Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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XV

Die Getreuen des Obersten Tarabas, die in der »Kammer« im Hofe Kristianpollers verblieben waren, empfingen die Deserteure mit geheucheltem Vergnügen. Sie schickten sogleich dem Feldwebel Konzew in die Kaserne die Meldung, daß sich die Betrunkenen ahnungslos in eine neue Gefangenschaft begeben hätten. Was den Obersten Tarabas betraf, so saß er schon lange mit den Offizieren in der Baracke, um den »Freitag zu vergessen« und überhaupt die Aufregungen dieses ungewöhnlichen Tages. Der Feldwebel Konzew meldete ihm das Geschehene; aber der Oberst Tarabas hörte nicht mehr alles.

Unterdessen rückte der Abend heran, ein Freitagabend. Und die Juden von Koropta begannen wie gewöhnlich zum Sabbat zu rüsten. Auch Kristianpoller rüstete. Während er in der Küche, in der er seit der Abreise der Seinen schlief, den Tisch deckte und die Kerzen aufstellte, gedachte er seiner Frau und der Kinder, und eine gewisse Hoffnung erfüllte ihn, daß sie bald alle zurückkehren würden. Der Schweinemarkt war ein sicheres Zeichen für die Wiederkehr des Friedens, des endgültigen Friedens. Vorausgesetzt, daß die neuen Banknoten des neuen Vaterlandes, mit denen die Bauern bezahlten, einen wirklichen Goldwert hatten wie die alten, guten Rubel, waren die Einnahmen des heutigen Tages großartig, wie in alten Zeiten vor dem Krieg. Kristianpoller begann, die Scheine, die zerknüllt in der Schublade seines Schanktisches lagen, zu ordnen, zu glätten und in den zahlreichen Fächern seiner zwei dicken, ledernen Taschen unterzubringen. Am Schragen, knapp über seinem Kopfe, erschien jetzt, wie alle Tage bisher, der goldene Abglanz der herbstlichen Sonne, die sich zum gewohnten, heiteren Untergang anschickte. Draußen, in der Hauptstraße und im Hof, bereiteten die Bauern schon ihre Heimfahrt vor. Sie hatten Tücher, Korallen, Sicheln und Hüte eingekauft. Sie hatten viel getrunken und waren guter Laune. Alle stülpten die neugekauften Hüte über die alten, die Taschentücher trugen sie um den Hals, das Geld für die verkauften Schweine in graubraunen Leinensäckchen über der Brust. Sie waren müde und heiter, zufrieden mit sich und dem verflossenen Tag. Friedlich krähten die Hähne, und zwischen dem verstreuten Häcksel in der Straßenmitte suchte das wohlgelaunte Geflügel nach einer besonderen festlichen Jahrmarktsnahrung. Sogar die Hunde, die man von den Ketten losgebunden hatte, liefen zwischen Enten und Gänsen herum, ohne zu bellen und ohne die schwächeren Tiere zu bedrohen.

Den ganzen seligen Frieden dieses untergehenden irdischen Freitags, der dem heiligen und himmlischen Samstag entgegenzustreben schien, nahm Nathan Kristianpoller mit offenem Herzen auf. Morgen abend gedachte er, einen Brief an seine Frau nach Kyrbitki zu schreiben, sie möge nach Hause zurückkehren. Mein liebes Herz! – so wollte er schreiben – mit Gottes Hilfe sind wir vom Kriege erlöst, und der Frieden ist uns zurückgegeben. Wir haben leider Gottes immer noch Einquartierung, aber der Oberst ist nicht so gefährlich, wie er aussieht, sondern, wenn man bedenkt, daß er ein großer Offizier ist, kein ganz wilder Mensch. Ich glaube, daß er kein schlechter Mann ist und daß er Gott sogar fürchtet ...

Während Kristianpoller diesen Brief zurechtlegte, schnitt er sich, dem nahenden Sabbat zu Ehren, die Fingernägel mit dem Taschenmesser und sah immer wieder durch das Fenster auf die Straße hinaus, ob nicht noch neue Gäste kämen. Plötzlich erstarrte sein Herz. Er lauschte. Sechs Pistolenschüsse – ach, wie gut konnte er sie von Gewehrschüssen unterscheiden! – knallten hintereinander im Hof. Alle friedlichen Geräusche draußen waren auf einmal erstorben: das Schnattern und Gackern des Geflügels, die heiteren Zurufe der Bauern, das Wiehern der Pferdchen, das Gelächter der Bäuerinnen. Durch das Fenster sah Kristianpoller, wie die Bauern auf der Straße die Münder öffneten, sich bekreuzigten und flugs von den Fuhren sprangen, auf denen sie schon, zur Abfahrt bereit, gesessen waren. Als hätten die plötzlichen Schüsse gleichsam auch den Tag getroffen, schien es auf einmal rapide dunkler zu werden. Gegenüber der Schenke, beim Glasermeister Nuchim in der kleinen Stube, herrschte geradezu tiefe Finsternis, obwohl die Fenster offenstanden. Es leuchtete nur silbern das weiße Tischtuch, das man für den Sabbat vorbereitet hatte.

Eine böse Ahnung gebot Kristianpoller, vorläufig durch das Fenster den Gasthof zu verlassen. Er kletterte hinaus, auf die Straße, und huschte zum blauen, verfallenen Häuschen des Glasermeisters Nuchim hinüber. »Bei mir schießen sie!« sagte er hastig. »Zündet keine Kerzen an! Sperrt die Tür zu!«

In der Tat, man schoß in der »Kammer« Kristianpollers. Da die Getreuen des Obersten Tarabas in harmlosem Vertrauen auf ihre eigene Überlegenheit und in der Erwartung, daß der Feldwebel Konzew jeden Augenblick zurückkehren müsse, angefangen hatten, mit den Deserteuren aus der Kaserne gemeinsam weiterzutrinken, hatten sie alsbald Müdigkeit, Schlaf und auch Gleichgültigkeit übermannt. Allmählich wurde aus der falschen Brüderlichkeit, die Tarabas' Getreue gegenüber den Deserteuren zuerst geheuchelt hatten, eine flüchtige, verlogene, aber immerhin rührselige Freundschaft. Von beiden Seiten wurden gar viele falsche, heiße Tränen vergossen. Man hatte sich einfach betrunken.

»Wir wollen ein bißchen schießen, nur damit wir sehen, ob wir noch zielen können«, sagte der schlaueste unter den Deserteuren, ein gewisser Ramsin.

»Großartig!« sagten die anderen.

