Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Man spricht von der Stimme des Gewissens, welche im Geheimen verborgene Verbrechen straft und oftmals Verrätherin an ihnen wird. Ach, wer unter uns hätte diese nicht zu beschwichtigende Stimme noch nie vernommen? Man spricht aus Erfahrung und möchte gern dieses tyrannische Gefühl, das uns so große Pein verursacht, zum Schweigen bringen. Gehorchen wir der Natur; dann werden wir wahrnehmen, eine wie milde Herrschaft sie ausübt, und welch ein Zauber darin liegt, sich ein günstiges Zeugniß ausstellen zu können, nachdem man nur auf ihre Rathschläge gehört hat. Der Böse hat vor sich selbst Furcht und sucht sich selbst zu entfliehen; er wird erst heiter, wenn er aus sich selbst heraustritt. Unruhig irren seine Blicke umher und suchen nach einem Gegenstande, der ihn belustigen könne. Ohne bittere Satyre, ohne verletzenden Spott würde er sich einer steten Trauer hingeben; im Hohngelächter besteht sein einziges Vergnügen. Die Heiterkeit des Gerechten ist dagegen eine innere; sein Lachen verräth nicht Bosheit, sondern eine Freude, deren Quelle in ihm selber liegt. Ob er für sich allein ist oder sich mitten in einer Gesellschaft befindet, stets wird ihn ein gleichmäßiger Frohsinn erfüllen. Er schöpft seine Freude nicht etwa aus denen, mit welchen er in Berührung kommt, sondern theilt ihnen vielmehr die seinige mit.

Lassen Sie alle Völker der Erde vor ihren Blicken vorüberziehen, erforschen Sie alle Gebiete der Geschichte: unter so vielen unmenschlichen und wunderlichen Arten der Gottesverehrung, unter dieser außerordentlichen Verschiedenheit der Sitten und Charaktere werden Sie trotzdem überall die nämlichen Ideen von Gerechtigkeit und Redlichkeit, überall die nämlichen Grundsätze der Moral, überall die nämlichen Begriffe von Gut und Böse vorfinden. Das alte Heidenthum brachte wahrhaft abscheuliche Gottheiten hervor, die man hienieden als Schurken zur Strafe gezogen hätte, und die uns die Verübung von Frevelthaten und die rückhaltlose Befriedigung der Leidenschaften als ein Bild des höchsten Glückes vorhielten. Gleichwol stieg das durch himmlische Autorität geheiligte Laster vergebens aus seiner ewigen Wohnung herab; der moralische Instinct ließ ihm keine Stätte in dem Menschenherzen. Während man Jupiters Ausschweifungen pries, bewunderte man die Enthaltsamkeit des Xenokrates; die keusche Lucretia verehrte die unzüchtige Venus; der heldenmüthige Römer brachte der Gottheit der Furcht Opfer dar; er rief den Gott an, der seinen Vater verstümmelte, und starb ohne Murren von der Hand seines eigenen. Den verächtlichsten Gottheiten huldigten gerade die größten Männer. Die heilige Stimme der Natur, stärker als die der Götter, wußte sich auf Erden zu Ehren zu bringen und schien die Schuld mit den Schuldigen in den Himmel zu verweisen.

Es liegt folglich in der Tiefe der Seele ein angeborenes Princip der Gerechtigkeit und Tugend, nach dem wir, wie auch unsere eigenen Grundsätze sein mögen, nicht nur unsere Handlungen, sondern auch die Handlungen Anderer als gut oder böse anerkennen, und dieses Princip nenne ich Gewissen.

Bei diesem Worte höre ich aber schon von allen Seiten das Geschrei der sogenannten Weisen. »Irrthümer der Kindheit, Vorurtheile der Erziehung,« tönt es in seltener Einstimmigkeit um mich her. »Im Menschengeiste ist nur das vorhanden, was er der Erfahrung entnommen hat, und unserm Urtheile über die Dinge liegen nur die Ideen, welche wir uns angeeignet haben, zu Grunde.« Ja, sie bleiben hierbei noch nicht einmal stehen, sie wagen es sogar, die klare und allgemeine Uebereinstimmung aller Völker zu verwerfen, und suchen gegen die eclatante Gleichheit des Urtheils der Menschen im Dunkeln nach irgend einem obscuren, ihnen allein bekannten Beispiele, als ob alle uns von der Natur eingepflanzten Triebe durch die Entartung eines Volkes vernichtet würden, und mit dem Vorkommen einzelner Mißgeburten das ganze Geschlecht ausgerottet wäre. Was nützen indeß dem skeptischen Montaigne seine sorgenvollen Bemühungen, in irgend einem Winkel der Welt einen den Begriffen der Gerechtigkeit zuwider laufenden Gebrauch zu entdecken? Was nützt es ihm, den verdächtigsten Reisenden eine Autorität beizulegen, die er den berühmtesten Schriftstellern versagt? Sollten wirklich einige nicht einmal völlig feststehende und seltsame Gebräuche, die aus örtlichen, uns unbekannten Gründen hervorgegangen sind, die allgemeine aus der Übereinstimmung aller Völker abgeleitete Folgerung umstoßen können? Mögen auch die Völker in allem Uebrigen verschieden sein, so herrscht doch in diesem Punkte eine vollkommene Einstimmigkeit. O Montaigne, der du dich immer mit solchem Stolze deines Freimuths und deiner Wahrheitsliebe rühmst, sei aufrichtig und wahr, wenn es einem Philosophen überhaupt möglich ist, und sage mir, ob es irgend ein Land auf Erden gibt, wo es Einem zum Verbrechen angerechnet wird, sein Wort zu halten, gütig, wohlthätig und edelmüthig zu sein, wo der Ehrliche verachtet und der Treulose geehrt wird?

