Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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XXX

In der Zeit, in der diese Zeilen geschrieben werden, sind ungefähr fünfzehn Jahre seit dem Tode des merkwürdigen Mannes verflossen. Über dem Grab des Obersten Nikolaus Tarabas erhebt sich ein einfaches Kreuz aus schwarzem Marmor, das der alte Vater Tarabas bezahlt hat. Der Fremde, der heute nach Koropta kommt, kann keine Spur mehr von den traurigen, wunderbaren und merkwürdigen Ereignissen finden. Alle Häuser des Städtchens sind neu hergerichtet, weiß angestrichen, und eine Baukommission, nach westeuropäischen Mustern, wacht darüber, daß sie gleichzeitig aufgefrischt werden und daß sie gleichmäßig aussehn wie Soldaten. Der alte Pfarrer ist vor ein paar Jahren gestorben. Der närrische Schemarjah lebt noch in der Dachstube bei dem Händler Nissen, bewahrt das nutzlose Säckchen mit den Goldstücken unter dem Kopfkissen und will es kaum anrühren, geschweige denn zeigen oder gar aus der Hand geben. Da die neue Regierung des Landes eigene Goldmünzen geprägt hat, haben – wie der Krämer Nissen richtig sagt – die alten goldenen Franc- und Rubelstücke bedeutend an Wert eingebüßt. Es war ein nutzloses Beginnen, dem närrischen Schemarjah diesen Sachverhalt begreiflich zu machen. Er kicherte nur. Vielleicht lachte in der Tat der Narr die klugen Leute aus. Vielleicht war es nur ihm allein klar, daß der Wert dieser Goldmünzen niemals zu jenen Werten gehören konnte, die man auf den Börsen und Banken der Welt notiert. Es ist anzunehmen, daß der Händler Nissen im stillen hofft, er werde einmal das Säckchen erben. Es wäre nur ein ganz natürlicher Lohn für die Wohltaten, die er dem törichten Schemarjah erwiesen hat. Im übrigen käme es auch anderen Armen zugute. Denn der Krämer Nissen wird bis an sein Lebensende ein wohltätiger, barmherziger Mann bleiben. Er ist es Gott schuldig, seinem Ruf und auch seinem Geschäft. (Und wahrscheinlich hat auch der Händler Nissen recht.)

In ganz Koropta sind er und der Gastwirt Kristianpoller die einzigen, die noch manchmal bei einem Glase Met – zu dem sie gesalzene Erbsen essen – von dem seltsamen Obersten Tarabas sprechen, der als ein gewaltsamer König in das Städtchen gekommen war und als ein armer Bettler darin begraben wurde. In der »Kammer« Kristianpollers steht zwar immer noch der Altar vor dem wunderbaren Bild der Mutter Gottes; aber die Gottesdienste werden immer seltener. Ein neues Geschlecht wächst heran, das nichts von der alten Geschichte weiß. Man betet, wie alle Jahre vorher, in der Kirche. Und das neue Geschlecht betet überhaupt selten.

An manchen Tagen findet der Schweinemarkt statt. Die Pferdchen wiehern, die Ferkel quieken, die Bauern betrinken sich. Der Knecht Fedja faßt sie dann unter, schleppt sie zu ihren Fuhren und übergießt sie mit kaltem, nüchternem Wasser. Die Juden handeln weiter mit Glasperlen, Kopftüchern, Taschenmessern, Sensen und Sicheln.

Jedes Jahr kommen fremde Hopfenhändler nach Koropta. So mancher, der das saubere Städtchen betrachtet, geht die Hauptstraße entlang, steigt den Hügel empor, auf dem die Kirche steht, streift durch den Friedhof und sieht die merkwürdige Inschrift:

Oberst Nikolaus Tarabas,
ein Gast auf dieser Erde.

Der Fremde kehrt in den Gasthof Kristianpollers zurück, trinkt ein Bier, einen Met oder einen Wein und fragt den Wirt: »A propos, da hab' ich so ein rätselhaftes Grab gesehn!«

Solche Gäste erscheinen Nathan Kristianpoller – er weiß selber nicht warum – sympathischer als alle anderen. Er setzt sich an den Tisch des Fremden und erzählt die sonderbare Geschichte von Tarabas.

»Und ihr Juden habt keine Angst mehr?« fragt gelegentlich der Fremde.

»Was wollen Sie?« pflegt dann Kristianpoller zu antworten: »Die Menschen vergessen. Sie vergessen die Angst, den Schrecken, sie wollen leben, sie gewöhnen sich an alles, sie wollen leben! Das ist ganz einfach! Sie vergessen auch das Wunderbare, sie vergessen das Außerordentliche sogar schneller als das Gewöhnliche! Sehen Sie, mein Herr! Am Ende jedes Lebens steht der Tod. Wir wissen es alle. Und wer denkt an ihn?«

So spricht der Gastwirt Nathan Kristianpoller zu den Gästen, die ihm sympathisch sind. – Er ist ein kluger Mann.


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