»Wir wollen uns ein paar schöne Ziele an die Wand malen!« sagte Ramsin. Und er begann mit einer Kreide, die er aus seiner Hosentasche hervorgeholt hatte, an die dunkelblau getünchte Wand der Kammer allerhand Figuren und Figürchen in drei übereinanderliegenden Reihen zu zeichnen. Er war ein geschickter Mann, der Ramsin. Er hatte immer allerlei Kunststücke verstanden, Zauberwerk und Taschenspielerei. Seine große, hagere Gestalt, seine schwarzen Augen im gelblichen Gesicht, seine lange, schiefe, seitwärts gebogene Nase, ein pechschwarzes Haarbüschel, das er nicht ohne Eitelkeit in die Stirn fallen ließ, und seine knochigen, langen Hände mit den leicht gekrümmten Fingern hatten in seinen Kameraden längst den Verdacht geweckt, daß Ramsin niemals wirklich heimisch unter ihnen gewesen sein konnte. Einige kannten ihn zwei Jahre und länger, noch vom Felde her. Er hatte nie jemandem gesagt, aus welchem Gouvernement oder Lande er komme. Auf einmal schien er, den die meisten für einen Ukrainer gehalten hatten, just hierher zu gehören, in diesen nagelneuen Staat. Die Sprache des Landes schien seine Muttersprache zu sein. Er sprach sie fließend und munter.

Er zeichnete flott mit der Kreide, mit großer Meisterschaft – so fanden sie alle. Sie fühlten sich nicht mehr müde. Sie drängten sich in einem großen Haufen hinter dem Rücken Ramsins zusammen, stellten sich auf die Zehen und verfolgten die hurtigen Bewegungen der zeichnenden Hand. Auf den tiefblauen Hintergrund der Wand zauberte Ramsin schneeweiße Kätzchen, die nach Mäuschen jagten, wütende und gefräßige Hunde, die wieder die Kätzchen erschreckten, Männer, die mit Stöcken nach den Hunden ausholten. Darunter, in der zweiten Reihe, begann Ramsin, drei Frauen zu zeichnen, die offensichtlich im Begriffe waren, ihre Kleider abzulegen. In der Tat schien ihnen die Hand Ramsins, gierig etwas und ungeduldig zwar, aber mit meisterhafter Fertigkeit, die Kleider von den Leibern zu ziehen, in dem Augenblick, in dem er sie erstehen ließ; er entblößte die Frauen in der gleichen Sekunde, in der er sie schuf – und dieser Vorgang erregte und beschämte die Zuschauer in gleichem Maße. Sie wurden von einem Augenblick zum andern nüchtern. Aber sie verfielen einer neuen, viel mächtigeren Trunkenheit. Jeder von ihnen wünschte, Ramsin möchte aufhören oder sich anderen Gegenständen widmen, aber zugleich und ebenso stark wünschten sie auch, er möchte fortfahren. Zwischen Angst, Scham, Rausch und Erwartung taumelten ihre Herzen. Und die Augen, vor denen zeitweise alle Bilder verschwammen, sahen gleich darauf wieder in scharfer, peinigender Deutlichkeit die Schatten, die Linien der Körper, die Warzen der Brüste, die scharfen Falten in den Schößen, die zarte Festigkeit der Schenkel und die zärtliche Gebrechlichkeit der schlanken, schönen Fesseln. Mit hochgeröteten Gesichtern und um die Verlegenheit zu überwinden, deren ohnmächtige Sklaven sie waren, stießen die Männer verschiedene ratlose, sinnlose und schamlose Rufe aus. Manche pfiffen schrill, andere brachen in wieherndes Gelächter aus. Auf der Wand, auf der Ramsin seine teuflische Aufgabe zu Ende führte, erschien jetzt der letzte, selige Glanz der Abendsonne. Aus tiefem Blau und rotem Gold bestand nun die Wand, und die kreideweißen Figuren schienen in das goldene Blau eingraviert.

Ramsin trat zurück. Die dritte Reihe, in der er angefangen hatte, deutsche Soldaten verschiedener Waffengattungen, Soldaten der Roten Armee, allerlei Symbole, wie Sichel und Hammer, Adler und Doppeladler, zu zeichnen, unterbrach er plötzlich. Er warf die Kreide gegen die Wand. Sie zersplitterte und fiel in zahllosen kleinen Stückchen zu Boden. Ramsin wandte sich um. Neben ihm stand der Ukrainer Kolohin, einer von Tarabas' Getreuen. Ramsin zog ihm die Pistole aus dem Gürtel. »Achtung!« sagte er. Alle traten beiseite. Ramsin ging bis zur offenen Tür zurück. Er legte an und schoß. Er traf alle sechs Bilder nacheinander, die ganze obere Reihe. Man klatschte Bravo. Man trampelte mit den Stiefeln. Man rief: »Hurra!« und: »Es lebe Ramsin!« Jeder eilte, eine Schußwaffe zu suchen. Die Getreuen Tarabas' schossen zuerst selbst und übergaben hierauf die Waffen den Fremden. Alle versuchten sich, und kein einziger traf. »Es ist verhext!« sagte einer. »Ramsin hat seine Bilder verhext!« Es war eine verteufelte Angelegenheit. Selbst die guten Schützen, die ihrer Hand und ihres Blickes sicher waren, schossen diesmal zu hoch oder zu tief. Jedenfalls war es ihnen, nachdem sie sich ein paarmal versucht hatten, als hätte ein Unsichtbarer in dem Augenblick, in dem die Kugel den Lauf verließ, ihre Pistolen berührt. Nun schoß Ramsin wieder. Er traf. Er hatte gewiß nicht weniger getrunken als alle anderen. Sie hatten ihn trinken gesehen. Wie kam es, daß seine Hand sicherer war als alle anderen Hände? Ramsin zielte, schoß und traf. Ja, wie getrieben von irgendeinem höllischen Befehl, fragte er die Kameraden nach noch genaueren Zielen, die er sich zu treffen erbot. Die Fragen erweckten in den meisten eine gierige Lust zu vernichten, ein schwüles Bedürfnis, bestimmte Körperteile der nackten, immer nackter werdenden drei Frauen getroffen und vertilgt zu sehn. Auf die erste Frage Ramsins, wohin er zielen solle, antworteten sie nicht. Gier und Scham würgten ihre Kehlen. Ramsin selbst ermunterte sie: »Linke Brust des dritten Bildes in der Mitte, zweite Frau?« fragte er; oder »unterer Rand des Hemdes? Knöchel oder Brustwarze?« »Gesicht?« »Nase?« Allmählich ward es ihnen unmöglich, diesen Fragen zu widerstehn, die gleichsam noch genauer in ihre verborgenen Wünsche zielten als das Auge des vortrefflichen Schützen auf die Bilder. Die schamlosen Fragen Ramsins weckten schamlose Antworten. Ramsin schoß; und er traf jedes Ziel, das ihm die Zurufe angegeben hatten.

