, die Geister, die Welt erschaffen hat, ist mir unbekannt. Die Idee der Schöpfung verwirrt mich und übersteigt meine Fassungskraft. Ich glaube sie, so viel mir daran begreiflich ist. Indeß weiß ich, daß er das Weltall und alles Existirende gebildet, daß er Alles geschaffen, Alles geordnet hat. Gott ist unzweifelhaft ewig. Ist aber mein Geist im Stande, die Idee der Ewigkeit zu begreifen? Weshalb soll ich mich mit Worten abspeisen lassen, mit denen ich keinen Begriff verbinden kann? So viel begreife ich jedoch, daß er existirte, ehe noch die Dinge waren, daß er sein wird, so lange sie fortdauern werden, und daß er selbst dann noch sein würde, wenn dereinst Alles aufhören sollte. Daß ein Wesen, welches ich nicht zu begreifen vermag, andere Wesen ins Dasein ruft, ist nur dunkel und unbegreiflich; daß dagegen Sein und Nichtsein von selbst in einander übergehen sollten, ist ein handgreiflicher Widerspruch, ist eine augenscheinliche Absurdität. Gott ist intelligent. Wie ist er es jedoch? Der Mensch ist intelligent, wenn er sich ein richtiges Urtheil bildet. Nun hat es aber die höchste Intelligenz nicht erst nöthig, sich Urtheile zu bilden; für sie gibt es weder Prämissen noch Schlußfolgerungen. Sie ist die absolute Anschauung; wie sie Alles überblickt, was ist, so sieht sie auch in gleicher Weise Alles, was sein kann; wie alle Wahrheiten für sie nur eine einzige Idee ausmachen, so auch alle Orte nur einen einzigen Punkt und alle Zeiten einen einzigen Augenblick. Die menschliche Macht wirkt durch Mittel, die göttliche Macht wirkt durch sich selbst. Gott kann, weil er will; seine Macht ist der Ausfluß seines Willens. Gott ist gütig, nichts tritt deutlicher zu Tage; aber die Güte des Menschen zeigt sich in der Liebe zu seinen Mitmenschen, während sich die Güte Gottes in seiner Liebe zur Ordnung offenbart, denn durch die Ordnung erhält er alles Bestehende und verbindet er jeden Theil mit dem Ganzen. Gott ist gerecht, ich bin davon überzeugt; die Gerechtigkeit ist die Folge seiner Güte; an der Ungerechtigkeit der Menschen sind sie selbst Schuld, nicht er. Der sich in der moralischen Welt kundgebende Zwiespalt, welcher in den Augen der Philosophen gegen die Vorsehung zeugt, gilt in den meinigen gerade als ein Beweis für dieselbe. Während aber die Gerechtigkeit des Menschen Jedem gibt, was ihm gebührt, fordert die Gerechtigkeit Gottes von Jedem Rechenschaft über das, was er ihm gegeben hat.

Wenn ich so stufenweise zur Entdeckung dieser Eigenschaften gelange, von welchen ich keine absolute Vorstellung habe, so geschieht es doch nur durch künstliche Schlußfolgerungen, durch die richtige Anwendung meiner Vernunft; aber trotzdem nehme ich sie an, wenn ich sie auch nicht zu fassen vermag, und das heißt doch eigentlich nichts annehmen. Vergeblich sage ich zu mir: So ist Gott, ich fühle es, ich trage den Beweis in mir, trotzdem begreife ich doch nicht besser, wie Gott so sein kann.

Kurz, je mehr ich mich bemühe, mich zum Anschauen seines unendlichen Wesens zu erheben, desto weniger vermag ich es zu begreifen. Aber es ist, das ist für mich genügend; je weniger ich es begreife, desto mehr bete ich es an. In Demuth spreche ich zu ihm: Wesen aller Wesen, ich bin, weil du bist. Wenn meine Gedanken unaufhörlich bei dir weilen, erhebe ich mich zur Quelle meines Daseins. Ich mache den würdigsten Gebrauch von meiner Vernunft, wenn ich sie vor dir schweigen lasse. Es ist Wonne für meinen Geist, ein zauberhafter Reiz für meine Schwachheit, mich von deiner Größe überwältigt zu fühlen.

