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Noch ungeübt gegen sich selbst anzukämpfen, noch ungewohnt, das Eine zu ersehnen und das Andere zu wollen, ergibt sich der junge Mann nicht sogleich. Er leistet Widerstand, er führt Gegengründe an. Weshalb sollte er dem Glücke entsagen, welches seiner wartet? Läge nicht in der Zögerung, die ihm dargebotene Hand anzunehmen, eine Verschmähung derselben? Wäre es denn wirklich eine absolute Notwendigkeit, sich von ihr zu trennen, um sich das anzueignen, was ihm noch zu wissen nöthig wäre? Und selbst dies zugestanden, weshalb sollte er ihr nicht in unlöslichen Banden das sichere Unterpfand seiner Rückkehr lassen? Sobald er erst ihr Gatte wäre, würde er sofort bereit sein, mir zu folgen. Nach ihrer Vereinigung könnte er sie ohne Furcht verlassen .... »Euch zum Zwecke eurer Trennung vereinigen, lieber Emil? Was für ein Widerspruch! Es ist schön, wenn ein Geliebter ohne seine Geliebte zu leben vermag, aber ein Gatte darf sein Weib nie ohne Noth verlassen. Sollen deine Bedenklichkeiten beseitigt werden, so muß der Aufschub deiner Ehe, wie ich mich jetzt überzeuge, nicht von dir ausgehen. Du mußt deiner Sophie sagen können, daß du sie nur gezwungen verläßt. Nun gut, gib dich zufrieden! Da du der Vernunft nicht gehorchen willst, so erkenne nun einen anderen Herrn an. Du hast gewiß nicht die Verpflichtung vergessen, die du mir gegenüber eingegangen bist. Emil, du mußt Sophie verlassen. Ich will es.«

Bei diesem Worte senkt er den Kopf, bleibt stumm, hängt einen Augenblick seinen Gedanken nach und sagt darauf, indem er mich vertrauensvoll anblickt: »Wann reisen wir ab?« – »In acht Tagen,« entgegne ich, »denn wir müssen Sophie erst auf unsere Abreise vorbereiten. Die Frauen sind schwächer, weshalb man ihnen schonende Rücksicht schuldig ist, und da die Pflicht nicht von ihr wie von dir diese Trennung erfordert, so darf sie dieselbe weniger muthig ertragen.«

Ich kann kaum der Versuchung widerstehen, das Tagebuch der Liebe dieser beiden jungen Leute bis zu ihrer Trennung fortzusetzen. Da ich indeß die Nachsicht der Leser schon lange genug mißbrauche, so will ich, um dieser Episode einmal ein Ende zu machen, mich kurz fassen. Wird Emil es wagen, zu den Füßen seiner Geliebten dieselbe Sicherheit zur Schau zu tragen, die er so eben seinem Freunde gegenüber bewiesen hat? Ich für meinen Theil halte mich davon überzeugt. Die Aufrichtigkeit seiner Liebe selbst muß ihm diese Sicherheit verleihen. Wäre diese Trennung von ihr ein weniger schweres Opfer für ihn, so würde er verlegener sein. Er würde sich beim Abschiede schuldbewußt fühlen, und dies Gefühl versetzt ein redliches Herz stets in Verlegenheit. Je größer aber das Opfer ist, welches er bringt, desto mehr gereicht es ihm in den Augen derjenigen zur Ehre, die es ihm so schwer macht. Er hegt keine Besorgniß, daß sie sich über den Beweggrund, von dem er sich leiten läßt, einer Täuschung hingibt. Er scheint ihr mit jedem Blicke zu sagen: »O Sophie, lies in meinem Herzen und bleibe mir treu; dein Geliebter ist nicht gewissenlos.«

Die muthige Sophie ihrerseits sucht den Schlag, der sie so unversehens trifft, mit Würde zu tragen. Sie strengt sich an, gegen denselben unempfindlich zu erscheinen. Da ihr aber nicht, wie Emil, neben der Ehre des Kampfes auch noch die des Sieges zu Theil wird, so vermag sie ihre Festigkeit nicht lange zu bewahren. Wie sehr sie sich auch zusammen nimmt, bricht sie doch in Thränen und Seufzen aus, und die Angst, daß Emil sie vergessen könnte, verschärft den Schmerz der Trennung. Zwar weint sie nicht in Gegenwart ihres Geliebten, zeigt sie an seiner Seite nicht ihre Angst; nein, eher würde sie ersticken, als daß sie sich in seiner Gesellschaft auch nur einen einzigen Seufzer entschlüpfen ließe. Aber mir schüttet sie ihre Klagen aus, ich darf ihre Thränen fließen sehen, ich bin es, den sie sich dem Anscheine nach zum Vertrauten wählt. Die Frauen sind gewandt und wissen sich zu verstellen. Je heftiger sie im Geheimen über meine Tyrannei murrt, mit desto größerer Aufmerksamkeit kommt sie mir entgegen. Sie ist sich dessen bewußt, daß ihr Schicksal in meinen Händen liegt.

Ich tröste sie, spreche ihr Muth ein und bürge ihr für ihren Geliebten oder vielmehr für ihren Gemahl, denn ich schwöre es ihr zu, daß er dies in zwei Jahren sein wird, wenn sie nur mit eben solcher Treue an ihm hange, wie er an ihr. Sie hegt eine viel zu hohe Achtung vor mir, um glauben zu können, daß ich darauf ausgehe, sie zu täuschen. Ich verbürge mich bei Jedem von Beiden für den Andern. Ihre Herzen, ihre Tugend, meine Rechtschaffenheit, das Vertrauen ihrer Eltern, Alles beruhigt sie wieder allmählich. Aber wie wenig vermag die Vernunft wider die Schwäche! Sie scheiden von einander, als wäre es eine Trennung auf Nimmerwiedersehen.