Allmählich füllte sich der Hof mit neugierigen Bauern, die das fröhliche Knallen und das wiehernde Gelächter herbeilockte. Verwirrung bemächtigte sich auch der Zuschauer. Nun hatten alle Bauern ihre heimfahrtbereiten Wägelchen verlassen. Sie standen da, Münder, Augen und Ohren aufgesperrt. Sie drängten und reckten sich, um besser zu sehn. Plötzlich rief Ramsin, der bereits drei Magazine verschossen hatte: »Gebt mir ein Gewehr!« Man brachte es ihm. Er schoß. Kaum war der Schuß verhallt, – da erhob sich schon ein Schrei, aus allen Kehlen gleichzeitig. Eine große Fläche des blaugetünchten Kalks mit den letzten vier unzüchtigen Bildern Ramsins hatte sich von der Mauer gelöst, war abgesprungen, geborsten, in Splitter und Staub zerfallen. Und vor den aufgerissenen Augen der Zuschauer vollzog sich ein wahrhaftiges Wunder: auf dem rissigen Grunde der Wand, im tiefen, goldenen Abglanz der untergehenden Sonne, erschien an Stelle der zuchtlosen Bilder Ramsins das selige, süße Angesicht der Mutter Gottes. Man sah das Angesicht zuerst, hierauf die Büste. Tief schwarz war ihre große, dichte Haarkrone, von einem silbernen, halbrunden Diadem geschmückt. Ihre glühenden, schwarzen Augen schienen mit unsäglichem Schmerz, mit schwesterlichem, fröhlichem Trost und mit kindlicher Verwunderung auf die Männer zu blicken. Aus dem Ausschnitt des rubinroten Kleides schimmerte das gelblichweiße Elfenbein der Haut, und man ahnte die schöne, gnadenreiche Brust, die bestimmt war, den kleinen Heiland zu nähren. Rötlich vergoldet vom Widerschein der untergehenden Sonne, die an diesem Tage länger am Himmel verbleiben zu wollen schien als an allen Tagen vorher, war die enthüllte Erscheinung der Mutter Gottes allen zweifellos ein wahres Wunder. Plötzlich sang einer aus der Menge mit inbrünstiger, tiefer und klarer Stimme das Lied: »Maria, du Süße«, ein Lied, bekannt und geliebt in diesem frommen Lande, Jahrhunderte alt, dem Herzen des Volkes selbst entsprossen. Im gleichen Augenblick, gefällt vom Blitz der Gottesfurcht, fielen alle in die Knie, die kleinen Bauern, die mächtigen Soldaten, die Deserteure sowohl als auch die Getreuen Tarabas'. Eine gewaltige Trunkenheit erfaßte sie. Es schien ihnen, daß sie zu schweben begannen, während sie in Wirklichkeit auf die Knie sanken. Sie fühlten sich an den Schultern gefaßt und niedergedrückt von einer himmlischen Gewalt und zugleich von ihr in die Höhe getragen. Je tiefer sie ihre Rücken beugten, desto leichter erhoben sich ihre Seelen. Mit hilflosen Stimmen fielen sie in den Gesang ein. Alle Loblieder zu Ehren Marias sangen selbst aus ihnen, während langsam der Abglanz der Sonne an der Wand entschwand. Man sah bald nur noch einen schmalen Streifen, der die Stirn der Mutter Gottes vergoldete. Schmäler und schmäler wurde der Streifen. Nunmehr leuchtete im Schatten nur noch das milde Angesicht und der elfenbeinerne Ausschnitt der Brust. Das rote Gewand vermischte sich mit dem Dämmer. Es ertrank in der beginnenden Nacht.

Sie drängten sich vor, der wunderbaren Erscheinung entgegen. Viele erhoben sich von der Erde, auf der sie gekniet und gelegen hatten. Andere wagten nicht aufzustehen. Sie rutschten und schoben sich vorwärts, auf dem Bauch, auf den Knien. In jedem zitterte die Angst, das gnadenreiche Bild könnte ebensoschnell erlöschen, wie es aufgeleuchtet war. Sie versuchten, ihm möglichst nahe zu kommen, sie hofften, es mit den Händen greifen zu können. Wie lange schon hatten ihre armen Herzen ein so deutliches Wunder entbehrt! Seit langen Jahren war Krieg in der Welt! Sie sangen alle Marienlieder, die sie aus der Kirche und aus der Schule kannten, während sie stehend, liegend und kniend der Erscheinung an der Wand näher rückten. Auf einmal verschwand der letzte Schimmer des Tages, als hätte ihn eine ruchlose Hand fortgewischt. Blasse Flecke waren nunmehr das liebliche Elfenbein der Büste, des Halses, des Angesichts und die silberne Krone. Die der Wand am nächsten gerückt waren, erhoben sich und streckten die Hände aus, um die Mutter Gottes zu berühren. »Halt!« rief es aus dem Hintergrund. Es war Ramsin. Hochaufgerichtet, mitten in einem Rudel Kniender, stand er da und schmetterte: »Halt! Rührt es nicht an, das Bild! Dieser Raum hier ist eine Kirche. Dort an der Wand, wo ihr das Bild seht, stand einmal der Altar! Der jüdische Gastwirt hat ihn entfernt. Die Kirche hat er beschmutzt. Mit blauem Kalk hat er die heiligen Bilder bestrichen. Betet, meine Brüder! Tut Buße! Hier soll wieder eine Kirche werden. Büßen soll hier auch der Jude Kristianpoller. Wir wollen ihn herbeiholen. Er hat sich verborgen. Wir werden ihn finden!«

Niemand antwortete. Nun war der Abend vollends eingebrochen. Durch die offene Tür der Kammer drang die kräftige, kühle, dunkelblaue Finsternis. Sie verstärkte das schreckliche Schweigen. Die blaue Wand war beinahe schwarz geworden. Man sah nur noch einen unregelmäßigen, grauweißen, gezackten Fleck, und nichts mehr. Die Leute, die gekniet und gelegen hatten, standen auf, zögernd und als müßten sie erst ihre Glieder von irgendwelchen Fesseln befreien. Ein wilder Zorn, ihnen selbst kaum bekannt, seit ihrer frühesten Kindheit in ihre Herzen versenkt, vom Blut aufgenommen und durch alle Adern getrieben, wurde wach und stark in ihnen, genährt vom Alkohol, den sie heute genossen, verstärkt von den Aufregungen des Wunders, das sie erlebt hatten. Hundert verworrene Stimmen schrien nach Rache für die milde, süße, lästerlich behandelte, geschändete Mutter Gottes. Wer hatte sie beleidigt, mit billigem, blauem Kalk beschmiert, unter Mörtel und Branntweingeruch begraben? Der Jude! – Uraltes Gespenst, in tausendfacher Gestalt über das Land gesät, schwärender Feind im Fleisch, unverständlich, schlau, blutdürstig und sanft zugleich, tausendmal erschlagen und auferstanden, grausam und nachgiebig, schrecklicher als alle Schrecken des eben überstandenen Krieges: der Jude. In diesem Augenblick trug er den Namen des Wirtes Kristianpoller. »Wo verbirgt er sich?« fragte jemand. Und andere schrien: »Wo verbirgt er sich?« Die Bauern, die das Muttergottesbild gesehen hatten, dachten nicht mehr daran, heute noch heimzufahren. Aber auch die anderen, die von dem Wunder nur gehört hatten, begannen, die Pferdchen auszuspannen und sie in den Hof Kristianpollers zu führen. Es schien ihnen nötig, an dem Orte zu bleiben, in dem sich eine so himmlische Begebenheit zugetragen hatte. Langsam erst, mit ihren vorsichtig tastenden, sachte mahlenden Gehirnen nahmen sie die wunderbare Kunde auf, wälzten sie hin und her in den schweren, wiederkäuenden Köpfen, zweifelten, wurden gleich darauf verzückt, bekreuzigten sich, lobten Gott und füllten sich mit Haß gegen die Juden.

