Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXVI

Ein schöner, trockener Sommer brach an. Aber Tarabas' Herz wärmte er nicht. Die zerrissenen Stiefel hatte er in den Sumpf hinter dem väterlichen Haus geworfen. Sie versanken schnell. Es gluckste zuerst ein wenig, dann glättete sich das grüne Antlitz des Sumpfes wieder. Auf dem schmalen Pfad noch, unter den Weiden, zog Tarabas die neuen Schuhe an; brave Schuhe, den ganzen Krieg hatten sie auf ihn, neben seinem Bett, gewartet. Er hatte sie noch in Amerika getragen. In diesen Schuhen (sie drückten jetzt ein bißchen) war er durch die steinernen Straßen von New York gewandert, jeden Abend, um Katharina abzuholen. Hier mußte übrigens ungefähr die Stelle sein, an der er vor Jahren Maria begegnet war. Er erinnerte sich an die lüsterne Wut, mit der er damals ihre Schnürstiefel betrachtet hatte, als sie so hintereinander auf diesem schmalen Pfad dahingegangen waren, bedächtig, um den Sumpf nicht zu betreten, und mit verworrenen Sinnen, die ungeduldig den Wald schon erreichen wollten. Das waren die Ereignisse eines längst vergangenen Lebens. Die Erinnerungen lagen in Tarabas, tot und kalt, Leichen von Erinnerungen. Wie ein steinerner Sarg barg sie sein Herz. Auch der heimatliche Himmel, auch die heimatlichen Wiesen, der vertraute Gesang der Frösche, das liebe, gute Rauschen des Regens, auch der Duft der Linden, die eben zu blühen begannen, auch das wohlbekannte und eintönige Hacken des Spechts waren tot, obwohl sie Tarabas sichtbar, hörbar und fühlbar umgaben. Es war, als hätte er seit dem Augenblick, in dem er dem schlafenden Vater die Hand geküßt hatte, nicht nur Abschied vom väterlichen Haus und vom Erbe und von der Heimat genommen, sondern auch von jedem Gefühl für sie und für die Vergangenheit, die sie barg. Solange er sich noch gescheut hatte, das väterliche Haus zu betreten, waren Vater, Mutter, Schwester und Land noch lebendig gewesen, lebendige Gegenstände des gefährlichen Heimwehs, das vielleicht imstande war, Tarabas von seinen ziellosen Wegen wegzulocken. Törichte Angst! Ein fremder, schnurrbärtiger, lahmer Mann war sein Vater; eine furchtsame, grauhaarige Törin die Mutter. Wenn in ihnen Liebe vor Jahren noch gelebt hatte, jetzt waren sie leer und kalt, wie Nikolaus Tarabas selbst. Auch wenn er gesagt hätte: Ich bin euer Sohn, – sie hätten ihn nicht mehr in ihre versteinerten Herzen aufnehmen können. Wären sie gestorben und hätte er nur noch ihre Gräber angetroffen, er hätte sie mit seiner wärmenden Erinnerung lebendig machen können, sie und das Haus. Sie aber lebten noch, sie gingen, standen, schliefen, fütterten Hühner, verjagten Bettler: bewegliche Mumien, in denen sie selbst begraben waren; jedes von ihnen sein eigener wandelnder Sarg. Als Tarabas aus dem Wäldchen trat, das in die Birkenallee mündete, wandte er sich noch einmal um. Er sah die weiße, schimmernde Front des Hauses, das die Allee abschloß, davor das dunkle Silber der Birken. Der Regen bildete einen dichten, grauen, fließenden Schleier zwischen dem Haus und Tarabas.

Es ist längst zu Ende gewesen! sagte sich Tarabas.