Nun fällt Sophie der Kummer der Eucharis ein und sie träumt sich lebhaft an ihre Stelle. Verhüten wir jedoch, daß während unserer Abwesenheit jene phantastische Liebe wieder erwache. »Sophie,« sage ich deshalb eines Tages zu ihr, »tauschen Sie und Emil ihre Lieblingsbücher aus. Geben Sie ihm Ihren Telemach, damit er ihm ähnlich zu werden lerne, Sie aber mögen sich von ihm seinen Beobachter Die bekannte von Addison und Steele unter dem Namen Spectator in England herausgegebene Zeitschrift. geben lassen, in welchem Sie so gern lesen. Machen Sie sich aus demselben mit den Pflichten eines ehrbaren Weibes vertraut und seien Sie dessen eingedenk, daß diese Pflichten in zwei Jahren die Ihrigen sein werden.« Dieser Tausch findet Beider Beifall und erfüllt sie mit Vertrauen. Endlich erscheint der traurige Tag des Scheidens.

Sophiens würdiger Vater, mit dem ich Alles ausführlich besprochen habe, umarmt mich, als ich von ihm Abschied nehme. Darauf nimmt er mich bei Seite und sagt in ernstem und nachdrucksvollem Tone: »Ich bin in allen Stücken Ihrem Wunsche nachgekommen, denn ich wußte, daß ich es mit einem Ehrenmanne zu thun hatte. Jetzt brauche ich Ihnen nur noch ein Wort zu sagen: Vergessen Sie nicht, daß Ihr Zögling seinen Ehecontract auf dem Munde meiner Tochter besiegelt hat.«

Wie abweichend ist das Benehmen der beiden Liebenden! Emil, der heftig, feurig, aufgeregt und außer sich ist, schreit laut auf, benetzt die Hände des Vaters, der Mutter, der Tochter mit Strömen von Thränen, umarmt schluchzend alle Hausgenossen und wiederholt mit einer Verwirrung, die bei jeder andern Gelegenheit ein unwillkürliches Lächeln hervorrufen würde, tausendmal dasselbe; während Sophie, niedergeschlagen, bleich, mit traurigem Auge und trübem Blicke ruhig bleibt, kein Wort spricht, keine Thräne vergießt und Niemanden, nicht einmal Emil, anblickt. Obwol er ihre Hände ergreift und sie an sein Herz drückt, bleibt sie unbeweglich, unempfindlich für seine Thränen, unempfindlich auch für seine Liebkosungen und für Alles, was er thut. Für sie ist er schon geschieden. Wie viel rührender ist der sich darin aussprechende tiefe Kummer als das ungestüme Klagegeschrei und der lärmende Schmerz ihres Geliebten. Er sieht und fühlt es, es zerreißt ihm das Herz. Nur mit Mühe vermag ich ihn von ihr loszureißen. Zögere ich nur noch einen Augenblick, so fehlt es ihm an Kraft zu scheiden. Ich bin aufrichtig erfreut, daß er den Eindruck dieses traurigen Bildes mit sich nimmt. Sollte er sich je versucht fühlen zu vergessen, was er Sophie schuldig ist, so brauche ich ihn nur an ihr Bild im Augenblicke des Abschiedes zu erinnern: und sein Herz müßte schon ganz entartet sein, wenn es mir nicht gelingen sollte, ihn wieder zu ihr zurückzuführen.

Reisen.

Man wirft die Frage auf, ob es für junge Leute gut sei zu reisen und streitet viel darüber. Würde man die Frage etwas anders stellen, etwa so, ob es gut sei, daß Männer gereist sind, so würde man vielleicht nicht so viel streiten.

Der Mißbrauch, den man mit den Büchern treibt, ertödtet die Wissenschaft. Da man sich das, was man gelesen hat, zu wissen einbildet, so glaubt man der Anstrengung, es erst zu lernen, überhoben zu sein. Eine zu große Belesenheit erzeugt nur zu oft dünkelhafte Unwissenheit. Unter allen Jahrhunderten, in welchen man literarische Bildung pflegte, hat es kein einziges gegeben, in welchem man so viel las wie in dem gegenwärtigen, und kein einziges, in welchem man weniger Anspruch auf Gelehrsamkeit machen kann. Cf. Montaigne, liv. I, chap. XXV. In keinem Lande Europas werden so viel Geschichtswerke und Reisebeschreibungen gedruckt wie in Frankreich, und trotzdem kennt man in keinem den Geist und die Sitten anderer Völker weniger als hier. Ueber dieser Menge von Büchern vernachlässigen wir das Buch der Welt, oder lesen wir noch darin, so hält sich Jeder an sein besonderes Blatt. Wenn mir die sprichwörtliche Redensart: »Kann man ein Perser sein« auch unbekannt wäre, so würde ich doch beim bloßen Anhören derselben sofort errathen, daß sie aus dem Lande stammt, in welchem sich die nationalen Vorurtheile am meisten der Herrschaft bemächtigt haben, und von dem Geschlechte, welches zu ihrer Verbreitung am meisten beiträgt. Ein Pariser wähnt die Menschen zu kennen, während er doch nur die Franzosen kennt. Obgleich seine Stadt fortwährend von Fremden wimmelt, betrachtet er doch jeden derselben als eine ganz ungewöhnliche Erscheinung, der in der ganzen Welt nichts Gleiches an die Seite gestellt werden kann. Man muß die Bürger dieser großen Stadt aus der Nähe gesehen, muß in ihrer Mitte gelebt haben, um es begreiflich zu finden, daß man bei so vielem Geiste einen so hohen Grad von Dummheit besitzen kann. Es ist dies um so auffallender, als Jeder von ihnen vielleicht schon zehnmal die Beschreibung des Landes gelesen hat, dessen Bewohner ihm hier ein so großartiges Erstaunen abnöthigen. Cf. Montaigne, liv. III, chap. IX.