Wo war er übrigens, der Jude Kristianpoller? Ein paar gingen in die Schenke, ihn zu suchen. Hinter dem Schanktisch fanden sie nur den Knecht Fedja, der sich betrunken hatte und der seit langem eingeschlafen war. Man suchte in den Gastzimmern, in denen die Offiziere einquartiert waren. Man schlug die Betten auf, öffnete die Kästen. Vor dem Gasthaus und drinnen im Hof sammelten sich die Menschen. Ja, selbst die Bauern, die bereits auf dem Heimweg begriffen gewesen waren, machten kehrt, um das Wunder noch zu erleben. Als sie mit ihren Wägelchen und ihren Frauen und Kindern vor dem Gasthof hielten, schien es ihnen, daß sie nicht etwa umgekehrt waren, um die gnadenreiche Erscheinung anzubeten, sondern, um an dem Juden Rache zu nehmen, der die Mutter Gottes geschändet hatte. Denn eifriger als der eifrigste Glaube ist der Haß, und fix ist er wie der Teufel. Es war den Bauern, als hätten sie alle nicht nur die wunderbare Erscheinung mit eigenen Augen gesehn, sondern auch, als könnten sie sich haargenau an die einzelnen schändlichen Handlungen erinnern, durch die der Jude das Bild beschmutzt und mit blauem Kalk zugedeckt hatte. Und zu ihrem Verlangen nach Rache gesellte sich noch das dumpfe Gefühl einer eigenen Schuld, die sie sich aufgeladen hatten, als sie noch leichtsinnig genug gewesen waren, den Juden nach seinem schmählichen Belieben gewähren zu lasen. Kein Zweifel für sie mehr: dazumal hatte sie der Teufel verblendet.

Sie stiegen von den Wagen, bewaffnet mit Peitschen und Knüppeln, den neugekauften Sensen, Sicheln und Messern. Es war die Stunde, in der die Juden in feiertäglichen Kleidern aus dem Bethaus kamen, beinahe lauter Greise und Krüppel. Ihnen entgegen stürzten sich jetzt die Bauern. Diesen bewaffneten, kräftigen und wütenden Männern erschienen die jüdischen Schwächlinge, die Greise und die Lahmen, die sich da in ihrer sabbatlichen Hilflosigkeit nach Hause schleppten, besonders gefährlich, gefährlicher als Gesundheit, Stärke, Jugend und Waffen. Ja, in dem trippelnden, ungleichmäßigen Schritt der Juden, in der Krümmung ihrer Rücken, in der dunklen Feierlichkeit ihrer langen, auseinanderklaffenden Kaftane, in ihren gesenkten Köpfen und selbst noch in den huschenden Schatten, die ihre schwankenden Gestalten hie und da auf die Straßenmitte warfen, sooft sie an einer der spärlichen Petroleumlaternen vorüberkamen, glaubten die Bauern die wahrhaft höllische Abkunft dieses Volkes zu erkennen, das sich von Handel, Brand, Raub und Diebstahl nährte. Was den Schwarm der humpelnden, armen Juden betraf, so sahen sie wohl, fühlten sie vielmehr das nahende Unglück. Allein, sie wankten ihm entgegen, halb im Vertrauen auf den Gott, den sie soeben im Bethaus gelobt hatten und dem sie sich heimisch und vertraut fühlten (allzu heimisch und allzu vertraut), halb gelähmt von jener Angst, mit der die grausame Natur die Schwachen belädt, damit sie um so sicherer der Gewalt der Starken anheimfallen. In der ersten Reihe der Bauern schritt ein gewisser Pasternak, würdig anzusehn dank seinem gewaltigen, buschigen, grauen Schnurrbart, die Peitsche in der Hand; übrigens ein reicher und also doppelt geachteter Bauer aus der Umgebung von Koropta. Als er in der Höhe des jüdischen Schwarms angelangt war, erhob er die Peitsche, ließ den schwarzen, vielfach geknoteten Riemen zwei-, dreimal über seinem Kopf kreisen und knallen und schlug hierauf, da seine Hand den sicheren Schwung bekommen hatte, mitten in die dunkle Schar der Juden. Er traf ein paar Gesichter. Ein paar Juden schrien auf. Der ganze hilflose Schwarm blieb stehen. Einige versuchten, sich an die Mauern der Häuschen zu drücken und im Schatten zu verschwinden. Andere aber stürzten von dem meterhohen, hölzernen Bürgersteig in die Straßenmitte, geradewegs den Bauern zu Füßen. Man hob sie hoch, warf sie in die Luft, Dutzende von Händen streckten sich, um die wirbelnden Juden aufzufangen und noch einmal, und noch einmal und zum viertenmal in die Luft zu werfen. Es war eine sehr klare Nacht. Gegen den hellblauen, sternenbesäten Himmel hoben sich die tiefschwarzen, flatternden, emporfliegenden und wieder herunterfallenden Juden wie übergroße, seltsame Nachtvögel ab. Dazu kamen immer wieder ihre kurzen, schrillen Schreie, denen das brüllende Gelächter ihrer Peiniger antwortete. Hie und da öffnete eine der wartenden jüdischen Frauen furchtsam einen Fensterladen und machte ihn schnell wieder zu. »Alle Juden zum Hof Kristianpollers und knien und beten!« rief eine Stimme. Es war Ramsin. Und Pasternak trieb mit der Peitsche die Juden vom Bürgersteig. Man nahm sie in die Mitte und führte sie in den Gasthof Kristianpollers.