Jeder, behauptet man, trägt aus eigenem Interesse zum allgemeinen Besten bei. Woher kommt es denn aber, daß der Gerechte zu seinem eigenen Schaden dazu beiträgt? Was soll das heißen, aus eigenem Interesse in den Tod gehen? Allerdings bezweckt Jeder bei seinen Handlungen nur sein eigenes Beste. Wenn es indeß nicht auch ein moralisches Beste gibt, welches hierbei ebenfalls berücksichtigt werden muß, so wird man aus dem eigenen Interesse immer nur die Handlungen der Bösen erklären können; es ist sogar glaubhaft, daß man gar nicht erst den Versuch machen wird, darüber hinauszugehen. Traurig wäre es aber um eine Philosophie bestellt, welche durch tugendhafte Handlungen in Verlegenheit geriethe, die sich nur dadurch aus derselben zu ziehen vermöchte, daß sie ihnen niedrige Gesinnungen und unlautere Beweggründe andichtete, und nach deren Grundsätzen man sich genöthigt sähe, Sokrates herabzuwürdigen und Regulus zu verleumden. Wenn unter uns je ähnliche Lehren Eingang fänden, so würde sich die Stimme der Natur wie die Stimme der Vernunft augenblicklich gegen sie erheben und niemals gestatten, daß sich auch nur ein einziger ihrer Anhänger damit entschuldigen dürfte, er hätte es aufrichtig gemeint.

Es liegt nicht in meiner Absicht, hier auf metaphysische Untersuchungen einzugehen, die meine Fassungskraft nicht weniger als die Ihrige übersteigen und im Grunde genommen zu nichts führen. Ich habe Sie bereits darauf aufmerksam gemacht, daß ich mit Ihnen nicht philosophiren, sondern Ihnen nur Anleitung geben will, Ihr eigenes Herz zu berathen. Wenn alle Philosophen der Welt Ihnen den Beweis lieferten, daß ich Unrecht hätte, Ihr Gefühl Ihnen aber sagte, ich hätte Recht, so würde ich nicht mehr begehren.

Zu diesem Zwecke ist nichts weiter nöthig, als daß Sie lernen, unsere erworbenen Ideen von unseren natürlichen Empfindungen zu unterscheiden, denn unserer Erkenntniß geht nothwendigerweise unsere Empfindung vorher, und wie wir nicht erst zu lernen brauchen, unser eigenes Beste zu wollen und das, was uns Schaden zufügt, zu fliehen, sondern diesen Trieb der Natur verdanken, so ist uns auch die Liebe zum Guten und der Haß gegen das Böse eben so natürlich wie die Liebe zu uns selbst. Die Thätigkeit des Gewissens äußert sich nicht in Urtheilen, sondern in Empfindungen. Obgleich uns alle unsere Vorstellungen von Außen zugeführt werden, so liegen doch die Empfindungen, die ihnen erst ihren eigentlichen Werth beilegen, in uns selbst, und nur durch sie erkennen wir die Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, die zwischen uns und den Dingen, welche wir suchen oder fliehen müssen, stattfindet.

Ein Dasein haben, heißt empfinden. Unsere Empfindung geht unstreitig unserer Intelligenz vorauf, und wir haben Empfindungen vor den Ideen gehabt. In gewisser Beziehung sind die Ideen Empfindungen und die Empfindungen Ideen. Beide Namen passen für jede Wahrnehmung, die uns sowol mit ihrem Gegenstande als auch mit uns selbst, die wir davon afficirt werden, beschäftigt. Nur die Reihenfolge dieser Affectionen entscheidet darüber, welches der passende Name für sie ist. Wenn wir zuerst mit dem Gegenstande beschäftigt sind und nur in Folge einer Reflexion an uns denken, so heißt die Wahrnehmung Idee; wenn dagegen unsere Aufmerksamkeit zuerst durch den empfangenen Eindruck erregt wird, und wir nur in Folge der Reflexion an den Gegenstand denken, welcher ihn verursacht, so heißt sie Empfindung. Welches auch immer die Ursache unseres Daseins sein möge, so hat sie dadurch für unsere Erhaltung Sorge getragen, daß sie uns Empfindungen gab, die mit unserer Natur im Einklang stehen, und man wird nicht läugnen können, daß wenigstens diese angeboren sind. Diese Empfindungen sind, so weit sie das Individuum selbst anlangen, die Liebe zu sich selbst, die Furcht vor dem Schmerze, das Grausen vor dem Tode, das Verlangen nach Wohlbefinden. Wenn aber, was unzweifelhaft feststeht, der Mensch seiner Natur nach gesellig ist, oder es wenigstens seiner Bestimmung nach werden soll, so können ihm auch andere angeborene Empfindungen nicht fehlen, die sich auf sein Geschlecht beziehen; denn schenkt man nur dem physischen Bedürfnisse Beachtung, so muß man zugeben, daß dieses sicherlich eher geeignet ist, die Menschen von einander zu führen, als eine Annäherung unter ihnen zu Wege zu bringen. Folglich hat der Impuls des Gewissens seine Quelle in dem moralischen Systeme, welches durch die doppelte Beziehung des Menschen zu sich selbst und zu seinen Nebenmenschen gebildet wird. Das Gute erkennen, heißt noch nicht es lieben; der Mensch hat davon keine angeborene Kenntniß; sobald er es indeß mit Hilfe seiner Vernunft erkennt, so treibt ihn sein Gewissen an, es zu lieben, und dies Gefühl gehört zu den uns angeborenen.

Ich bin deshalb der Ansicht, junger Freund, daß es nicht unmöglich ist, das unmittelbare Princip des Gewissens, selbst unabhängig von der Vernunft, nur aus unserer Natur zu erklären. Würde dies sich als unmöglich herausstellen, so würde es auch gar nicht einmal nothwendig sein; denn da diejenigen, welche dies von dem ganzen Menschengeschlecht angenommene und anerkannte Princip in Abrede stellen, sich auf keinen Beweis einlassen, daß es nicht existirt, sondern sich mit der vagen Behauptung begnügen, so können wir mit ganz demselben Rechte behaupten, daß es existirt, und uns noch außerdem auf das innere Zeugniß und die Stimme des Gewissens berufen, welches für sich selbst zeugt. Wenn der erste Schimmer des Urtheils uns blendet, so daß sich die Gegenstände unseren Blicken Anfangs nur in verschwommenen Umrissen zeigen, so wollen wir warten, bis sich unsere schwachen Augen wieder öffnen und erst kräftiger werden, und bald werden wir die nämlichen Gegenstände im Lichte der Vernunft wieder so erblicken, wie sie uns die Natur von Anfang an zeigte. Oder wir wollen vielmehr einfacher und weniger eitel sein, wollen uns auf die ursprünglichen Empfindungen, die wir in uns finden, beschränken, weil sie es sind, auf welche uns unsere Ueberlegung stets wieder zurückführt, wenn sie uns nicht etwa auf Irrthümer geleitet hat.