Es heißt zu viel von uns verlangt, wenn wir, um die Wahrheit aufzufinden, uns zugleich über die Vorurtheile der Schriftsteller wie über unsere eigenen klar werden sollen. Ich habe viel Reisebeschreibungen in meinem Leben gelesen, habe aber noch nicht zwei gefunden, welche in mir dieselbe Idee von dem nämlichen Volke erweckt hätten. Als ich das Wenige, welches mir selbst zu beobachten möglich war, mit dem verglich, was ich gelesen hatte, hörte ich schließlich auf, mich ferner um Reisebeschreibungen zu bekümmern, und bedauerte aufrichtig die Zeit, die ich zu meiner Belehrung auf ihre Lectüre verwandt hatte, da ich der festen Ueberzeugung war, daß, will man Beobachtungen irgend welcher Art machen, man nicht lesen, sondern sehen muß. Selbst wenn alle Reisende aufrichtig wären, wenn sie nichts berichteten, als was sie mit eigenen Augen gesehen oder was sie für vollkommen wahr halten, und wenn sie die Wahrheit nur in den falschen Farben wiedergäben, welche dieselbe in ihren Augen annimmt, selbst dann schon hätte meine obige Behauptung ihren vollen Grund; um wie viel mehr aber erst, wenn man die Wahrheit noch aus ihren Lügen und absichtlichen Verdrehungen herausfinden muß.

Wir wollen deshalb die Bücher, welche man uns als ein so vortreffliches Hilfsmittel anpreist, denen überlassen, deren geistige Fähigkeit in ihnen Befriedigung findet. Dieses Hilfsmittel dient, wie die Kunst des Raymond Lullus, Raymond Lullus, geboren auf Mallorca im Jahre 1234, hatte den Beinamen »der Erleuchtete« erhalten und stand in seinem Zeitalter im Rufe eines Universalgenies. Er hat über alle mögliche Wissenschaften Abhandlungen geschrieben, deren Styl und Ideengang des Zeitalters, in dem er lebte, würdig sind. Anmerk. des Herrn Petitain. nur dazu, über Dinge, von denen man nichts versteht, schwatzen zu lernen, dient zur Abrichtung fünfzehnjähriger Platos, dient sie in den Stand zu setzen, in Vereinen philosophische Vorträge zu halten und eine Gesellschaft auf Grund der Berichte eines Paul Lucas oder eines Tavernier Beide waren im 17. Jahrhundert angesehene französische Reisende. über die Sitten der Aegypter und Inder zu unterrichten.

Für mich gilt es als eine ausgemachte Wahrheit, daß derjenige, welcher nur mit einem einzigen Volke bekannt ist, nicht die Menschen im Allgemeinen, sondern nur die Leute kennt, unter denen er gelebt hat. Danach könnte die Frage in Bezug auf den Nutzen des Reisens auch noch eine andere Fassung erhalten, nämlich: Ist es für einen Mann von guter Erziehung ausreichend, nur seine Landsleute zu kennen, oder ist es für ihn von Wichtigkeit, sich allgemeine Menschenkenntniß zu erwerben? Darüber kann kein Streit noch Zweifel herrschen. Hieraus läßt sich erkennen, wie viel bei der Lösung einer schwierigen Frage von der Fassung derselben abhängt.

Muß man nun aber, um die Menschen zu studiren, die ganze Erde durchstreifen? Muß man, um die Europäer zu beobachten, nach Japan gehen? Muß man sämmtliche Individuen kennen, um das Geschlecht kennen zu lernen? Sicherlich nicht. Es gibt Menschen, die sich so ähnlich sehen, daß es nicht der Mühe werth ist, sie einzeln zu studiren. Wer zehn Franzosen gesehen hat, der hat Alle gesehen. Kann man nun auch dies von den Engländern und einigen andern Völkern nicht mit eben solcher Bestimmtheit behaupten, so steht doch so viel fest, daß jede Nation ihren besonderen und eigentümlichen Charakter hat, der nicht durch die Beobachtung eines einzelnen, wol aber durch die mehrerer ihrer Glieder durch einfache Schlußfolgerung gefunden werden kann. Wer zehn Völker mit einander verglichen hat, kennt die Völker, wie der, welcher mit zehn Franzosen Umgang gehabt hat, die Franzosen kennt.

Ein oberflächliches Durchstreifen der Länder reicht nun aber zur Belehrung noch nicht hin; man muß zu reisen verstehen. Zum Beobachten muß man Augen haben und sie auf den Gegenstand richten, welchen man kennen zu lernen wünscht. Viele Leute lernen auf ihren Reisen noch weniger als aus ihren Büchern, weil ihnen die Kunst zu denken fremd ist, und weil bei der Lectüre ihr Geist wenigstens der Leitung des Schriftstellers folgt, während es ihnen auf ihren Reisen an der Fähigkeit fehlt, selbst Beobachtungen anzustellen. Andere unterrichten sich einfach deshalb nicht, weil sie nicht Lust haben, sich zu unterrichten. Ihr Zweck ist ein so verschiedener, daß sich jener ihrem Gesichtskreise völlig entzieht. Es ist ein großer Zufall, wenn man das, dessen Anblick Einem gleichgültig ist, genau sieht. Von allen Völkern der Erde reisen die Franzosen am meisten, aber durchdrungen von der Vortrefflichkeit ihrer eigenen Sitten, verwechseln sie Alles, was diesen nicht gleicht. In allen Winkeln der Erde finden sich Franzosen. Kein Land kann mehr Leute aufweisen, die Reisen unternommen haben, als Frankreich. Und trotzdem kennt unter allen Völkern Europas gerade dasjenige, welches die übrigen am häufigsten besucht hat, sie am allerwenigsten. Auch die Engländer reisen, aber auf andere Weise. Diese beiden Völker müssen in jeder Beziehung einen Gegensatz bilden. Bei den Engländern reist der Adel, bei den Franzosen reist er nicht. In Bezug auf das Volk findet das umgekehrte Verhältniß statt. Dieser Unterschied scheint mir für die Engländer ehrenvoll. Die Franzosen lassen sich bei ihren Reisen fast immer von einem bestimmten Interesse leiten, während die Engländer ihr Glück nie bei andern Nationen suchen, es geschehe denn auf dem Wege des Handels oder vermittelst voller Hände. Der Zweck ihres Reisens ist ihr Geld auszugeben, nicht ihren Unterhalt zu suchen. Sie sind zu stolz, um in der Fremde in Niedrigkeit zu leben. Hierin liegt auch der Grund, daß sie in fremden Ländern mehr lernen als die Franzosen, welche sich mit ganz andern Plänen tragen. Gleichwol haben die Engländer ebenfalls ihre nationalen Vorurtheile, ja sie haben deren sogar mehr als irgend ein anderes Volk, allein diese Vorurtheile beruhen weniger auf Unwissenheit, als auf einer gewissen Manie. Die Vorurtheile des Engländers stammen aus seinem Stolze, die des Franzosen aus seiner Eitelkeit.