Hier in der »Kammer«, in der sich das Wunder zugetragen hatte, waren zwei Kerzen angezündet. Sie klebten auf einem Holzscheit und beleuchteten flackernd die Mutter Gottes. Alle Soldaten, auch die Getreuen des Obersten Tarabas knieten vor den Lichtern, sangen, beteten, bekreuzigten sich, neigten ihre Köpfe, stießen mit den Stirnen gegen den Boden. Die Kerzen, die man immer wieder erneuerte (man wußte nicht, wo sie herkamen, es war, als hätten alle Bauern Kerzen mitgebracht), verbreiteten mehr Schatten als Helligkeit. Eine weihevolle Finsternis herrschte in der »Kammer«, eine Finsternis, innerhalb derer die beiden Kerzen zwei leuchtende Kerne bildeten. Es roch nach billigem Stearin, nach Schweiß, Juchten, säuerlichen Schafspelzen und dem heißen Atem der offenen Münder. Oben im Dämmer, im ohnmächtigen und unbeständigen Licht der schwachen Flammen, schien das wunderbare, milde Antlitz der Madonna bald zu weinen, bald tröstlich zu lächeln, zu leben, in einer überirdischen, erhabenen Wirklichkeit zu leben. Als die Bauern mit dem schwarzen Schwarm der Juden ankamen, rief Ramsin: »Platz für die Juden!« Und die kniende und liegende Menge ließ eine Gasse frei. Während die Armen, einzeln und zu zweit, vorwärtsgestoßen wurden, geschah es, daß der und jener Bauer, das Gebet und die Andacht unterbrechend, ausspuckte. Je näher die Juden dem Wunder kamen, desto häufiger und heftiger wurden ihre dunklen Gewänder angespuckt, und bald klebten die vielen Spuren silbrigen Speichels an ihren Kaftanen, gelblicher Schleim, eine schauerliche, abstruse Art von irrsinnigen Knöpfen. Es war lächerlich und schaurig. Man zwang die Juden niederzuknien. Und als sie auf den Knien lagen und mit furchtsamen, ratlosen Gesichtern links und rechts schauten, wie um sich zu vergewissern, woher ihnen größere Gefahr drohe, und in allerhöchster Furcht vor den Kerzen und dem Bild, das diese beleuchteten, die Köpfe wegzuwenden versuchten, schrie plötzlich Ramsin aus dem Hintergrund: »Singen!« Und während die Gläubigen wohl zum fünfzigstenmal das Ave Maria anstimmten, begannen die Juden in ihrer Todesangst, aus zusammengepreßten Kehlen schauerliche Töne hervorzustoßen, die wie aus alten, zerbrochenen Leierkästen kamen und mit der Melodie des Ave nicht die geringste Ähnlichkeit hatten. »Hinlegen!« befahl Ramsin. Und die gehorsamen Juden berührten mit den Stirnen den Boden. Ihre Mützen hielten sie noch krampfhaft in den Händen, gleichsam als die letzten Symbole ihres Glaubens, den man ihnen rauben wollte. »Aufstehn!« kommandierte Ramsin. Die Juden erhoben sich, mit der schwachen, lächerlichen Hoffnung, daß sie nunmehr von ihrer Pein erlöst seien. »Auf, Brüder!« sagte jetzt Ramsins furchtbare Stimme. »Wir wollen sie nach Hause führen!«

Und die Mehrzahl der Andächtigen verließ die Stätte des Wunders. Uniformierte und Bauern, Peitschen, Stöcke und Sicheln in den Händen, trieben den düstern Schwarm der Juden durch die trübe beleuchtete, nächtliche Straße. Man brach in jedes der kleinen Häuschen ein, löschte die Lichter aus, befahl den Juden, sie wieder anzuzünden, weil man wußte, daß ihnen ihr Gesetz verbot, Feuer am Sabbat zu machen. Manche Bauern nahmen die brennenden Kerzen aus den Leuchtern, bargen die Leuchter unter den Röcken, vergnügten sich, die Kerzen an alle zufällig erreichbaren brennbaren Stoffe zu halten und sie anzuzünden. So brannten bald Tischtücher, Vorhänge und Bettlaken. Die jüdischen Kinder erhoben ein jämmerliches Geschrei, die jüdischen Weiber rauften sich die Haare, riefen die Namen ihrer Männer, deren Klang den Peinigern lächerlich und nichtswürdig erschien und der sie bis zum tränenvollen Lachen erschütterte. Verschiedene ahmten das Heulen der Kinder und der Weiber nach. Und es erhob sich ein ganz irrsinniger Tumult in der Luft. Einige von den mitgeschleppten Juden machten den kindischen Versuch, sich in den Häusern, die ihnen vertraut waren, zu verbergen. Sie wurden aber schnell gefaßt und verprügelt. »Wo ist euer Gastwirt, der Kristianpoller?« brüllten immer wieder ein paar Stimmen. So unermeßlich der Lärm war, so deutlich verstand man doch im allgemeinen Getümmel diese fürchterliche Frage. Und da alle Juden, samt ihren Weibern und Kindern, mit allen heiligen Eiden in einem äußerst verworrenen Chor zu schwören begannen, daß sie nicht wüßten, wo ihr Bruder Kristianpoller sei, verstärkten und verdoppelten sich nur die grausamen Fragen. »Wir werden euch zwingen!« rief einer aus der Menge. Es war ein Soldat, ein mächtiger Kerl, mit breiten Schultern und einem winzigen Köpfchen, das an eine kleine Nuß erinnerte, ein armseliges Früchtlein auf einem gewaltigen Stamm. Er zerteilte die Menge, trat vor und stellte sich vor eine junge jüdische Frau, deren bräunliches, schönes Gesicht mit den unschuldig erschrocken aufgerissenen, goldbraunen Augen unter dem weißen, seidig schimmernden Kopftuch den Soldaten schon aus der Ferne angelockt und zur Liebe wie zum Haß gereizt haben mochte. Die junge Frau erstarrte. Sie versuchte nicht einmal zurückzuweichen. »Das ist sie, seine Frau, die Frau des Halunken Kristianpoller!« rief der Soldat. Eine unsagbare, unmenschliche Gier entzündete sein fahles, kleines und nacktes Angesicht. Er erhob einen kurzen, hölzernen Knüppel und ließ ihn auf das Kopftuch der Jüdin niedersausen. Sie fiel sofort um. Alle stießen einen Schrei aus. Blut zeigte sich auf dem schimmernden Weiß des seidenen Kopftuches. Und als hätte der Anblick des roten Blutes, des ersten, das an diesem Tage floß, dem stumpfen Grimm der Menge erst einen deutlichen Sinn und eine bestimmte Richtung gegeben, erwachte auch in den anderen eine unbezwingliche Gier, zu schlagen, zu treten, und schon sahen sie rote Schleier aus Blut vor ihren Augen, rote Schleierströme, wie blutige Wasserfälle. Sie hieben hinein, jeder mit dem Gegenstand, den er gerade in Händen hielt, auf die Menschen, Kinder, Gegenstände, die sich gerade vor ihm und neben ihm befanden.