Gewissen, Gewissen! O du göttlicher Instinct, ewige und himmlische Stimme, du zuverlässiger Führer eines zwar unwissenden und beschränkten, aber intelligenten und freien Wesens, du unfehlbarer Richter über Gut und Böse, der du dem Menschen Gottähnlichkeit verleihst, dir hat er die Vollkommenheit seiner Natur und die Sittlichkeit seiner Handlungen zu verdanken. Ohne dich empfinde ich nichts in mir, was mich über die Thiere erhebt, als das traurige Vorrecht, in Folge eines regellosen Verstandes und einer grundsatzlosen Vernunft von Irrthum zu Irrthum zu taumeln.

Gott sei Dank, haben wir mit all diesem Schrecken erregenden Apparate der Philosophie nichts zu schaffen; wir können Menschen sein, ohne Gelehrte zu sein. Da es uns erspart ist, unser Leben mit dem Studium der Moral hinzubringen, können wir mit ungleich geringerem Aufwande einen weit sichereren Führer durch dieses unermeßliche Gewirr der menschlichen Meinungen erhalten. Indessen genügt es nicht, daß dieser Führer vorhanden ist, man muß ihn auch als solchen anerkennen und ihm zu folgen verstehen. Wie kommt es, wenn er zu allen Herzen redet, daß es doch so Wenige gibt, die auf ihn hören? Nur deshalb, weil er die Sprache der Natur zu uns redet, welche wir nicht mehr verstehen, da Alles dazu beigetragen hat, sie uns vergessen zu lassen. Das Gewissen ist schüchtern; es liebt die Zurückgezogenheit und den Frieden; die Welt und ihr Geräusch schüchtern es ein. Die Vorurtheile, in deren Begleitung es erwacht, sind seine grausamsten Feinde. Es flieht oder verstummt vor ihnen. Ihre lärmende Stimme übertönt die seinige und hindert sie, sich vernehmbar zu machen. Der Fanatismus unterfängt sich, dem Gewissen nachzuäffen und im Namen desselben zum Verbrechen aufzufordern. Werden seine Mahnungen zu häufig unbeachtet gelassen, so verliert es endlich den Muth; es spricht nicht mehr zu uns und antwortet uns nicht mehr, und nachdem es sich so lange eine verächtliche Behandlung hat gefallen lassen müssen, gehört nicht weniger Mühe dazu, es wieder zum Reden zu bringen, als es gekostet hat, ihm Schweigen aufzuerlegen.

Wie oft wurde ich nicht bei meinen Untersuchungen von der Kälte, die ich in mir fühlte., auf das Unangenehmste berührt! Wie oft spritzten nicht Traurigkeit und Ueberdruß ihr Gift in meine wichtigsten Betrachtungen und machten sie mir dadurch unerträglich! Mein vertrocknetes Herz schenkte der Liebe zur Wahrheit nur einen matten und lauen Eifer. Ich sprach zu mir: Weshalb soll ich mich abquälen, nach etwas zu forschen, was gar nicht vorhanden ist? Das moralisch Gute beruht nur in der Einbildung, es gibt nichts Gutes als den Sinnengenuß. O, wie schwer ist es doch, wieder Geschmack an den Freuden der Seele zu gewinnen, wenn man ihn erst einmal verloren hat! Mit wie viel größerer Schwierigkeit ist es aber noch verbunden, ihn sich anzueignen, wenn man ihn noch nie gehabt hat! Gäbe es einen Menschen, der bis zu der Stufe der Verkommenheit hinabgesunken wäre, daß er in seinem ganzen Leben nichts gethan hätte, dessen Erinnerung ihn mit sich selbst zufrieden machen könnte und ihm einen frohen Rückblick auf sein vergangenes Leben gestattete, so würde einem solchen Menschen die Fähigkeit mangeln, sich je selbst zu erkennen, und da er nicht fühlte, wie sehr die Güte zu seiner Natur gehört, so würde er nothwendigerweise böse bleiben und ewig unglücklich sein. Aber wähnen Sie etwa, daß es auf dem ganzen Erdenrund auch nur einen einzigen Menschen gibt, der so verdorben wäre, daß sich sein Herz nie versucht gefühlt hätte, Gutes zu thun? Eine solche Versuchung ist so natürlich und so süß, daß es unmöglich ist, ihr auf immer zu widerstehen, und die Erinnerung an die Freude, die sie uns einmal bereitet hat, reicht hin, um sie unablässig von Neuem wachzurufen. Unglücklicherweise läßt sie sich Anfangs nur mit Beschwerden befriedigen; man hat tausenderlei Vorwände, der Neigung seines Herzens kein Gehör zu schenken. Die falsche Klugheit hält es in den engen Schranken des menschlichen Ichs zusammen, und es sind tausend muthige Anstrengungen nöthig, bis es sie zu durchbrechen wagt. Freude am Gutesthun ist der Lohn für die vollbrachte gute That, und dieser Lohn wird nur dem zu Theil, der ihn sich wirklich verdient hat. Nichts ist liebenswürdiger als die Tugend, aber ihre Ausübung muß uns Genuß gewähren, wenn wir sie so finden sollen. Wenn man sich ihr ganz zu eigen geben will, so nimmt sie, wie Proteus in der Sage, Anfangs tausend abschreckende Gestalten an und zeigt sich endlich nur denen in ihrer wirklichen Gestalt, die sie sich auch nicht einen Augenblick haben entschlüpfen lassen.