Nachdem ich nun auf diese Weise die Hauptwahrheiten, deren Kenntniß für mich von Wichtigkeit ist, aus dem Eindrucke der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände und aus dem inneren Gefühle, welches mich antreibt, mich bei der Beurtheilung der Ursachen von meinen natürlichen Einsichten leiten zu lassen, gefolgert habe, so bleibt mir noch zu untersuchen übrig, welche Grundsätze ich daraus für meinen Wandel herzuleiten habe und welche Regeln ich mir vorschreiben muß, um meine Bestimmung hienieden nach den Absichten dessen zu erfüllen, der mir meinen Platz auf Erden angewiesen hat. Treu meiner bisherigen Methode, entnehme ich diese Regeln durchaus nicht den Principien einer erhabenen Philosophie, sondern ich finde sie im Grunde meines Herzens von der Natur mit unauslöschlichen Zügen eingegraben. Ich habe über das, was ich thun will, nur mich selbst zu befragen; Alles, von dem mir mein Gefühl sagt, daß es gut ist, ist auch wirklich gut; Alles, was mein Gefühl schlecht nennt, ist schlecht. Der beste aller Gewissensräthe ist das Gewissen, und erst dann, wenn man mit ihm feilschen will, muß man zu Spitzfindigkeiten seine Zuflucht nehmen. Die erste aller Sorgen, die den Menschen beschäftigt, ist die Sorge für sich selbst. Wie oft raunt uns indeß eine Stimme zu, daß wir Unrecht handeln, wenn wir unser Wohl auf Kosten Anderer zu gründen suchen! Wir wähnen dem Antriebe der Natur zu folgen und setzen ihr im Gegentheile Widerstand entgegen; indem wir nur auf das hören, was sie unseren Sinnen sagt, setzen wir das hintan, was sie unserem Herzen sagt. Das active Sein gehorcht, das passive Sein befiehlt. Das Gewissen ist die Stimme der Seele, die Leidenschaften sind die Stimme des Körpers. Kann es uns überraschen, daß diese beiden Stimmen sich oft im Widerstreit befinden? Und auf welche von ihnen soll man alsdann hören? Nur zu oft täuscht uns die Vernunft, und wir haben deshalb das unveräußerliche Recht, uns ihren Nachschlagen nicht zu fügen; das Gewissen täuscht uns dagegen niemals; es ist der wahre Führer des Menschen; was der Instinct für den Körper, ist das Gewissen für die Seele. Die moderne Philosophie, welche nur das annimmt, was sie zu erklären vermag, nimmt keinen Anstand, jene unerklärliche, Instinct genannte Fähigkeit anzuerkennen, welche die Thiere, ohne daß sie sich auch nur die geringste Kenntniß erworben hätten, zu einem bestimmten Ziele zu treiben scheint. Der Instinct ist nach der Definition eines unserer gelehrtesten Philosophen lediglich eine der Reflexion beraubte, aber erst durch Reflexion gewonnene Gewohnheit; und aus der Art und Weise, wie er diesen Fortschritt erklärt, sieht man sich zu dem Schlusse gezwungen, daß die Kinder mehr reflectiren, als die Erwachsenen, ein in so hohem Grade seltsames Paradoxon, daß es sich schon der Mühe verlohnt, dasselbe einer näheren Prüfung zu unterziehen. Ohne weiter auf diese Erörterung einzugehen, erlaube ich mir nur die Frage aufzuwerfen, mit welchem Namen ich den Eifer bezeichnen soll, mit dem mein Hund die Maulwürfe bekriegt, die er nicht einmal frißt, die Geduld, mit welcher er ihnen bisweilen Stunden lang auflauert, und die Geschicklichkeit, mit welcher er sie packt, sie in dem Augenblicke ihres Aufstoßens aus der Erde wirft und dann tödtet, um sie liegen zu lassen, ohne daß ihn Jemand zu dieser Jagd dressirt und ihm beigebracht hätte, daß es hier Maulwürfe gibt. Weiter frage ich, und das ist noch von ungleich höherer Wichtigkeit, weshalb sich der nämliche Hund, als ich ihm zum ersten Male drohte, mit dem Rücken auf die Erde warf und sich mit zusammengezogenen Pfötchen in eine so bittende Stellung legte, daß sie ganz geeignet war, mich zu rühren. Sicherlich hätte er sich gehütet, in dieser Stellung zu bleiben, wenn ich, ohne mich erweichen zu lassen, ihn in diesem Zustande geschlagen hätte. Wie! Hatte mein noch ganz kleiner und kaum erst geborner Hund etwa schon moralische Begriffe erworben? Wußte er etwa schon, was Gnade und Großmuth war? Vermöge welcher gewonnenen Einsichten gab er sich der Hoffnung hin, mich dadurch zu besänftigen, daß er sich mir ganz auf Gnade oder Ungnade ergab? Alle Hunde der Welt handeln in demselben Falle fast genau eben so, und ich behaupte hier nichts, wovon sich nicht ein Jeder selbst überzeugen könnte. Hätten doch die Philosophen, die den Instinct in so verächtlicher Weise verwerfen, die Güte, diese Thatsache durch das alleinige Spiel der Sinneseindrücke und der durch sie erworbenen Kenntnisse zu erklären, und zwar so zu erklären, daß es auch einem jedem vernünftigen Menschen verständlich wäre. Dann würde ich nichts mehr zu erwidern haben und nie wieder vom Instinct reden. Wer sich von ihm leiten läßt, gehorcht der Natur und braucht nicht zu befürchten, sich zu verirren. Dieser Punkt, fuhr mein Wohlthäter fort, als er bemerkte, daß ich im Begriff stand, ihn zu unterbrechen, ist von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit. Erlauben Sie, daß ich bei der Erläuterung desselben noch etwas länger stehen bleibe.