Wie die Völker, welche auf einer weniger hohen Culturstufe stehen, im Allgemeinen die vernünftigsten sind, so pflegen auch diejenigen, unter welchen am seltensten Reisen vorkommen, dafür am besten zu reisen. Da sie in unsern nichtigen Forschungen geringere Fortschritte gemacht und sich von den Gegenständen unserer eitlen Wißbegierde weniger haben einnehmen lassen, so wenden sie dem, was in Wahrheit nützlich ist, ihre ganze Aufmerksamkeit zu. Ich kenne nur die Spanier, welche auf diese Weise reisen. Während ein Franzose von einem Künstler des Landes zum andern läuft, ein Engländer Antiken abzeichnen läßt und ein Deutscher allen Gelehrten sein Album vorlegt, studirt der Spanier im Stillen die Regierungsart, die Sitten, die Staatsverwaltung und ist unter den Vieren der Einzige, welcher bei seiner Heimkunft von dem, was er gesehen hat, irgend eine Beobachtung, die seinem Vaterlande nützlich werden kann, mitbringt.

Die Alten reisten wenig, lasen wenig, schrieben wenig Bücher, und trotzdem ist man an dem, was uns von ihnen übrig ist, noch zu erkennen im Stande, daß sie einander besser beobachteten, als wir unsere Zeitgenossen beobachten. Ohne bis auf Homer, den einzigen Dichter, der uns völlig in das Land versetzt, von dem er uns eine Beschreibung liefert, zurückzugehen, so muß man doch dem Herodot die Ehre zuerkennen, daß er uns in seiner Geschichte, obgleich sie mehr Erzählungen als Reflexionen enthält, die Sitten besser als alle unsere Geschichtsschreiber geschildert hat, die ihre Werke mit Beschreibungen, Charakteristiken förmlich überladen. Tacitus hat die Deutschen seiner Zeit besser gezeichnet, als irgend ein Schriftsteller die heutigen Deutschen gezeichnet hat. Unstreitig kennen diejenigen, welche in der alten Geschichte bewandert sind, die Griechen, Karthager, Römer, Gallier und Perser besser, als irgend ein Volk in der Gegenwart seine Nachbarn kennt.

Hierbei muß man nun freilich einräumen, daß sich der ursprüngliche Charakter der Völker von Tage zu Tage mehr verwischt und sich aus diesem Grunde auch schwerer verstehen läßt. In dem Maße, in welchem die Volksstämme sich vermischen und die Völker mit einander verschmelzen, sieht man die Volksunterschiede, welche sonst beim ersten Blicke auffielen, nach und nach verschwinden. Ehemals blieb jede Nation mehr in sich selbst abgeschlossen. Der Verkehr war weniger ausgebildet, es fanden nicht so viele Reisen statt, man hatte weniger gemeinsame oder entgegengesetzte Interessen, die politischen und gesellschaftlichen Verbindungen zwischen Volk und Volk waren nicht so zahlreich und man wußte nichts von jenen königlichen Aufhetzereien, Unterhandlungen genannt, so wie von ordentlichen Gesandten oder Ministerresidenten. Weite Seefahrten kamen selten vor; es gab wenig Handel nach fernen Gegenden, und der unbedeutende Handel, den es überhaupt gab, wurde entweder von dem Fürsten selber getrieben, der sich dazu Fremder bediente, oder von verachteten Persönlichkeiten, die völlig einflußlos waren und zu der gegenseitigen Annäherung der Völker nichts beizutragen vermochten. Heut zu Tage ist der Verkehr zwischen Europa und Asien hundertmal stärker als er ehedem zwischen Gallien und Spanien war. Europa allein war unter sich unzusammenhängender als in unseren Tagen die ganze Erde.

Dazu wolle man noch ferner berücksichtigen, daß sich die alten Völker meistens als Ureinwohner oder aus ihrem eigenen Lande herstammend betrachteten, da sie es lange genug in Besitz hatten, um das Andenken an die längst verflossenen Jahrhunderte, in welchen sich ihre Vorfahren in demselben niederließen, vergessen zu können und dem Klima die nöthige Zeit zu gewähren, bleibende Spuren an ihnen zurückzulassen; während unter uns erst die Einfälle der Römer und darauf die noch im frischen Andenken stehenden Einwanderungen der Barbaren Alles untermischt, alles Ursprüngliche vernichtet haben. Die heutigen Franzosen sind nicht mehr von so großem Körperbau und so blond und flachshaarig wie ihre Väter. Die Griechen sind nicht mehr jene schönen Menschen, geschaffen, der Kunst als Vorbilder zu dienen. Sogar die Gestalt der Römer hat eben so wie ihre Natur ihren Charakter geändert. Die Perser, die eigentlichen Ureinwohner der Tartarei, verlieren in Folge ihrer Vermischung mit tscherkessischem Blute mit jedem Tage von ihrer ursprünglichen Häßlichkeit. Die Europäer sind keine Gallier, Germanen, Iberier, Allobroger mehr. Sie sind sämmtlich, was ihre Gestalt und noch mehr was ihre Sitten anlangt, nur verschieden ausgeartete Skythen.

Deshalb ließen auch die alten Rassenunterschiede, die Beschaffenheit der Luft und des Bodens ehemals das Temperament, die Gestalt, die Sitten und Charaktere der einzelnen Völker ungleich schärfer hervortreten, als dies in unseren Tagen der Fall ist, in welchen die europäische Unbeständigkeit keiner natürlichen Ursache Zeit läßt, eine Einwirkung auszuüben, und in welchen die Abholzung der Wälder, die Austrocknung der Sümpfe so wie die gleichmäßigere, obgleich schlechtere Bewirthschaftung des Bodens selbst in physischer Beziehung keine bemerkbare Verschiedenheit des Bodens und der Länder übrig lassen.