Im unaufhörlichen Kampfe mit meinen natürlichen Empfindungen, welche für das allgemeine Beste sprachen, und mit meiner Vernunft, die Alles auf mich bezog, wäre ich mein ganzes Leben hindurch beständigen Schwankungen unterworfen gewesen, hätte das Böse gethan und das Gute geliebt, kurz hätte in fortwährendem Widerspruche mit mir selbst gelebt, wenn nicht ein neues Licht mein Herz erleuchtet, wenn nicht die Wahrheit, die meinen Ansichten eine feste Richtung gab, meinem Wandel eine sichere Bahn vorgezeichnet und mich wieder mit mir selbst in Einklang gebracht hätte. Vergeblich ist es, die Tugend auf die Vernunft allein gründen zu wollen; welche sichere Grundlage könnte man ihr damit wol geben? Die Tugend, sagt man, ist die Liebe zur Ordnung. Aber kann und darf denn diese Liebe in mir den Sieg über die Liebe zu meinem Wohlsein davontragen? Gebe man mir doch einen klaren und ausreichenden Grund an, weshalb ich jener den Vorzug einräumen soll. Im Grunde genommen beruht ihr angebliches Princip nur auf einem bloßen Spiele mit Worten, denn ich kann mit demselben Rechte behaupten, das Laster sei die Liebe zur Ordnung, allerdings in einem ganz andern Sinne. Ueberall, wo sich Empfindung und Verstand findet, gibt es eine gewisse moralische Ordnung. Dabei darf nun freilich der Unterschied nicht übersehen werden, daß der Gute sich dem Ganzen, der Böse dagegen das Ganze sich unterordnet. Letzterer macht sich zum Mittelpunkte aller Dinge, Ersterer mißt seinen Radius und hält sich in der Peripherie. Damit ist er zu Gott, dem gemeinsamen Mittelpunkte, und zu allen concentrischen Kreisen, welche von den Geschöpfen gebildet werden, in das richtige Verhältniß getreten. Gibt es keine Gottheit, so kann man nur dem Bösen Vernunft zugestehen; der Gute handelt dann aber wie ein Unvernünftiger.

O mein Kind, könnten Sie dereinst empfinden, welche Last Einem abgenommen ist, wenn man endlich, nachdem man die Nichtigkeit der menschlichen Meinungen und die Bitterkeit der Leidenschaften gekostet hat, in seiner nächsten Nähe den Weg zur Weisheit, den Lohn für die Mühen dieses Lebens und die Quelle des Glückes findet, woran man schon verzweifelt hatte. Alle Pflichten des Naturgesetzes, welche die Ungerechtigkeit der Menschen fast schon aus meinem Herzen verwischt hatte, prägen sich demselben wieder ein im Namen der ewigen Gerechtigkeit, die sie mir auferlegt und zuschaut, wie ich sie erfülle. Jetzt erblicke ich in mir nur noch das Werk und das Werkzeug des erhabenen Wesens, welches das Gute will und thut und auch mein wahres Glück herbeiführen wird, wenn mein Wille mit dem seinigen in Einklang steht und ich von meiner Freiheit einen weisen Gebrauch mache. Ich füge mich in die Ordnung, die es hergestellt hat, überzeugt, daß ich dereinst selbst einen vollen Antheil an dieser Ordnung haben und darin meine Glückseligkeit finden werde, denn was kann uns wol mit einer höheren Glückseligkeit erfüllen, als das Gefühl, einem Systeme anzugehören, in welchem Alles gut ist? Foltern mich Schmerzen, so trage ich sie in Geduld und tröste mich mit dem Gedanken, daß sie vorübergehend sind und von einem Körper ausgehen, der doch nicht für immer mein eigen ist. Verrichte ich ohne Zeugen eine gute Handlung, so weiß ich, daß sie doch gesehen wird, und glaube, daß mein Wandel in diesem Leben von Einfluß auf das künftige Leben sein wird. Muß ich Unrecht leiden, so sage ich mir: Das gerechte Wesen, welches Alles lenkt und regiert, wird mich wol zu entschädigen wissen. Die Bedürfnisse meines Körpers, die Leiden meines Lebens machen mir den Gedanken an den Tod erträglicher. Wenn ich einmal von Allem scheiden muß, werde ich desto weniger Bande zu zerreißen brauchen.

Warum ist meine Seele meinen Sinnen unterworfen und an diesen Körper gekettet, der sie unterjocht und behindert? Ich weiß es nicht. Bin ich in die Rathschlüsse Gottes eingedrungen? Aber, ohne daß man mich der Vermessenheit zeihen könnte, darf ich wenigstens einfache Vermuthungen aufstellen. Ich sage mir: Was für ein Verdienst würde wol für den menschlichen Geist, wenn er frei und rein geblieben wäre, darin liegen, die Ordnung, die er festgestellt sähe und die zu stören es ihm an allem Interesse fehlte, zu lieben und zu befolgen? Wol ist es wahr, daß er glücklich sein würde, aber es würde seinem Glücke doch der höchste Grad mangeln, nämlich der Ruhm der Tugend und das gute Zeugniß seiner selbst. Er würde nur wie die Engel sein, während ein tugendhafter Mensch unzweifelhaft einst mehr sein wird als sie. Vereint mit einem sterblichen Körper durch eben so mächtige wie unbegreifliche Bande, wird die Seele durch die Sorge für die Erhaltung dieses Körpers angetrieben, Alles auf ihn zu beziehen, und wendet ihm deshalb ein Interesse zu, welches der allgemeinen Ordnung, die sie nichts desto weniger zu erkennen und zu lieben fähig ist, zuwider läuft. Unter diesen Verhältnissen wird dann der rechte Gebrauch ihrer Freiheit zugleich Verdienst und Belohnung, und sie bereitet sich durch Bekämpfung ihrer irdischen Leidenschaften und Aufrechterhaltung ihres ursprünglichen Willens ein unwandelbares Glück.