Auch an den heißen Mittagen der sommerlichen Tage überfiel ihn jetzt immer häufiger der Frost. Sein großer, immer noch kräftiger Körper mußte sich dem Fieber ergeben, das ihn durch die süßen Sommertage wie ein ganz besonderer, eigener Winter begleitete. Unerwartet, je nach seiner unerforschlichen Laune, sprang er Tarabas an. Tarabas wehrte sich nicht mehr, wie man sich gegen den Schatten nicht mehr wehrt, der jeden Menschen begleitet. Manchmal blieb er matt an einem Wegrand liegen, fühlte die gute Sonne und den strahlenden Himmel wie durch eine dicke, kalte Mauer aus Glas und fror und zitterte. Er lag da und erwartete die Schmerzen im Rücken und in der Brust und den jämmerlichen Husten. Das kam mit einer gewissen Regelmäßigkeit, man erwartete all das wie zuverlässige, treue Feinde. Manchmal floß Blut aus Tarabas' Mund. Es rötete das saftige Grün des Abhangs oder das helle, erdene Grau des Weges. Sehr viel Blut hatte Tarabas fließen sehn und fließen lassen. Er spuckte es aus, das rote, flüssige Leben. Es tropfte aus ihm. Manchmal, wenn er sich ganz schwach werden fühlte, ging er in eine Schenke, kramte Geld aus seinem Säckchen und trank einen Schnaps. Er fühlte darauf Hunger wie in alten Zeiten. Es war, als könnte sich sein Körper noch an den alten Tarabas erinnern, den er einst umgeben hatte. Der Magen hatte noch Hunger, die Kehle noch Durst. Die Füße wollten noch gehn und ruhen. Die Hände wollten noch greifen und fassen. Und wenn die Nacht kam, fielen die Augen zu, und der Schlaf kam über Tarabas. Und wenn der Morgen anbrach, war es, als müßte Tarabas sich selber wecken, seine Glieder schelten, weil sie zu faul und müde waren, und er befahl seinen Füßen zu wandern, er kommandierte sie, wie er einst seinem Regiment befohlen hatte zu marschieren.

Regelmäßig jeden Fünfzehnten erschien er in der großen Halle der Post in der Hauptstadt. Und regelmäßig erwartete ihn der junge Mann und reichte ihm die Pension. Diese Begegnungen spielten sich nicht ohne ein gewisses, wortkarges Zeremoniell ab. Tarabas legte zwei Finger an die Mütze, während der junge Herr respektvoll den Hut zog. Er sagte: »Danke sehr!«, wenn Tarabas unterschrieben hatte. Er zog noch einmal den Hut.

Eines Tages aber blieb er länger stehen als gewöhnlich, betrachtete Tarabas und sagte dann: »Wenn ich mir einen Rat erlauben darf, Herr Oberst, Sie sollten zum Arzt. Soll ich vielleicht Seiner Exzellenz etwas Besonderes berichten?«

»Berichten Sie gar nichts!« sagte Tarabas.

Er betrachtete sein Gesicht in dem kleinen Spiegel der Personenwaage, die man in der Halle des Postgebäudes erst seit kurzem aufgestellt hatte, um ihr die letzte moderne Vollendung zu geben. Und er sah, daß seine Augen tief in den Höhlen lagen und daß ein dichtes Netz aus blauen Äderchen seine beiden Schläfen durchzog. Er bestieg die Platte und steckte eine Münze in den Automaten. Er wog im ganzen neunundvierzig Kilo.

Er ging lächelnd hinaus, wie einer, der jetzt genau erfahren hat, was zu tun sei. Er verließ die Hauptstadt auf dem Wege, über den ihn ein paar Monate früher der Milchwagen des Bauern gefahren hatte. Eine Meile weiter gabelte sich die Straße. An dieser Stelle standen zwei alte, verwitterte hölzerne Tafeln mit Pfeilen. Auf dem einen links las man das halberloschene Wort: Koryla. Auf der andern Tafel wies der Pfeil rechts nach Koropta. Tarabas schlug den Weg nach Koropta ein.

Er ging langsam, bedächtig fast. Er wollte das Städtchen nicht vor dem Abend erreichen. Es war wie eine langausgedehnte Vorfreude auf ein unentrinnbares Glück, das ihn in Koropta erwarten mußte. Als er die ersten Häuser des Städtchens erblickte, es war am späten Nachmittag, begann sein Herz, schnell und freudig zu schlagen. Noch eine Biegung und schon war die Mauer des Gasthofs »Zum weißen Adler« sichtbar. Tarabas gönnte sich eine Rast. Zum erstenmal nach langer Zeit fühlte er den sommerlichen Frieden der Welt. Kein Fieber schüttelte ihn. Im abendlichen Glanz tänzelte ein froher Schwarm winziger, von der Sonne vergoldeter Mücken vor seinen Augen. Er betrachtete dieses Schauspiel. Er nahm es entgegen, eine Art Huldigung. Die Sonne sank tiefer, die Mücken verzogen sich, Tarabas stand auf. Als er den Gasthof Kristianpollers erreichte, war der Abend schon da. Fedja stand auf einer Leiter vor dem großen, braunen Tor und goß neues Petroleum in die rote Laterne, die an einem eisernen, aus der Wand ragenden Pfahl hing.