Dergleichen Erwägungen sollten wol Ursache genug sein, daß man sich nicht so sehr beeilte, einen Herodot, Ktesias und Plinius deshalb lächerlich zu finden, weil sie die Bewohner verschiedener Länder mit Originalzügen und mit stark ausgeprägten Unterschieden darstellen, die wir an ihnen nicht mehr entdecken können. Um in ihnen dieselben Gestalten wiederzuerkennen, müßte man auch dieselben Menschen wiederfinden; damit sie sich aber immer gleich geblieben wären, hätte auch nichts sie verändern dürfen. Könnten wir alle Menschen, die je gelebt haben, auf einmal überschauen, würde es dann wol einem Zweifel unterliegen, daß wir an ihnen von einem Jahrhundert zum andern größere Unterschiede finden würden, als wir heut zu Tage zwischen den einzelnen Völkern wahrnehmen?

Je schwieriger nun die Beobachtungen werden, desto nachlässiger und unzulänglicher werden sie angestellt; hierin liegt ein weiterer Grund zu dem geringem Erfolge unserer Forschungen in der Naturgeschichte des Menschengeschlechts. Die Belehrung, welche Reisen gewähren, wird von dem Reisezwecke bedingt. Ist dieser Zweck auf ein philosophisches System gerichtet, so sieht der Reisende nie etwas Anderes als das, was er sehen will. Handelt es sich dagegen um einen äußeren Gewinn, so nimmt er die Aufmerksamkeit derer, die nach ihm jagen, völlig in Anspruch. Der Handel und die Künste, welche die Völker in die innigste Berührung bringen und mit einander verschmelzen, hindern sie indeß auch, sich gegenseitig zu studiren. Kennen sie einmal den Vortheil, welchen ihnen ihr Verkehr abwirft, was brauchen sie dann noch mehr zu wissen?

Es gereicht dem Menschen zum wesentlichen Nutzen, alle die Gegenden kennen zu lernen, in denen man leben kann, um im Stande zu sein, sich später diejenige auszuwählen, in der es sich am angenehmsten leben läßt. Wäre sich Jeder selbst genug, so wäre es ausreichend, wenn er den Umfang des Landes kennt, welches ihn zu ernähren vermag. Der Wilde, der Niemandes bedarf und nach nichts in der ganzen Welt Begehren trägt, kennt kein anderes Land als das seinige und sucht auch kein anderes kennen zu lernen. Sieht er sich um seiner Existenz willen genöthigt, sein Besitzthum zu erweitern, so flieht er die von Menschen bewohnten Gegenden; sein Verlangen ist nur auf Thiere gerichtet, weil er ihrer allein zu seinem Unterhalte bedarf. Was uns dagegen anlangt, denen das gesellschaftliche Leben zur Nothwendigkeit geworden ist und die wir eine Lust darin finden, uns gegenseitig verbluten zu lassen, so erheischt es das Interesse eines Jeden von uns, diejenigen Länder zu besuchen, in denen die meisten Menschen dicht bei einander wohnen. Deshalb strömt Alles nach Rom, Paris und London. In den Hauptstädten verkauft sich Menschenblut stets am billigsten. Auf diese Weise lernt man nur die großen Völker kennen, und die großen Völker gleichen sich alle unter einander.

»Allein,« wendet man ein, »wir haben doch Gelehrte, die zu ihrer Belehrung Reisen unternehmen.« Das ist ein Irrthum. Die Gelehrten reisen wie alle Uebrige des Interesses wegen. Die Plato und Pythagoras sind ausgestorben, oder wenn es Solche gibt, halten sie sich weit von uns entfernt auf. Unsere Gelehrte reisen nur auf Befehl des Hofes. Man sendet sie aus, übernimmt die Kosten und gewährt ihnen außerdem ein reichliches Honorar, um diesen oder jenen Gegenstand in Augenschein zu nehmen, der ganz gewiß kein moralischer ist. Ihre ganze Zeit wird ausschließlich von diesem einzigen Gegenstande in Anspruch genommen, da sie viel zu rechtschaffene Leute sind, um ihr Geld zu stehlen. Wenn aber je in irgend einem Lande Wißbegierige auf eigene Kosten reisen, so geschieht dies doch nie in der Absicht, die Menschen zu studiren, sondern vielmehr sie zu belehren. Nicht um eine Vermehrung ihrer eigenen Gelehrsamkeit ist es ihnen zu thun, sondern um ein prahlerisches Auskramen derselben. Wie sollten sie also auf ihren Reisen das Joch der Meinung abschütteln lernen? Sie reisen ja nur, um ihr zu fröhnen.

Es ist ein großer Unterschied, ob man reist, um Länder zu sehen, oder um Völker kennen zu lernen. Den ersten Zweck verfolgen stets die Neugierigen, von denen der andere als Nebensache betrachtet wird. Der Philosoph muß den umgekehrten Weg einschlagen. Ehe das Kind im Stande ist, die Menschen zu beobachten, beobachtet es die Dinge. Der Mann muß dagegen zuerst seine Mitmenschen beobachten; bleibt ihm dann noch Zeit übrig, mag er auch für die Dinge ein Auge haben.