Wenn nun sogar in dem Zustande der Erniedrigung, in dem wir uns dies Leben hindurch befinden, alle unsere ursprünglichen Triebe gesetzmäßig sind, wenn alle unsere Laster ihre Quelle nur in uns selber finden, weshalb beklagen wir uns dann, daß wir von ihnen beherrscht werden? Weshalb machen wir mit unseren Vorwürfen den Urheber der Dinge für die Uebel, die wir uns selbst zufügen, und für die Feinde verantwortlich, die wir gegen uns selbst waffnen? Ach, laßt uns nur den Menschen nicht verderben, dann wird er beständig gut sein ohne Leiden und beständig glücklich ohne Gewissensbisse. Die Schuldigen, welche vorgeben, zum Verbrechen gezwungen zu sein, sind eben so lügnerisch als schlecht. Wie können sie sich gegen die Einsicht verschließen, daß die Schwäche, über welche sie sich beklagen, ihr eigenes Werk ist; daß ihre erste Verderbniß ihrem eigenen Willen entspringt, daß sie nur um deswillen, weil sie Anfangs ihren Versuchungen nachgeben wollten, ihnen endlich auch wider ihren Willen nachgeben müssen und dieselben unwiderstehlich machen? Unzweifelhaft hängt es jetzt nicht mehr von ihnen ab, nicht böse und schwach zu sein, aber es hing von ihnen ab, es nicht zu werden. O, mit welcher Leichtigkeit würden wir sogar während dieses Lebens Meister über uns und unsere Leidenschaften bleiben, wenn wir zu der Zeit, in welcher sich noch keine bestimmte Gewohnheiten in uns festgesetzt haben, in welcher unser Geist sich erst zu entfalten beginnt, diesen mit Gegenständen zu beschäftigen verständen, welche er kennen muß, um diejenigen, die ihm noch unbekannt sind, würdigen zu können; wenn wir den aufrichtigen Wunsch hegten, uns aufzuklären, nicht um in den Augen Anderer zu glänzen, sondern um unserer Natur gemäß gut und verständig zu sein, um unser Glück in der Erfüllung unsrer Pflichten zu finden! Dieses Studium erscheint uns freilich langweilig und mühselig, weil wir erst dann daran denken, wenn wir durch das Laster schon verderbt sind, wenn wir uns unseren Leidenschaften schon überlassen haben. Bevor wir noch das Gute und Böse kennen, bilden wir uns schon ein festes Urtheil und legen den Dingen einen bestimmten Werth bei, und da wir dann an Alles diesen falschen Maßstab legen, so fassen wir nichts nach seinem wirklichen Werthe auf.

Es gibt ein Alter, wo das noch freie, aber warmblütige, unruhige und nach einem unbekannten Glücke heftig verlangende Herz demselben mit einer gewissen neugierigen Unruhe nachjagt und sich endlich, durch die Sinne getäuscht, an dem trügerischen Bilde desselben anklammert und es da zu finden glaubt, wo es nicht vorhanden ist. Diese Täuschungen haben für mich nur allzu lange angehalten. Ach, nur zu spät habe ich sie als solche erkannt und sie nie völlig in mir auszurotten vermocht! Sie werden so lange dauern wie dieser sterbliche Leib, in welchem sie ihre Quelle finden. Mögen sie mir immerhin in ihrer verführerischen Gestalt entgegentreten, täuschen werden sie mich gewiß nicht mehr. Ich erkenne sie jetzt als das, was sie sind. Obwol ich ihnen folge, verachte ich sie doch. Weit davon entfernt, in ihnen eine Quelle meines Glückes zu erblicken, sehe ich in ihnen vielmehr ein Hinderniß desselben. Ich sehne mich nach dem Augenblicke, wo ich, erlöst von den Fesseln des Leibes, ohne Widerspruch und ungetheilt, ganz ich sein und nur meiner selbst bedürfen werde, um glücklich zu sein. Mittlerweile bin ich es schon in diesem Leben, weil mir alle Uebel desselben gering erscheinen, weil ich es fast als etwas meinem Wesen Fremdartiges betrachte und weil alles wahrhaft Gute, was ich aus demselben zu gewinnen vermag, völlig in meiner Gewalt steht.

Um mich schon im Voraus, so weit es möglich ist, zu diesem Zustande des Glückes, der Kraft und der Freiheit zu erheben, stelle ich fortwährend erhabene Betrachtungen an. Ich denke über die Weltordnung nach, nicht um sie mir durch eitle Systeme zu erklären, sondern um sie unausgesetzt zu bewundern und den weisen Schöpfer anzubeten, der sich in ihr offenbart. Ich rede mit ihm und lasse all meine Fähigkeiten von seinem göttlichen Wesen durchdringen; seine Wohlthaten rühren mich, für seine Gaben preise ich ihn, aber ich richte an ihn keine Bitte. Was in aller Welt sollte ich auch von ihm erbitten? Etwa, daß er um meinetwillen den Lauf der Dinge ändere und mir zu Gunsten Wunder thue? Könnte ich, der ich die von seiner Weisheit aufgerichtete und durch seine Vorsehung aufrecht erhaltene Ordnung über Alles lieben muß, wol den Wunsch hegen, daß diese Ordnung um meinetwillen gestört würde? Nein, dieser vermessene Wunsch verdiente weit eher Strafe als Erhörung. Eben so wenig stehe ich an, mir die Kraft zu verleihen, Gutes zu thun. Weshalb ihn noch um etwas bitten, was er mir schon gegeben hat? Empfing ich nicht von ihm das Gewissen, das Gute zu lieben, die Vernunft, es zu erkennen, die Freiheit, es zu erwählen? Thue ich das Böse, so kann mir nichts zur Entschuldigung dienen; ich thue es, weil ich es will. Bitten, er möge meinen Willen ändern, hieße von ihm das begehren, was er von mir selbst verlangt, hieße das Ansinnen an ihn stellen, er solle mein Werk verrichten und mir dann den Lohn dafür ertheilen. Mit meinem Zustande nicht zufrieden sein, heißt nicht mehr Mensch sein wollen, heißt etwas Anderes wollen, als was ist, heißt die Unordnung und das Uebel wollen. O, du Quelle der Gerechtigkeit und Wahrheit, gnädiger und gütiger Gott, in meinem Vertrauen zu dir ist der höchste Wunsch meines Herzens, daß dein Wille geschehe. Erst wenn ich meinen Willen mit dem deinigen vereinige, thue ich, was du thust; ich füge mich deinem gütigen Willen; schon im Voraus meine ich Theil an der höchsten Glückseligkeit zu haben, welche der Lohn dafür ist.