Als Konzew von der Kaserne her mit einer kleinen Abteilung Soldaten heranrückte, sah er sofort, daß er dem übermäßigen Tumult nicht gewachsen sei. Er schickte schleunigst eine Meldung an den Obersten Tarabas, während er in verschiedenen Sprachen der Menge abwechselnd drohende und beruhigende Worte entgegenrief. Die Bauern und Soldaten aber waren schon zu tief in ihrem Rausch befangen, um noch etwas von diesen ernüchternden Zurufen zu begreifen. Sie fühlten nur undeutlich, daß ihnen hier eine ordnende und also feindliche Gewalt entgegenrückte, und sie machten Anstalten, ihr ebenfalls kräftig zu begegnen. Die Instrumente, mit denen sie soeben losgeschlagen hatten, verwendeten sie als Wurfgeschosse gegen Konzew und die Abteilung. Konzew wagte keinen entscheidenden Befehl, ohne Erlaubnis des Obersten Tarabas. Er wich also vorläufig zurück und verteilte seine wenigen Leuten zu beiden Seiten der Straße, als Wachen vor den noch unversehrt gebliebenen Häusern. Die Menge rückte zwar nicht weiter. Aber um so kräftiger hieb sie auf den Rest des Judenhaufens, auf die Gefangenen in ihrer Mitte. Hie und da schlugen blaue Flämmchen aus den Häusern, und Jammern und Heulen brach durch Fenster und Türen. Konzew wartete ungeduldig. Jeden Augenblick mußte der Oberst Tarabas kommen.

Indessen kam nur der Soldat zurück, den Konzew geschickt hatte. Er meldete, daß alle Offiziere in ihrer Messe, in der Baracke, sich in einem fast leblosen Zustand befänden, und auch der gewaltige Oberst Tarabas unterschiede sich augenblicklich nicht von den andern. Ja, vielleicht sei er sogar noch schlimmer daran. Denn, wie ihm der Koch und die bedienenden Soldaten berichtet hätten, wäre es im Verlauf des Vorabends zu einem Streit gekommen. Der alte Major Libudin, eben jener, der noch aus alten Zeiten das Bahnhofskommando befehligte und auch seinen Abschied nicht zu nehmen gedachte, hätte dem Obersten Tarabas zugerufen, solch eine Art sinnloser Trinkerei hätte man in der alten russischen Armee nicht gekannt. Es wäre nun Streit entstanden. Tarabas hätte alle Unzufriedenen aufgefordert, die neue Armee auf der Stelle zu verlassen. Hierauf hätten sich die Offiziere geschlagen, auch Tarabas. Und nach einer überraschenden, allgemeinen Versöhnung wäre in allen neuerlich die Lust ausgebrochen, sich zu betrinken.

Der Feldwebel Konzew entschloß sich, seine kleine Abteilung wieder zu sammeln und mit gefälltem Bajonett gegen den Haufen der Bauern vorgehen zu lassen. Er wußte noch nicht, daß sich in der Menge Soldaten befanden. Einige unter diesen trugen immer noch die Pistolen, mit denen sie auf Ramsins Zeichnungen geschossen hatten. Sie haßten den Feldwebel Konzew. Sie hatten ihm nichts vergessen. Sie erkannten ihn, seine Stimme, und sie beschlossen, angefeuert von Ramsin, sich an ihm zu rächen. Sie drängten die Bauern beiseite, stießen vor und stellten sich in die ersten Reihen des Haufens. Als Konzew den Befehl gab vorzugehn, schoß Ramsin, und die desertierten Soldaten folgten ihm. Drei von Konzews Leuten fielen. Er begriff die Gefahr, aber es war schon zu spät. Bevor er noch »Feuer!« kommandieren konnte, stießen Ramsin und die Deserteure vor, schossen den Rest ihrer Patronen ab, gefolgt von dem Siegesgeheul der trunkenen Bauern.

In der nächtlichen Straße, die von drei, vier ärmlichen Öllaternen belichtet wurde und über die von Zeit zu Zeit und immer häufiger aus den Judenhäuschen hervorzüngelnde Flämmchen einen huschenden, spärlichen Widerschein warfen, begann ein heftiges, kurzes Handgemenge. Zwar sah der Feldwebel Konzew, alter Soldat, der er war, den Ausgang dieses Kampfes sofort voraus. Er wußte, daß seine kleine Abteilung dem wütenden Haufen nicht standhalten konnte. Und Scham und Jammer empfand er, da er bedachte, daß ihn ein schmähliches Ende nach solch einem schmählichen Handgemenge erwartete, ihn, einen der furchtlosesten Soldaten der großen russischen Armee. Viele Soldaten, brave Feinde, Österreicher und Deutsche, hatte er mit seinen braven Händen getötet. Aus Ratlosigkeit, aber auch aus Treue zu seinem Herrn und Obersten Tarabas, war er hierhergekommen. Was ging ihn dieses neue Ländchen an? Was, zum Teufel, gingen ihn die Juden von Koropta an? – Ach, welch ein Ende für einen alten Soldaten aus dem großen Kriege! – All diese Gedanken jagten mit großer Geschwindigkeit durch den Kopf des großartigen Konzew, während sein militärisches und ordentliches Gewissen, gleichsam als ein ganz besonderes und sein eigentliches Gehirn, ihm alle Maßnahmen diktierte, die in Anbetracht dieser scheußlichen Lage notwendig waren. In der Linken die Pistole, den schweren, krummen Säbel in der Rechten, umgeben von den johlenden Bauern und seinen Todfeinden, den Deserteuren, hieb und schoß der tapfere Konzew nach allen Seiten. Er überragte die Meute, die ihn umdrängte, um seinen ganzen gewaltigen, muskulösen Kopf. An allen Stellen seines Körpers spürte er Schmerzen, ein dichter Hagel von Schlägen fiel auf ihn nieder. Plötzlich fühlte er einen Stich im Hals. Seine blutunterlaufenen, von Schleiern überhangenen Augen konnten noch Ramsin wahrnehmen, der ein gewöhnliches, bäurisches Steckmesser in der erhobenen Hand hielt. »Hund, du«, röchelte Ramsin. »Sohn und Enkel einer Hündin!« Mit der letzten Klarheit, die ihm der nahende Tod bescherte, begriff Konzew die schmachvolle Art seines Untergangs. Ein Bauermesser war ihm in den Hals gefahren. Ein elender Räuber, ein Deserteur hatte es geführt. Erbitterung, Scham und Haß verzerrten sein Angesicht. Er sank hin, zuerst auf die Knie. Dann streckte er die Arme aus, man machte ihm Platz. Er hatte keine Kraft mehr, sich auf die Hände zu stützen. Er fiel der Länge nach hin, mit dem Gesicht in den Schlamm und Unrat der Straßenmitte. Sein Blut strömte aus dem Hals, über den Kragen der Uniform und versickerte in der kotigen Erde. Über seinen Leib und über die Leiber der anderen Soldaten trampelten und stampften die genagelten Stiefel der Menge. Einige hatten sich selbst Wunden zugefügt. Einige andere waren verletzt worden. Aber ihr eigenes rinnendes Blut besänftigte sie keineswegs, sondern berauschte sie noch mehr als das fremde, das sie ringsum fließen sahen. Der kurze Kampf hatte sie ebenfalls nicht etwa ermattet, sondern im Gegenteil ihren Drang zum sinnlosen Wüten noch verstärkt. Aus den riesenhaft aufgerissenen Mündern stießen sie in einem seltsam regelmäßigen, beinahe strengen Rhythmus unmenschliche Rufe aus, in denen Schluchzen, Heulen, Jammer, Jubel, Gelächter, Weinen, der Brunst- und Hungerschrei von Tieren enthalten war. Auf einmal brachte ein Soldat eine Fackel herbei. Er hatte um das obere Ende seines Stockes ein Tischtuch gewickelt, eine der spärlichen Laternen zerschlagen, das Tuch mit Petroleum getränkt und angezündet. Nun schwenkte er die Fackel über den Köpfen zuerst, berührte mit ihr die tief über die Häuschen hängenden trockenen Schindeldächer und entzündete sie. Viele taten wie er. Hierauf begann allmählich die ganze Hauptstraße von Koropta zu brennen. Die leckenden Feuerchen, die lustig und ausgelassen aus den Dächlein zu beiden Seiten der Straße dahertänzelten, erfreuten die Menge dermaßen, daß sie beinahe der Juden vergaß. Man schleppte zwar die Armen immer noch mit, die unaufhörlich stolperten, in die Knie sanken und gewaltsam wieder hochgehoben wurden, aber man stieß und prügelte sie nicht mehr. Man begann sogar, ihnen begütigend und tröstlich zuzusprechen und sie auf die schauerlichen Schönheiten hinzuweisen, die man da angestiftet hatte. »Schau, schau, das Flämmchen!« sagte man. »Sieh, sieh, hier, meine Wunde!« sagte man. »Das tut weh, siehst du?« sagte man. Man hatte sich allmählich an die Juden gewöhnt. Sie waren, nachdem man sie so lange gepeinigt hatte, ein unentbehrlicher Bestandteil des ganzen Triumphzuges geworden. Man hätte sie um keinen Preis entbehren mögen. Die Juden aber erschreckten milde Worte und sanfte Behandlung noch mehr als Schläge und Peinigungen. Es schien ihnen, daß der allgemeinen Milde nur noch stärkere Folterungen folgen müßten. Näherte sich ihren Schultern eine friedliche Hand, so zuckten sie zusammen wie vor einer Peitsche. Sie sahen aus wie ein Häufchen Wahnsinniger, sie stellten eine besondere Art des stumpfen, schwachen und furchtsamen Irrsinns dar, mitten unter dem gewaltsamen und gefährlichen der anderen. Sie sahen ihre Häuser brennen, ihre Weiber, Kinder und Enkel mochten schon tot sein, sie hätten beten mögen, aber sie fürchteten, einen Laut von sich zu geben. Warum strafte sie der alte Gott so hart? Seit vier Jahren schon schüttete er Qualen über Qualen auf die Juden von Koropta. Der Zar, der alte Pharao, war gestorben, ein neuer war auferstanden im ewigen Lande Ägypten, ja, ein ganzes neues, kleines zwar, aber unheimlich grausames Ägypten war auferstanden! Von Zeit zu Zeit stießen die Juden erstickte Seufzer aus; es klang wie die heiseren, furchtsamen Rufe der Möwen vor einem Sturm.