Daraus aber, daß wir gewöhnlich ohne Vortheil reisen, nun schließen wollen, daß die Reisen überhaupt unnütz seien, hieße einen Trugschluß machen. Folgt aber schon daraus, daß der Nutzen des Reisens zugestanden werden muß, daß es Jedem anzurathen ist? Weit gefehlt; es werden im Gegentheil nur sehr wenige Menschen daraus Nutzen ziehen. Es ist nur denen vorteilhaft, welche in sich selbst Festigkeit genug besitzen, die Lehren des Irrthums anzuhören, ohne von ihnen verführt zu werden, und das Beispiel des Lasters anzuschauen, ohne sich von demselben fortreißen zu lassen. Die Reisen bieten einen Anstoß, seinen Neigungen nachzugeben, und vollenden den Menschen im Guten wie im Bösen. Bei der Heimkehr von seinen Reisen ist Jeder so, wie er sein ganzes Leben hindurch bleiben wird. Es kehren nun weit mehr Schlechte als Gute zurück, weil bei der Abreise weit mehr zum Schlechten als zum Guten geneigt sind. Junge Männer, die eine schlechte Erziehung genossen haben und unter einer schlechten Leitung stehen, nehmen auf ihren Reisen alle Laster der Völker an, welche sie besuchen, aber keine einzige der Tugenden, die sich neben diesen Lastern bei ihnen finden, während diejenigen, welche mit glücklichen Naturanlagen ausgestattet sind, diejenigen, deren guter Charakter sorgfältig entwickelt ist, und die in der That mit der aufrichtigen Absicht reisen, sich zu belehren, sämmtlich besser und weiser zurückkehren, als sie bei ihrer Abreise waren. So wird mein Emil reisen. So war auch jener eines besseren Jahrhunderts würdige junge Mann gereist, dessen Verdienste das erstaunte Europa bewunderte, der in der Blüte seiner Jahre für sein Vaterland starb, der aber fortzuleben verdiente und dessen nur mit feinen Tugenden geschmücktem Grabe die Ehre zu Theil werden sollte, daß eine fremde Hand es mit Blumen bestreute. Nach Petitain soll dieser junge Mann der hochbegabte Graf von Gisors gewesen sein, der in Folge einer in der Schlacht bei Crefeld im Jahre 1758 erhaltenen Wunde in seinem siebenundzwanzigsten Lebensjahre nach kurzem Krankenlager allgemein betrauert starb.

Alles, was aus bestimmten Beweggründen geschieht, muß seine Regeln haben. Wenn die Reisen als ein Theil der Erziehung gelten sollen, müssen sie ebenfalls an besondere Regeln geknüpft sein. Reisen, nur um zu reisen, heißt umherschweifen, heißt sich umhertreiben. Mit dem Ausdrucke »Reisen zum Zwecke der Belehrung« läßt sich auch nur ein unbestimmter Begriff verbinden. Der Unterricht, der nicht einen bestimmten Zweck hat, ist werthlos. Ich wünschte in dem jungen Manne ein fühlbares Interesse zu erregen, sich zu unterrichten, und dieses richtig gewählte Interesse würde auch noch auf die Natur des Unterrichts bestimmend einwirken. Das ist beständig die Folge der Methode, die ich mich in Ausführung zu bringen bemühe.

Nachdem sich Emil nach seinen physischen Beziehungen zu den andern Wesen so wie nach seinen moralischen Beziehungen zu seinen Mitmenschen kennen gelernt hat, bleibt ihm nur noch übrig, sich auch über seine socialen Beziehungen zu seinen Mitbürgern zu belehren. Zu diesem Zwecke muß er zuerst das Wesen der Regierung im Allgemeinen, ferner die verschiedenen Regierungsformen und endlich die besondere Regierung, unter welcher er geboren ist, studiren, um zu erkennen, ob sie so angemessen für ihn ist, daß er auch weiter unter ihr leben kann. Denn nach einem unumstößlichen Rechte darf Jeder, sobald er mündig und sein eigener Herr geworden ist, sich von dem Vertrage, der ihn zu einem Gliede des Staates macht, lossagen, indem er das Land verläßt, welches jener in Besitz hat. Nur aus dem Aufenthalte, welchen er nach seinem Eintritt in das Alter der Vernunft in demselben nimmt, läßt sich der Schluß ziehen, daß er stillschweigend auf die Verpflichtung eingegangen ist, welche seine Vorfahren übernommen haben. Er erlangt das Recht, eben so wol seinem Vaterlande wie dem Erbe seines Vaters zu entsagen; ja, da der Geburtsort eine Gabe der Natur ist, so verzichtet er dadurch auch gleichzeitig auf das Erbe dieser. Nach dem strengen Rechte bleibt jeder Mensch, wo er auch immer geboren sein möge, auf seine eigene Gefahr frei, falls er sich nicht freiwillig den Gesetzen unterwirft, um sich dadurch das Anrecht auf ihren Schutz zu sichern.

Ich würde also zum Beispiel zu ihm sagen: »Bis jetzt hast du unter meiner Leitung gelebt, da du außer Stande warst, dich selbst zu regieren. Allein du näherst dich nun dem Alter, in welchem dich die Gesetze dadurch, daß sie dir die Verfügung über dein Vermögen gestatten, zum Herrn deiner Person machen. Bald wirst du dich in der Gesellschaft allein fühlen, abhängig von Allem, sogar von deinem Erbe. Du trägst dich mit der Absicht, dir eine Lebensgefährtin zu nehmen, und diese Absicht ist lobenswerth; ihre Durchführung gehört zu den Pflichten des Mannes. Ehe du dich aber verheirathest, mußt du darüber ins Klare gekommen sein, was für ein Mann du sein willst, womit du dein Leben zuzubringen gedenkst, was für Maßregeln du ergreifen willst, um dir und deiner Familie Brod zu sichern; denn darf diese Sorge auch nicht zur Hauptsache gemacht werden, so muß man gleichwol einmal daran denken. Willst du dich in die Abhängigkeit von Menschen begeben, die du verachtest? Willst du die Befestigung deines Glückes und die Sicherung deiner ganzen Lage in gesellschaftlichen Verhältnissen suchen, die dich unaufhörlich dem Belieben Anderer Preis geben und dich nöthigen, um nur den Schelmen zu entgehen, selbst ein Schelm zu werden?«

Darauf werde ich ihm alle mögliche Mittel angeben, sein Vermögen vorteilhaft anzulegen, sei es, daß er sich dem Handel oder dem Staatsdienste widmet, sei es, daß er sich an financiellen Unternehmungen betheiligt. Ich werde ihm den Nachweis führen, daß es nicht ein einziges gibt, welches nicht mit Gefahren für ihn verknüpft ist, nicht ein einziges, welches ihn nicht in eine unsichere und abhängige Lage versetzt und ihn nicht zwingt, seine Sitten, seine Gefühle, sein Benehmen dem Beispiele und den Vorurtheilen Anderer anzubequemen.