Bei dem gerechten Mißtrauen, das ich gegen mich selbst hege, ist das Einzige, was ich von Gott erbitte, oder was ich vielmehr von seiner Gerechtigkeit erwarte, daß er, wenn ich in einen mir gefährlichen Irrthum versinke, mich wieder auf den rechten Weg bringen wolle. Um aufrichtig zu sein, bekenne ich, daß ich mich nicht für unfehlbar halte. Vielleicht enthalten meine Ansichten, welche mir für ausgemachte Wahrheiten gelten, eben so viele Unrichtigkeiten; denn welcher Mensch gibt die seinigen wol gern auf? Und wie viele Menschen stimmen in allen Punkten überein? Mag die Täuschung, in der ich befangen bin, immerhin in mir selbst ihre Quelle finden, so vermag Gott doch allein, mir die Augen über sie zu öffnen. Ich habe, um zur Wahrheit zu gelangen, Alles gethan, was in meinen Kräften stand, aber ihre Quelle liegt in zu steiler Höhe. Wenn mir die Kräfte fehlen, noch weiter zu ihr vorzudringen, worin kann man mich dann einer Schuld zeihen? Ihre Aufgabe ist es, sich mir zu nahen.

Der wackere Geistliche hatte mit Leidenschaft gesprochen; er war bewegt, und ich war es gleichfalls. Mir war es, als hörte ich den göttlichen Orpheus seine ersten Hymnen singen und die Menschen in der Verehrung der Götter unterrichten. Trotzdem erkannte ich sehr wohl, wie viele Einwände sich gegen ihn erheben ließen. Ich machte jedoch keinen einzigen, weil sie weniger geeignet waren zu überzeugen als in Verlegenheit zu setzen, und meine innerste Ueberzeugung auf seiner Seite stand. Je mehr ich empfand, daß er sich bei seiner Mittheilung nur von seinem Gewissen hatte leiten lassen, desto mehr schien mir auch mein Gewissen alle seine Worte zu bestätigen.

Die Ansichten, die Sie mir so eben entwickelt haben, begann ich endlich, erscheinen mir neuer in Bezug auf das, was Sie nicht zu wissen gestehen, als hinsichtlich dessen, was Sie zu glauben behaupten. Ich erkenne darin so ziemlich die Grundsätze des Theismus oder der natürlichen Religion, welche die Christen merkwürdigerweise gern mit dem Atheismus oder der Irreligion verwechseln, obwol diese den schroffsten Gegensatz zu dem Atheismus bildet. Bei meinem augenblicklichen Glaubenszustande muß ich indeß, um Ihre Ansichten annehmen zu können, mehr hinauf- als herabsteigen, und ich halte es für schwierig, gerade auf dem Punkte stehen zu bleiben, welchen Sie erreicht haben, sofern man nicht eben so weise ist als Sie. Allein um wenigstens eben so aufrichtig zu sein, will ich mit mir zu Rathe gehen. Auch mich soll nach Ihrem Beispiele das innere Gefühl dabei leiten, und Sie haben mich ja selbst gelehrt, daß es, nachdem man ihm einmal ein so langes Stillschweigen auferlegt hat, nicht das Werk eines Augenblicks sein kann, es wieder wachzurufen. Ich werde den Inhalt Ihrer Mittheilungen in meinem Herzen bewahren; ich muß über denselben nachdenken. Wenn ich nach reiflicher Ueberlegung von der Wahrheit Ihrer Ansichten eben so überzeugt bin wie Sie, dann sollen Sie mein letzter Apostel sein und ich werde Ihr Proselyt bis zum Tode bleiben. Fahren Sie inzwischen fort, mich zu unterrichten. Von dem, was mir zu wissen nöthig ist, haben Sie mir erst die Hälfte gesagt. Reden Sie mit mir noch über die Offenbarung, über die heilige Schrift, über jene dunklen Glaubenssätze, über welche ich mich seit meiner Kindheit im Unklaren befinde, ohne sie begreifen oder glauben zu können, und ohne zu wissen, wie weit ich sie annehmen oder verwerfen soll.

Ja, mein Sohn, erwiderte er, indem er mich umarmte; ich werde Ihnen keinen meiner Gedanken verheimlichen. Ich will Ihnen mein Herz nicht nur halb öffnen; allein der Wunsch, den Sie mir eben zu erkennen gaben, war nothwendig, um mir das Recht einzuräumen, jede Zurückhaltung Ihnen gegenüber schwinden zu lassen. Ich habe Ihnen bisher nichts mitgetheilt, wovon ich nicht glaubte, daß es Ihnen zum Nutzen gereichen könnte, und wovon ich nicht im Innersten überzeugt wäre. Mit der Untersuchung, die mir nun noch anzustellen übrig bleibt, verhält es sich freilich ganz anders. Ich sehe bei derselben nur Hindernisse, Geheimniß und Dunkelheit; nur mit Unsicherheit und Mißtrauen gehe ich an die mir gestellte Aufgabe. Mit Zittern entschließe ich mich nur dazu und werde Ihnen eher meine Zweifel als meine eigene Meinung aussprechen. Hätten Sie schon festere Ansichten, so würde ich Anstand nehmen, Sie mit den meinigen bekannt zu machen; allein in dem Zustande, in welchem Sie sich gegenwärtig befinden, wird es für Sie vorteilhaft sein, wenn Sie meine Denkweise annehmen. Das, glaube ich, könnte der wackere Vicar auch heute noch dem Publikum sagen. Räumen Sie übrigens meinen Erörterungen nur so viel Ansehen ein, als Ihre Vernunft denselben zugesteht. Ich weiß ja nicht, ob ich mich irre. Bei Auseinandersetzungen ist es schwer, einen absprechenden Ton immer zu vermeiden. Seien Sie jedoch eingedenk, daß hier alle meine Behauptungen nur Gründe zum Zweifeln sind. Suchen Sie die Wahrheit selbst, ich für mein Theil verspreche Ihnen nur volle Aufrichtigkeit.