»Gelobt sei Jesus Christus!« rief Tarabas zu Fedja hinauf. »In Ewigkeit. Amen. Ich komme gleich!« antwortete Fedja geschäftig. Er stieg herunter, die Kanne in der Hand, und sagte: »Tritt nur ein!«

Tarabas setzte sich im Hof auf eines der Fässer. Er sah die »Kammer« vor sich. Sie hatte frisch getünchte, weiße Wände und ein neues, schwarzgestrichenes Tor. Fedja brachte Fleisch, Kartoffeln und Bier, und Tarabas wies auf die »Kammer« und fragte: »Was ist da drüben?«

»Das ist jetzt eine Kapelle!« sagte Fedja. »Man hat das lange nicht gewußt. Eines Tages hat sich hier in wunderbarer Weise das Bild der Mutter Gottes gezeigt. Denk dir: von selbst! Plötzlich stieg sie von der Wand herunter, breitete die Arme aus und segnete die Soldaten, die da früher geschlafen haben. Dann begann man, die Juden zu schlagen, aber die Herren Pfarrer kamen und predigten: Die Juden sind nicht schuld. Mein eigner Herr, der Gastwirt hier, ist ein Jude. Und er ist wirklich unschuldig wie der erste Schnee. Jetzt hat er sogar aus dieser Kammer eine Kapelle machen lassen. Man liest hier am Sonntag die heilige Messe. Und es ist auch ein Geschäft dazu. Denn die Bauern können gar nicht das Ende der Messe abwarten, um schnell in die Schenke zu kommen. Wir haben viel zu tun. An Sonntagen verdienen wir mehr als an den Tagen, wo Schweinemarkt ist!«

Tarabas aß indessen bedächtig, gründlich und heiter seinen Teller leer. Es wurde dunkel, Kristianpoller zündete schon den großen Rundbrenner im Schankzimmer an.

»Nun muß ich gehen!« sagte Fedja und nahm Tarabas den geleerten Teller aus der Hand. Er wollte sagen: Geh du auch! – Aber er wartete noch.

»Hast noch einen weiten Weg?« fragte er.

»Nein«, sagte Tarabas, »ich bin fast schon zu Hause!« Er stand auf, dankte Fedja und ging die Hauptstraße von Koropta entlang. Zu beiden Seiten hatte man schon die verbrannten und verwüsteten Häuschen wiederaufzubauen begonnen. Vor den halbfertigen Gebäuden saßen schon wieder die geschwätzigen Frauen. Eine neue Generation von Hühnern, Enten, Gänsen wurde von Mädchen zur nächtlichen Ruhe heimgetrieben, mit flatternden Armen und wehenden Röcken. Säuglinge miauten. Kinder weinten. Juden kamen schwarz und hastig von ihren Geschäften. Man begann, die bunten Kramläden zu schließen. Eiserne Stangen klirrten. Die ersten Sterne erblinkten.

Tarabas ging geradeaus. Am Ende der Hauptstraße bog ein Seitenpfad auf eine Wiese ab. Er führte zum Friedhof der Juden. Die kleine, graue Mauer schimmerte durch das Blau der Sommernacht. Das Tor war geschlossen. Im kleinen Hause des Wächters und Totengräbers brannte noch Licht. Tarabas stieg lautlos über die Mauer. Zwischen den Reihen der aberhundert gleichförmigen Steine tappte er eine Weile herum, entzündete ein Streichholz, beleuchtete die eckigen Buchstaben, die er nicht lesen konnte, und betrachtete die fremden Zeichnungen: zwei flache segnende Hände mit gespreizten Fingern und den Daumen, die mit den Kuppen aneinanderlehnten, einen Löwen mit Adlerflügeln am Rücken, einen sechszackigen Stern, zwei geöffnete Buchseiten, gefüllt von unleserlichen Buchstaben. Vor der letzten Reihe der Gräber – ein schmaler Raum wartete noch auf die nächsten toten Juden – schaufelte Tarabas mit den Händen die Erde auf, grub eine kleine Mulde aus, knüpfte eines der beiden Säckchen vom Hals, legte es in die Mulde, scharrte die Erde wieder zusammen und glättete sie mit den Händen. Ein Käuzchen rief, eine Fledermaus flatterte, der nächtliche Himmel verströmte sein tiefes, leuchtendes Blau und den Glanz der Sterne. Es war ein roter Bart, dachte Tarabas. Er hat mich geschreckt. Ich habe ihn begraben. – Er stieg wieder über die Mauer und ging den Weg zurück. Es war ganz still im Städtchen Koropta. Nur die Hunde, die Tarabas vorübergehn hörten, begannen zu bellen.