Die ganze Moralität unserer Handlungen beruht auf dem Urtheile, welches wir uns selbst über dieselben bilden. Wenn es wahr ist, daß das Gute gut ist, so muß es dies im Grunde unserer Herzen eben so wie in unseren Werken sein, und der erste Lohn der Gerechtigkeit liegt in dem Gefühle, daß man sie geübt hat. Wenn die moralische Güte mit unserer Natur in Einklang steht, so kann der Mensch nur in so weit geistig gesund und kräftig sein, als er gut ist. Ist dies jedoch nicht der Fall, ist vielmehr der Mensch böse, so vermag er, ohne sich zu verderben, auch nicht aufhören, es zu sein, und die Güte schlägt bei ihm dann zu einem Verbrechen gegen die Natur um. Geschaffen seinen Mitmenschen Schaden zuzufügen, wie der Wolf, seine Beute zu erwürgen, würde ein unter solchen Umständen Menschlichkeit verratender Mensch ein eben so entartetes Geschöpf sein, wie ein Erbarmen übender Wolf, und nichts als die Tugend würde Gewissensbisse in uns wachrufen.

Halten wir in uns selbst Einkehr, mein junger Freund, prüfen wir einmal, mit Beiseitesetzung alles persönlichen Interesses, wozu uns unsere Neigungen treiben. Was für ein Anblick ruft angenehmere Gefühle in uns hervor, der der Qualen oder des Glückes Anderer? Welche Handlungen bereiten uns die größte Freude und lassen den wohlthuendsten Eindruck in uns zurück, ein Act der Wohlthätigkeit oder ein Act der Bosheit? An wem nehmen wir auf unseren Theatern den regsten Antheil? Erfüllen uns die Frevelthaten mit Vergnügen? Fließen unsere Thränen für die bestraften Missethäter? Alles, behauptet man, sei uns gleichgültig, unsern eigenen Vortheil ausgenommen; und gerade im Gegentheile tröstet uns in unseren Leiden die Süßigkeit der Freundschaft und der Nächstenliebe, und sogar mitten in unseren Vergnügungen würde uns das Gefühl einer nur allzu großen Vereinsamung und des Elends beschleichen, wenn wir Niemanden hätten, mit dem wir sie zu theilen vermöchten. Wenn im Menschenherzen nichts von Moral vorhanden ist, was ist dann die Ursache jener hohen Bewunderung heldenmüthiger Thaten und jener begeisterten Liebe zu großen Seelen? Welche Beziehung kann zwischen diesem Enthusiasmus für die Tugend und unserem Sonderinteresse stattfinden? Weshalb möchte ich lieber Cato sein, der seine Eingeweide zerreißt, als der triumphirende Cäsar? Nehmt aus unseren Herzen diese Liebe zum Schönen, und ihr nehmt damit zugleich dem Leben allen Reiz. Derjenige, in dessen beschränkter Seele verächtliche Leidenschaften diese köstlichen Gefühle erstickt haben, derjenige, welcher es in seinem Streben, sich nur auf sich selbst zu beschränken, endlich so weit gebracht hat, nur noch sich allein zu lieben, geht freudenleer durch das Leben. Nie schlägt sein kaltes Herz mehr vor Wonne, nie feuchten Thränen süßer Rührung mehr sein Auge, nie hat er sich eines wahren Genusses mehr zu erfreuen. Der Unglückliche fühlt nicht mehr, lebt nicht mehr; er ist bereits todt.