Sie finden in meiner Darstellung nur die natürliche Religion. Es erscheint äußerst befremdend, daß wir noch einer andern bedürfen sollen. Woraus soll ich diese Nothwendigkeit erkennen? In wie fern kann ich mich schuldig machen, wenn ich Gott nach den Einsichten, mit welchen er meinen Geist ausstattet, und nach den Gefühlen, mit welchen er mein Herz beseelt, diene? Welche Reinheit der Moral, welches dem Menschen nützliche und für seinen Schöpfer ehrenvolle Dogma kann ich aus einer positiven Lehre schöpfen, welches ich nicht auch ohne dieselbe durch die richtige Anwendung meiner Anlagen mir selbst zu entwickeln im Stande wäre? Weisen Sie mir nach, was sich zur Ehre Gottes, zum Heile der Gesellschaft und zu meinem eigenen Besten noch zu den Pflichten des Naturgesetzes hinzufügen ließe, und welche Tugend wol Ihrer Ansicht nach ein neuer Cultus hervorbringen könnte, die man nicht auch mit logischer Notwendigkeit aus dem meinigen zu folgern im Stande wäre? Die erhabensten Ideen von der Gottheit verdanken wir allein der Vernunft. Betrachten Sie das Schauspiel der Natur, hören Sie auf die innere Stimme. Hat Gott nicht unseren Augen, unserem Gewissen, unserer Urtheilskraft Alles offenbart? Was vermögen uns die Menschen mehr zu sagen? Ihre Offenbarungen können nur darauf auslaufen, Gott herabzuwürdigen, indem sie ihm menschliche Leidenschaften beilegen. Statt unsere Begriffe von dem höchsten Wesen aufzuklären, verwirren, wie ich bemerke, die einzelnen Dogmen dieselben nur; statt sie zu veredeln, machen sie sie verächtlich. Ich nehme wahr, daß sie zu den unbegreiflichen Geheimnissen, welche dasselbe umgeben, noch sinnlose Widersprüche hinzufügen und den Menschen stolz, unduldsam und grausam machen, daß sie endlich, statt Frieden auf Erden herzustellen, Feuer und Schwert bringen. Ich frage mich, wozu das Alles nütze, ohne eine Antwort darauf zu finden. Ich nehme hienieden nichts als die Verbrechen der Menschen und das Elend des menschlichen Geschlechts wahr.

Man wendet mir ein, eine Offenbarung sei nöthig gewesen, um die Menschen über die Art und Weise zu belehren, in welcher Gott verehrt sein wolle; als Beweis dafür führt man die Verschiedenartigkeit der höchst seltsamen Gottesverehrungen an, welche von den Menschen eingeführt worden sind, und will nicht begreifen, daß gerade diese Mannigfaltigkeit schon eine Folge der Einbildung ist, es gebe Offenbarungen. Seitdem sich die Menschen herausgenommen haben, Gott eine Sprache zu verleihen, hat ihn Jeder auf seine Weise sprechen und sich von ihm sagen lassen, was er gewollt hat. Wenn man nur auf das gelauscht hätte, was Gott zum Herzen des Menschen redet, so würde es nur eine einzige Religion auf Erden gegeben haben.

Man bedurfte eines gleichmäßigen Gottesdienstes. Ich will es nicht bestreiten. Aber war denn dieser Umstand von solcher Wichtigkeit, daß man zu seiner Erreichung den ganzen Apparat der göttlichen Macht in Bewegung setzen mußte? Man wolle nur die äußere Form der Religion nicht mit der Religion selbst verwechseln. Gott verlangt den Dienst des Herzens, und ist dieser nur aufrichtig, so ist er stets gleichförmig. Es verräth eine sehr thörichte Eitelkeit, wenn man sich dem Wahne hingibt, Gott nehme an der Form der Kleidung des Priesters, an der Reihenfolge der von ihm vorgetragenen Worte, an den Geberden, welche er am Altar macht und an seinen Kniebeugungen ein so großes Interesse. O, mein Freund, halte dich fern von solchem Wahne! Wie hoch du dich in deiner Einbildung auch erheben mögest, du wirst doch der Erde immer nahe genug bleiben. Gott will im Geiste und in der Wahrheit angebetet werden; das ist die Pflicht aller Religionen, aller Länder, aller Menschen. Soll aber etwa um der guten Ordnung willen das Aeußere des Cultus gleichförmig sein, so ist dies lediglich eine Sache der Polizei; dazu bedarf es keiner Offenbarung.