Er fand ein Nachtlager in einem der Häuschen, die man gerade wiederaufzubauen anfing. Es roch nach feuchtem Mörtel und frischem Kalk. Tarabas schlief in einer Ecke, erwachte beim Aufgang der Sonne und ging hinaus. Er begegnete den ersten frommen Juden, die ins Bethaus eilten, hielt sie an und fragte sie, wo Schemarjah wohne. Sie wunderten sich über seine Frage, schwiegen und betrachteten ihn lange. »Habt keine Furcht!« sagte Tarabas – und es war ihm, als lachte jemand, während er diese Worte sprach. Hatte man noch Furcht vor ihm? Zum erstenmal in seinem Leben sagte er diese Worte. Hätte er sie jemals sagen können, als er noch der gewaltige Tarabas war? – »Wir kennen uns lange, Schemarjah und ich«, fuhr er fort. Die Juden tauschten ein paar Blicke untereinander aus, dann sagte einer: »Fragt nur nach Schemarjah bei dem Krämer Nissen. Es ist der blaue Laden, das dritte Haus vor dem Marktplatz!«

Der Krämer Nissen saß vor einem Samowar, in dem Kukuruz kochte, zwischen den ausgebreiteten bunten Waren und sah nach Kunden aus. Er war ein behäbiger, älterer Mann mit grauem Bart und ansehnlichem Bauch, ein wohlgeschätzter Bürger von Koropta und ein leidenschaftlicher Wohltäter, dem es ausgemacht erschien, daß er infolge seiner Barmherzigkeit in den Himmel der Juden kommen würde. »Ja«, sagte er, »Schemarjah wohnt bei mir in der Dachkammer. Der arme Narr! Habt Ihr ihn noch früher gekannt? Wißt Ihr auch seine Geschichte? Es war da ein neuer Oberst, Tarabas hat er geheißen, ausgelöscht sei sein Name, aber man sagt, es hat ihn schon der Schlag getroffen, welch ein leichter Tod für so einen Bösewicht! Dieser Oberst hat dem armen Schemarjah den Bart ausgerissen. Er hatte gerade eine Thora begraben wollen. Seit damals ist er ganz närrisch. Er hat nicht mehr arbeiten können. Da hab' ich mir gesagt: Nimm ihn auf, Nissen! Was soll man tun? Er lebt bei mir wie ein Bruder. Geht nur hinauf!«

Es war eine winzige Kammer, in der Schemarjah lebte, mit einer runden Dachluke statt eines Fensters. Auf einer hölzernen Bank lag das rotkarierte Bettzeug Schemarjahs. Auf dieser Bank schlief er. Er saß, als Tarabas eintrat, vor dem nackten Tisch, las in einem großen Buch und summte vor sich hin. Er mochte glauben, daß einer seiner Bekannten eingetreten war, es dauerte eine Weile, bis er den Kopf hob. Dann verwandelte ein jäher Schrecken sein Angesicht. Der Schrecken stand, ein kalter Brand, in seinen aufgerissenen Augen. Schemarjah unterbrach seinen summenden Gesang und blickte starr auf Tarabas. Er bewegte die Lippen und brachte keinen Ton hervor. »Ich bin ein Bettler!« sagte Tarabas. »Hab nur keine Furcht!« – Dann setzte er hinzu: »Ich möchte ein Stück Brot!«

Es dauerte längere Zeit, bis der Jude Schemarjah begriffen hatte. Er verstand die Sprache kaum, er mußte Tarabas' Verlangen lediglich an den schlechten Kleidern, der Haltung, der Gebärde erkannt haben. Er stieß ein schrilles Kichern aus, erhob sich, drückte sich furchtsam an die Wand und schlich so, mit einer Schulter halb gegen den Fremden gewendet, immer noch kichernd, zum Bett. Unter dem Kissen zog er ein trockenes Stück Brot hervor, legte es auf den Tisch und zeigte mit dem Finger darauf. Tarabas näherte sich dem Tisch, Schemarjah drückte sich ans Bett. Tarabas sah rings um das hagere, sommersprossige Gesicht des Juden einen kurzen, spärlichen, silbernen Fächerbart, dazwischen ein paar kahle Narben, wie von Mäusen angenagte Stellen. Es war ein kümmerliches Kränzchen aus armseligem Silber, das da zu sprießen begann.

Tarabas senkte die Augen, nahm das Brot und sagte: »Ich danke dir!« Er ging hinaus. Auf der schmalen Leiter schon, die zum Boden führte, begann er zu essen. Das Brot schmeckte nach Schemarjahs Schweiß und Bett. »Er erkennt mich nicht!« sagte unten Tarabas zum Händler Nissen. »Gott mit dir!« »Hier ist ein Kukuruz gerade fertig«, sagte Nissen. »Nimm ihn nur mit, für unterwegs!« – Man soll jedem Armen Gutes tun, dachte der Händler. Aber ein Armer kann auch ein Dieb sein, man soll ihn auch nicht lange im Laden lassen.

Alles in Ordnung! sagte sich Tarabas, während er weiterging. Jetzt ist alles in Ordnung!


 << zurück weiter >>