Wie groß indeß auch immer die Zahl der Bösen auf Erden sein mag, so gibt es trotzdem nur wenige solcher völlig gefühllosen Herzen, welche, mit Ausnahme ihres eigenen Interesses, für Alles, was gerecht und gut ist, unempfindlich geworden sind. Die Ungerechtigkeit ist uns nur in dem Falle angenehm, daß wir Vortheil aus ihr ziehen; in jedem anderen hegt man den Wunsch, daß der Unschuldige in Schutz genommen werde. Gewahren wir in einer Straße oder sonst auf einem Wege einen Act der Gewalt oder Ungerechtigkeit, so steigt augenblicklich eine Regung des Zornes und des Unwillens in uns empor und treibt uns an, die Partei des Unterdrückten zu ergreifen; allein eine mächtigere Pflicht hält uns zurück, denn die Gesetze entziehen uns das Recht, die Unschuld zu beschützen. Sind wir dagegen Zeugen eines Actes der Güte oder des Edelmuthes, welche Bewunderung, welche Liebe flößt er uns ein! Wer würde nicht zu sich selber sagen: So möchte ich auch gehandelt haben! Es kann uns sicherlich höchst wenig kümmern, ob ein Mensch vor zweitausend Jahren schlecht oder gerecht gewesen ist, und nichts desto weniger fesselt uns die alte Geschichte in dem nämlichen Grade, als ob sich alle Ereignisse derselben in unseren Tagen zugetragen hätten. Was habe ich mit dem Verbrechen des Catilina zu schaffen? Kann ich etwa Besorgniß hegen, sein Opfer zu werden? Warum habe ich also vor ihm denselben Abscheu, der mich vor ihm erfüllen würde, wenn er mein Zeitgenosse wäre? Wir hassen die Bösen nicht allein um deswillen, daß sie uns Schaden zufügen, sondern weil sie böse sind. Wir wünschen nicht allein selbst glücklich zu sein, sondern wünschen auch das Glück Anderer, und sobald dieses Glück das unserige nicht beeinträchtigt, so trägt es zur Erhöhung unseres eigenen bei. Kurz man hat, mag man wollen oder nicht, Mitleid mit den Unglücklichen; man leidet mit, wenn man Zeuge ihrer Leiden ist. Selbst die Gesunkensten können sich von diesem Triebe nicht völlig frei machen; oft setzt er sie mit sich selbst in Widerspruch. Der Räuber, welcher die Vorüberziehenden ausplündert, deckt trotzdem die Blöße der Armen, und der wildeste Räuber versagt einem Ohnmächtigen seine Hilfe nicht.


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