»Es gibt,« werde ich zu ihm sagen, »freilich noch ein anderes Mittel, seine Zeit und seine Person zu verwenden, nämlich in Kriegsdienste zu treten, d. h. sich für einen geringen Lohn anwerben zu lassen, um Leute zu tödten, die Einem nie etwas zu Leide gethan haben. Dieses Handwerk steht unter den Menschen in großem Ansehen und man schätzt diejenigen außerordentlich hoch, welche nur dazu gut sind. Außerdem bist du dadurch nicht etwa anderer Hilfsmittel überhoben, sondern erst recht auf dieselben angewiesen, denn die Ehre dieses Standes erfordert es, diejenigen zu Grunde zu richten, welche sich ihm widmen. Allerdings gehen nicht Alle unter. Es scheint sogar unmerklich Mode zu werden, daß man sich in diesem Stande eben so wie in den übrigen bereichert. Wenn ich dir jedoch erklären wollte, wie sie es anstellen, um dieses Ziel zu erreichen, so bezweifle ich, daß du dadurch Lust erhieltest, ihrem Beispiele zu folgen.«

»Du wirst dich außerdem überzeugen, daß es bei diesem Handwerke nicht einmal auf Muth oder persönlichen Werth ankömmt, wenn nicht etwa den Frauen gegenüber, sondern daß im Gegentheile der Kriechendste, Gemeinste und Knechtischste stets der Geehrteste ist. Ließest du dir in den Sinn kommen, deinem Dienste in allem Ernste obzuliegen, so würdest du verachtet, gehaßt, vielleicht fortgejagt oder wenigstens zurückgesetzt und von deinen Kameraden überflügelt werden, und nur deshalb, weil du deinen Dienst in den Laufgräben versehen hast, während sie den ihrigen vor dem Putztische verrichteten.«

Man kann sich wol vorstellen, daß alle diese verschiedenen Beschäftigungen dem Geschmacke Emils nicht sehr zusagen. »Wie,« wird er mir erwidern, »habe ich denn die Spiele meiner Kindheit verlernt? Bin ich meiner Arme verlustig gegangen? Ist meine Kraft erschöpft? Vermag ich nicht mehr zu arbeiten? Was gehen mich alle eure schönen Beschäftigungen und alle thörichten Meinungen der Menschen an? Ich geize nach keinem andern Ruhme als wohlthätig und gerecht zu sein. Ich kenne kein anderes Glück, als mit dem, was man liebt, in Unabhängigkeit zu leben, während man sich täglich durch seine Arbeit Appetit und Gesundheit verschafft. Alle jene Schwierigkeiten, auf welche Sie mich aufmerksam gemacht haben, können mich kaum berühren. Ich begehre als ganzes Besitzthum nur eine kleine Meierei in irgend einem Winkel der Erde. Ich werde nur danach geizen, mit ihren Erträgen mich zu begnügen, und so werde ich ohne Unruhe leben. Sophie und mein Feld, und ich werde reich sein.«

»Ja, mein Freund, zu dem Glücke eines Weisen sind ein Weib und ein Feld hinreichend. So bescheiden diese Schätze aber auch sind, so sind sie gleichwol nicht so allgemein, wie du wol meinst. Der seltenste ist allerdings für dich gefunden, laß uns deshalb von dem andern reden.«

»Nach einem Felde also steht dein Wunsch, Emil! In welcher Gegend denkst du dir es auszuwählen? In welchem Erdwinkel wirst du sagen können: ›Hier bin ich mein eigener Herr und der unumschränkte Gebieter des Bodens, der mir gehört.‹ Man kennt wol die Orte, an welchen man sich leicht Reichthümer zu erwerben vermag, wer aber kennt die Stätten, wo man ihrer entbehren kann? Wer weiß, wo man unabhängig und frei leben kann, ohne daß man irgend Jemandem ein Leid zuzufügen oder von Anderen zu befürchten braucht? Wähnst du, daß das Land, welches uns gestattet beständig ein rechtschaffenes Leben zu führen, so leicht zu finden sei? Wenn es ein rechtmäßiges und sicheres Mittel gibt, sich ohne Ränke, ohne Streitigkeiten, ohne Abhängigkeit durch die Welt zu schlagen, so besteht es, wie ich gern zugeben will, darin, daß man unter der Bewirtschaftung seines eigenen Grund und Bodens von seiner Hände Arbeit lebt. Wo aber ist der Staat, in welchem man sich sagen kann: der Boden, auf dem ich wandle, ist mein? Bevor du dieses glückliche Land erwählst, versichere dich wohl, daß du den Frieden, den du suchst, in der That in ihm findest. Sei auf deiner Hut, daß dort nicht eine gewaltthätige Regierung, eine verfolgungssüchtige Religion oder verderbte Sitten dein Glück stören. Stelle dich sicher vor unerschwinglichen Steuern, welche die Frucht deiner Arbeit verschlingen würden, vor endlosen Processen, welche dein Vermögen verzehren könnten. Triff Vorkehrungen, daß du bei einem ordentlichen Lebenswandel nicht nöthig hast Beamten und ihren Stellvertretern, Richtern, Priestern, mächtigen Nachbarn und Schurken jeglicher Art den Hof zu machen, die bei irgend einer Vernachlässigung stets bereit sein werden, dich zu quälen.«

»Vor allen Dingen sichere dich vor den Plackereien der Großen und Reichen. Bedenke, daß ihre Ländereien überall an Naboths Weinberg grenzen können. Will es das Unglück, daß ein höherer Staatsbeamte in der Nähe deiner Hütte ein Haus kauft oder baut, wer vermag dir dann dafür zu bürgen, daß er nicht ein Mittel ausfindig macht, zur Erweiterung seines Eigenthums dein Erbe unter irgend einem Vorwande an sich zu reißen, oder daß du nicht vielleicht schon morgen mit ansehen mußt, wie dein ganzes Besitzthum zur Anlage einer breiten Landstraße in Anspruch genommen wird? Wenn du dir nun auch so viel Einfluß bewahrst, um alle diese Unannehmlichkeiten von dir fern zu halten, dann gilt es nun auch noch, deinen Reichthum selbst zu bewahren, was mit nicht weniger Mühe für dich verbunden ist. Reichthum und Einfluß stützen sich gegenseitig; der eine hat ohne den andern nur kurzen Bestand.«