Die Wache in der Kaserne hatte die Schüsse vernommen. Der Rest von Tarabas' Leuten, der in der »Kammer« Kristianpollers verblieben war, ebenfalls. Diese Leute erwachten plötzlich aus dem Rausch, in den sie der Alkohol, das Wunder, das Gebet, der Gesang versetzt hatten. Sie wurden von der Furcht ergriffen, der Furcht der disziplinierten Soldaten, vor dem eigenen, militärischen Gewissen und vor der fürchterlichen Strafe Tarabas'. Einen Teil ihrer Waffen hatten die Deserteure genommen. Die Soldaten in der »Kammer« sahen einander stumm, vorwurfsvoll und ängstlich an, schuldbewußt senkte einer vor dem anderen die Augen. Nun, da sie aus ihrem Rausch erwachten, konnten sie sich zwar an alle Vorgänge dieses sonderlichen und furchtbaren Tages erinnern, aber sie wußten keine Erklärung für den bösen Zauber, dem sie erlegen waren. Immer noch brannten und qualmten die zahllosen Restchen der Kerzen vor der Mutter Gottes. Aber das Bild sah man nicht mehr. Es war, als sei es wieder verschwunden, vom Dämmer verschlungen. »Es geht schrecklich zu«, begann schließlich einer. »Wir müssen in die Kaserne. Wir müssen den Alten verständigen. Wer wagt es?« – Man schwieg. »Wir gehen alle zusammen!« sagte ein anderer. Sie drückten die schwelenden Kerzenstümpfchen aus und verließen die »Kammer«. Sie sahen den Widerschein des Feuers, hörten den Lärm, setzten sich in Trab, liefen im Bogen um die Hauptstraße. Als sie die Kaserne betraten, stand das Regiment zum Ausmarsch bereit. Tarabas saß gerade auf. »Sofort in die Reihen!« rief er ihnen zu. Sie rannten in die Zimmer, suchten und fanden noch ein paar verlassene Gewehre und schoben sich, jeder einzelne, wo er noch Platz fand, in eine der aufgestellten Zugsreihen. Ein paar Offiziere (nicht alle) waren auf den Beinen. Die üblichen Kommandos erfolgten. Das stark gelichtete Regiment rückte in die Stadt, Tarabas zu Pferde, an der Spitze, wie das Reglement es befahl, mit gezogenem Säbel. Sie rückten geradewegs in die Hauptstraße. Der gewaltige Oberst Tarabas, zwanzig Schritt Abstand vor seiner ersten Kompanie, rötlich im Widerschein der Flammen, war so schrecklich anzusehn, daß aller Lärm des irrsinnigen Haufens verstummte. »Zurück!« schmetterte Tarabas. Und gehorsam begannen alle rückwärtszugehen, wandten sich dann um, als wäre ihnen plötzlich zum Bewußtsein gekommen, daß sie, rückwärts schreitend, nicht schnell genug dem gefährlichen Tarabas entfliehen könnten und den zahllosen aufgeplanzten Bajonetten, die sie hinter ihm im Widerschein des Feuers blitzen sahen. Man lief, man rannte um Tod und Leben. Man ließ die Juden, man hatte sie schon vergessen. Sie blieben, ein geschlossener, wie zusammengekitteter, schwarzer Knäuel in der Mitte der Straße. Sie ahnten, daß ihre Rettung nahe war, aber sie wußten zugleich auch, daß sie zu spät kam. Verloren waren sie, für alle Zeiten. Sie rührten sich nicht. Mochten sie von den Rettern endgültig zertreten und zerstampft werden. Tod und Frost waren in ihren Herzen. Nicht einmal ihre körperlichen Schmerzen spürten sie mehr. Auf den hölzernen Bürgersteigen, die auch schon langsam an einigen Stellen zu schwelen anfingen, standen Weiber und Kinder zu beiden Seiten, die brennenden Häuschen im Rücken. Sie schrien nicht. Selbst die Kinder weinten nicht mehr. »Fort! Fort!« befahl Tarabas. Und vor ihm lief jetzt der dunkle Schwarm der Juden einher, zu beiden Seiten, auf den hölzernen Brettern klapperten die hastigen Sohlen der Frauen und Kinder. Nachdem die Straße frei geworden war, begannen die Soldaten aus den Häusern zu retten, was noch zu retten war. Man versuchte, so gut es ging, die Brände zu ersticken. An Wasser fehlte es, auch an Gefäßen. Man konnte nicht daran denken, das Feuer zu löschen. Man warf Mäntel, Steine, Kot auf das Feuer, man holte aus den Stuben wahllos Tische, Bettzeug, Leuchter, Lampen, Töpfe, Schrägen, Wiegen, Brote, Speisen aller Art, Hausrat jeder Gattung. Mit den Stiefeln zertrat man den schwelenden Brand auf den Bürgersteigen. Was man nicht löschen konnte, ließ man brennen, man versuchte, mit Bajonetten, Säbeln und Gewehrkolben Schindeln abzureißen, Mauern zu zerschlagen, brennendes Bettzeug niederzustampfen. Eine Stunde später konnte man nur noch bläuliches Züngeln, gelbliches Schwelen, rötliches Verglühen der ganz und halb abgebrannten Häuser von Koropta sehen und den erstickenden, blaugrauen Dunst, der das ganze Städtchen einhüllte. Ermattet und reglos lagerten und hockten die Soldaten in der Straße. Sie erwarteten gleichgültig den Morgen. Kein Wind regte sich, zum Glück. Von den wenigen unversehrt gebliebenen Häusern Koroptas enthielt nur eines noch lebendige Bewohner: der Gasthof »Zum weißen Adler«; der Gasthof des verschwundenen Juden Kristianpoller. Hier im Hof und in den Stuben, im geräumigen Gastzimmer und im Keller drängten sich die Juden und die Bauern. Manche hatten Schrecken und Müdigkeit, Alkohol, Betäubung und Schmerzen eingeschläfert. Bauern und Juden lagen nebeneinander. Man sah keine Soldaten mehr. Die Deserteure, unter Ramsins Führung, hatten Koropta schon verlassen. Kinder schrien aus dem Schlaf, Frauen schluchzten. Ein paar Juden hockten da, fanden keine Kraft mehr, sich zu erheben, beteten summend und singend und wiegten ihre Oberkörper im Takt zu ihren alten Melodien.