Dies waren freilich nicht die ersten Betrachtungen, die ich anstellte. Fortgerissen von den Vorurtheilen der Erziehung und dieser gefährlichen Eigenliebe, die stets darauf ausgeht, den Menschen über seine Sphäre hinaus zu versetzen, bemühte ich mich, da sich meine schwachen Begriffe nicht bis zu dem höchsten Wesen zu erheben vermochten, es zu mir herabzuziehen. Ich suchte die unendlich entfernten Beziehungen, die es zwischen seiner und meiner Natur hergestellt hat, einander näher zu bringen. Ich wünschte unmittelbarere Mittheilungen, einen eingehenderen, mir allein ertheilten Unterricht, und nicht zufrieden damit, Gott dem Menschen ähnlich zu machen, lüstete mich, um auch unter meinen Mitmenschen einen Vorzug zu haben, nach übernatürlichen Aufschlüssen. Ich begehrte einen besonderen Gottesdienst für mich, begehrte, daß Gott mir offenbare, was er Andern nicht offenbart habe, oder für was Andere nicht dasselbe Verständniß zeigen würden, wie ich. Da ich den Punkt, bis zu welchem ich gelangt war, für den gemeinsamen Punkt hielt, von welchem alle Gläubigen ausgingen, um zu einem geläuterten Gottesdienste hindurchzudringen, so fand ich in den Dogmen der Naturreligion nur die Elemente aller Religion. Ich erwog die große Verschiedenheit unter den auf Erden herrschenden Sekten, die sich sämmtlich gegenseitig der Lüge und des Irrthums zeihen; ich fragte: In welcher ist der wahre Glaube zu finden? Jeder antwortete mir: »In der meinigen«; Jeder erklärte: »Ich und meine Glaubensgenossen denken allein recht; alle Andern befinden sich im Irrthum.« Und woher weißt du, daß deine Sekte die rechte ist? »Weil, Gott es gesagt hat.« »Alle,« sagt ein ehrlicher und gelehrter Priester, »behaupten, daß sie ihre Lehre nicht von Menschen noch von irgend einem anderen Geschöpfe, sondern von Gott erhalten haben und deshalb glauben (und Alle bedienen sich derselben Ausdrucksweise).
Aber um die Wahrheit zu sagen und ohne Schmeichelei und Heuchelei, so verhält es sich damit nicht also. Man hat die Glaubenslehren, was man auch immer sagen möge, durch menschliche Hände und Mittel erhalten. Der Beweis liegt erstlich in der Art und Weise, in welcher die Religionen in der Welt angenommen worden sind und noch täglich von einzelnen Menschen angenommen werden. Die Nation, das Land, der Ort bestimmt die Religion. Man bekennt sich zu der des Ortes, an welchem man geboren und erzogen wird. Wir werden beschnitten, getauft, sind Juden, Muhamedaner oder Christen, noch bevor wir wissen, daß wir Menschen sind. Die Religion hängt demnach nicht von unserer Wahl oder Prüfung ab. Ein fernerer Beweis liegt darin, daß das Leben und die Sitten so wenig mit der Religion übereinstimmen, und endlich spricht auch das noch dafür, daß man bei menschlichen und ganz geringfügigen Angelegenheiten gegen den Geist seiner Religion handelt.« Charron, über die Weisheit, Buch II, Kapit. 5, p. 257, herausgegeben in Bordeaux, 1601.
Dem Anscheine nach würde das aufrichtige Glaubensbekenntniß des tugendhaften Stiftlehrers von Condom von dem des savoyischen Vicars nicht sehr abweichend gewesen sein.
Und von wem weißt du, daß Gott es gesagt hat? »Von meinem Pfarrer, welcher es sicher weiß. Mein Pfarrer befiehlt mir, ich solle dies glauben, und folglich glaube ich es. Er gibt mir die Versicherung, daß Alle, welche anders sprechen als er, lügen, und deshalb höre ich nicht auf sie.«

Wie, dachte ich, ist nicht die Wahrheit eine einige? Und kann das, was bei mir wahr ist, sich bei euch als Unwahrheit herausstellen? Wenn der, welcher den rechten Weg einschlägt und der, welcher in der Irre umhergeht, dieselbe Methode verfolgen, wie kann ich dann dem Einen ein größeres Verdienst oder ein größeres Unrecht beimessen als dem Anderen? Ihre Wahl ist ein Spiel des Zufalls; sie ihnen anrechnen, würde ein Act der Unbilligkeit sein; es hieße sie dafür belohnen oder bestrafen, daß sie in diesem oder jenem Lande geboren sind. Wer sich unterfängt, die Behauptung aufzustellen, daß Gott uns einst in dieser Weise richten werde, beleidigt seine Gerechtigkeit.

Entweder sind alle Religionen gut und Gott wohlgefällig, oder, wenn er den Menschen eine besondere vorschreibt und die, welche sie nicht anerkennen, bestraft, so hat er dieselbe auch an sicheren und untrüglichen Merkmalen kenntlich gemacht, an welchen sie unterschieden und als die einzig wahre erkannt werden kann. Diese Kennzeichen finden sich zu allen Zeiten und allen Orten und sind allen Menschen, großen und kleinen, gelehrten und ungelehrten, Europäern, Indiern, Afrikanern und Wilden gleich verständlich. Gäbe es eine Religion auf Erden, die Alle, welche nicht ihre Anhänger wären, der ewigen Verdammniß überantwortete, und lebte an irgend einem Orte der Welt ein einziger Sterblicher, der aufrichtig nach Wahrheit strebte und sich trotzdem von der Richtigkeit dieser Religion nicht hätte überzeugen können, so wäre der Gott, den dieselbe lehrte, der ungerechteste und grausamste der Tyrannen.

Laßt uns deshalb aufrichtig nach der Wahrheit streben; laßt uns nichts auf das Recht der Geburt, nichts auf die Autorität der Väter und der Geistlichen geben, sondern laßt uns Alles, was sie uns von Jugend auf gelehrt haben, unserm Gewissen und unserer Vernunft zur Prüfung vorlegen. Vergeblich werden sie mir zurufen: »Gib deine Vernunft gefangen!« Ein Gleiches kann auch der von mir verlangen, welcher mich täuscht. Ich bedarf der Vernunftgründe, um meine Vernunft gefangen zu geben.

Alle Gotteserkenntniß, die ich mir durch Betrachtung des Weltalls und durch eine richtige Anwendung meiner Seelenkräfte selbst zu erwerben vermag, beschränkt sich auf das, was ich Ihnen so eben auseinandergesetzt habe. Wer nach höherem Wissen verlangt, muß zu außerordentlichen Mitteln seine Zuflucht nehmen. Als ein solches Mittel kann aber menschliche Autorität nicht gelten; denn da kein Mensch einer anderen Gattung als ich selbst angehört, so vermag ich Alles, was ein Mensch auf natürlichem Wege zu erkennen im Stande ist, gleichfalls zu erkennen, und ein anderer Mensch ist eben so gut Irrthümern unterworfen als ich. Glaube ich, was derselbe sagt, so geschieht es nicht seiner Behauptung, sondern seines Beweises wegen. Folglich ist im Grunde genommen das Zeugniß der Menschen nur das meiner eigenen Vernunft und gibt mir nicht mehr Aufschlüsse als die natürlichen Mittel, welche mir Gott zur Erkenntniß der Wahrheit gegeben hat.


 << zurück weiter >>