»Ich besitze eine größere Erfahrung als du, lieber Emil; ich durchschaue besser die Schwierigkeit deines Planes. Trotzdem handelt es sich um ein schönes und ehrenhaftes Vorhaben, welches bei seiner Ausführung in der That dein Glück begründen würde. Wir wollen deshalb Alles aufbieten, es ins Werk zu setzen. Ich habe dir einen Vorschlag zu machen: Laß uns die zwei Jahre, vor deren Ablauf du nicht heimzukehren gedenkst, zur Aufsuchung eines Zufluchtsortes in Europa benutzen, in welchem du mit deiner Familie glücklich und in Sicherheit vor all den erwähnten Gefahren leben kannst. Würde unser Suchen von Erfolg begleitet sein, so würdest du das wahre Glück gefunden haben, nach welchem so viele Andere vergebens jagen, und deine Zeit brauchte dich nicht zu gereuen. Hätte unser Unternehmen dagegen keinen glücklichen Erfolg, so würdest du doch aus deinem Traume erwacht sein; du würdest dich über ein unvermeidliches Unglück trösten und dich dem Gesetze der Notwendigkeit unterwerfen.«

Ich weiß nicht, ob alle meine Leser merken werden, wie weit uns diese in solcher Weise vorgeschlagene Nachforschung führen kann. So viel weiß ich aber bestimmt, daß, wenn Emil bei der Rückkehr von seinen unter einem solchen Gesichtspunkte begonnenen und fortgesetzten Reisen nicht mit Allem vertraut wäre, was zur Kenntniß der Regierung, der öffentlichen Sitten und der Staatsgrundsätze jeglicher Art gehört, es uns Beiden, ihm sowol wie mir, an Verstand und Urtheil fehlen müßte.

Ein festes Staatsrecht muß erst gebildet werden, aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird es sich nie bilden. Grotius, der Lehrer aller unserer Gelehrten auf diesem Gebiete ist nur ein Kind, und was noch schlimmer ist, ein völlig unglaubwürdiges Kind. Wenn ich mit anhöre, wie man Grotius bis in die Wolken erhebt und Hobbes mit Verwünschungen überschüttet, so kann ich daraus den Schluß ziehen, wie viel verständige Menschen eigentlich diese beiden Schriftsteller lesen oder verstehen. In Wahrheit stimmen sie in ihren Grundsätzen genau überein; nur in Bezug auf die Terminologie findet ein Unterschied statt. Auch weichen sie in der Methode von einander ab. Hobbes stützt sich auf Sophismen, Grotius auf Dichter. Alles Uebrige haben sie mit einander gemein.

Der Einzige in neuerer Zeit, der im Stande gewesen wäre, diese große und unnütze Wissenschaft ins Leben zu rufen, wäre der berühmte Montesquieu gewesen. Aber er hat sich in Acht genommen, die Grundsätze des Staatsrechtes zu behandeln. Er begnügte sich damit, das positive Recht der bestehenden Staaten in den Kreis seiner Besprechung zu ziehen, und zwischen diesen beiden Studien ist ein gewaltiger Unterschied.

Wer also die Regierungsformen, so wie sie bestehen, richtig beurtheilen will, ist genöthigt, diese beiden Studien mit einander zu vereinigen. Um das, was ist, richtig beurtheilen zu können, muß er wissen, was sein soll. Die Hauptschwierigkeit, die sich der Aufklärung dieses wichtigen Gegenstandes entgegenstellt, besteht darin, einen Privatmann für die Erörterung desselben und für die Beantwortung der beiden Fragen: Was geht es mich an? und: Was kann ich dazu thun? zu interessiren. Ich habe unsern Emil in den Stand gesetzt, sich alle beide beantworten zu können.

Die zweite Schwierigkeit liegt in den Vorurtheilen der Kindheit, in den Grundsätzen, in welchen man auferzogen ist, hauptsächlich aber in der Parteilichkeit der Schriftsteller, welche, trotzdem sie immer von der Wahrheit reden, sich doch nicht im Geringsten um dieselbe kümmern, dafür aber um so mehr an ihren eigenen Vortheil denken, von dem sie niemals reden. Da die Verleihung von Lehrstühlen, Pensionen und akademischen Stellen nicht vom Volke ausgeht, so kann man sich ein Urtheil darüber bilden, wie seine Rechte von jenen Leuten begründet und erläutert werden. Ich habe dafür Sorge getragen, daß Emil auch unter dieser Schwierigkeit nicht zu leiden hat. Kaum weiß er bis jetzt, was Regierung ist. Für ihn handelt es sich einzig und allein darum, die beste ausfindig zu machen. Er trägt sich durchaus nicht mit schriftstellerischen Plänen, und sollte er je ein Buch schreiben, so geschieht es sicherlich nicht in der Absicht, den Mächtigen den Hof zu machen, sondern um die Rechte der Menschheit zur Anerkennung zu bringen.

Es bleibt noch eine dritte, mehr scheinbare als wirkliche Schwierigkeit übrig, deren Erwähnung und Lösung ich aus diesem Grunde für unnöthig halte. Es genügt mir, daß sie meinen Eifer nicht zurückzuschrecken vermag, da ich dessen sicher bin, daß zu dergleichen Untersuchungen nicht sowol große Talente nothwendig sind, als vielmehr eine aufrichtige Liebe zur Gerechtigkeit und eine wahre Achtung vor der Wahrheit. Wenn sich also überhaupt alle die Regierung berührenden Fragen einigermaßen mit Gerechtigkeitssinn behandeln lassen, so ist meiner Ansicht nach hier oder nirgends die Gelegenheit dazu da.


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