Als der Morgen anbrach, ein heiterer Morgen, der wieder einen der gewohnten goldenen Tage dieses späten, sonderbaren Herbstes verkündete, erwachten die Bauern zuerst, taumelten ein wenig, weckten ihre Weiber und gingen hinaus, nach ihren Pferden und Wagen zu sehn. Sie erinnerten sich langsam und schwer an den Abend, an die Nacht, das Feuer, den Kampf, das Wunder und an die Juden. Sie gingen in die »Kammer«. Und siehe da: das wunderbare Bild der Mutter Gottes lebte noch an der Wand, davor lagen unzählige Holzscheite, und auf den Scheiten klebten unzählige ausgebrannte Kerzenstümpfchen. Es war also wirklich wahr. Das milde Antlitz der Mutter Gottes zeigte im grauen Licht des Morgens keine veränderten Züge. Gütig, lächelnd, schmerzlich leuchtete es elfenbeinfarben über dem blutroten Gewand. Seine Güte, sein Weh, seine himmlische Trauer, seine selige Schönheit waren wirklicher als der Morgen, die aufgehende Sonne, die Erinnerung an die blutigen und feurigen Schrecken der vergangenen Nacht. Die Erinnerung an all das verschwand vor der Heiligkeit des Bildes. Und mochte auch in dem und jenem der Bauern Reue wach werden, es war ihnen, als sei alles schon vergeben, da es ihnen nur vergönnt war, das liebliche Antlitz anzuschauen.

Indessen: sie waren Bauern. Sie dachten an ihre Gehöfte und Höfe, an die Schweine und an das Geld, das sie in ihren Säckchen um den Hals trugen. Sie mußten nach Hause, in die umliegenden Dörfer. Und sie beeilten sich doppelt und dreifach, denn sie mußten zu den zu Hause verbliebenen Brüdern Kunde von dem Wunder in Koropta geben. Zugleich ahnten sie, daß ihnen Gefahr von dem Regiment des Obersten Tarabas noch drohen könnte, das sie gestern in die Flucht getrieben hatte. Sie bestiegen die Wägelchen. Sie peitschten die Pferdchen an und jagten davon, den umliegenden Dörfern zu.

Als der Oberst Nikolaus Tarabas in den Gasthof Kristianpollers einritt, fand er nur noch die jammernden Juden vor, die ihm mit verzweifelten, verweinten und zerschundenen Gesichtern, flehend erhobenen Händen, namenlosen Schrecken und Schmerz in den Augen, entgegentraten. Er befahl ihnen, den Gasthof zu verlassen, sich in den noch unversehrt gebliebenen Häusern zu verbergen und sich nicht zu rühren, ehe nicht neue Befehle ergangen wären. Und da sie ihn dauerten, gab er ihnen die Versicherung, daß die Soldaten über sie wachen würden, solange sie sich still, in den Häusern eingeschlossen, verhielten. Sie zogen davon.

Ein paar Offiziere kamen. Tarabas ging mit ihnen in die »Kammer«, das Wunder zu sehn. Vor dem Bildnis der Mutter Gottes zogen sie die Mützen ab. Tarabas' Soldaten hatten berichtet, wie Ramsin auf seine schamlosen Zeichnungen geschossen und wie sich unter dem Kalk das Bild plötzlich gezeigt hatte. Tarabas bekreuzigte sich. Im ersten Augenblick hatte er Lust niederzuknien. Er überlegte schnell, daß er nach den Vorfällen der letzten Nacht, der mörderischen Folge eines blinden Glaubens, eine vernünftige Haltung einzunehmen verpflichtet war. Hinter ihm standen die Offiziere. Er schämte sich. Er durfte keine Bewegung machen, die seine bigotten Regungen verraten hätte. Er bekreuzigte sich noch einmal und machte kehrt.

Der Gastwirt Kristianpoller mußte sich nach Tarabas' Meinung noch irgendwo im Gasthof verborgen halten. Er befahl, alle Winkel des Hauses zu durchsuchen. Unterdessen brachte man die in der Nacht getöteten Soldaten in den Gasthof. Es waren fünf, der Feldwebel Konzew unter ihnen. »Legt den Konzew in mein Zimmer!« befahl der Oberst Tarabas.

Er gab ein paar Anweisungen für die nächste Stunde. Er befahl eine telefonische Verbindung mit der Hauptstadt, mit dem General Lakubeit. Dann ging er in sein Zimmer, riegelte die Tür ab und setzte sich neben das Bett, auf das man den toten Konzew gelegt hatte.


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