Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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XI

In den folgenden Tagen fühlte sich Oberst Tarabas, der furchtbare König von Koropta, nicht mehr heimisch in seinem Reich. Erwachte er des Morgens in dem breiten und gefälligen Bett, das ihm der Gastwirt Kristianpoller bereitet hatte, so wußte der König Tarabas nicht mehr, was sich gestern alles zugetragen hatte. Und die Erwartung der Dinge, die sich heute noch ereignen sollten, verwirrte ihn noch mehr. Denn wahrhaft verwirrend waren die Ereignisse, die sich in diesen Tagen rings um den Obersten häuften, teuflische Ereignisse. Teuflische Papiere brachten die häufigen Kuriere, die herbeikamen aus der Hauptstadt, zu Fuß, in Wagen, beritten und in alten Militärautomobilen. Es war für Tarabas kein Zweifel, daß in diesem seinem neuen Vaterland ein papierener Teufel regierte. Unter seinem Befehl saßen tausend wütige Schreiber in der neuen Hauptstadt und sannen auf listige Pläne, Tarabas zu verderben. Rothaarige Schreiber waren es, rothaarige Juden vielleicht. Der Bursche mußte den Obersten am Morgen ankleiden, rasieren und bürsten. Er mußte ihm die schweren, engen Stiefel anpassen, neben dem Herrn vor dem Bett niederknien, Kopf und Oberkörper zwischen den gespreizten Beinen des Obersten bald vorstrecken und bald zurückziehen, die starken, braunen Fäuste abwechselnd an den Schäften und Zuglappen des rechten und an denen des linken Stiefels, hierauf geduckt vorkriechen und kräftig gegen Fersen und Sohlen klopfen, damit der Fuß Tarabas' endlich bequem in seine Behausung gelange. Denn es war, als ob sich der ganze Widerwille Tarabas' gegen den neuen Tag, der sich da drohend vor dem Fenster erhob, in den widerspenstigen Füßen gesammelt hätte. Um sie an die Erde wieder zu gewöhnen, stampfte er ein paarmal dröhnend auf den Boden, reckte dabei die Arme hoch, gähnte, mit einem langgezogenen, hohlen Schrei, und ließ sich den Riemen mit Dolch und Pistole umgürten. Es sah aus, als würde ein königliches Roß angeschirrt. Das war der Augenblick, in dem der Jude Kristianpoller, der seit dem ersten Morgengrauen hinter der Tür gelauscht hatte, auf lautlosen Pantoffeln in die Schenke eilte, den Tee zu bereiten. Kam dann der Oberst in die Schankstube, so rief Kristianpoller ein lautes »Guten Morgen«, das wie bestimmt war, eine ganze Stadt zu begrüßen. Es war, als schallte die ganze große Freude des Juden, seinen erhabenen Gast endlich wiederzusehn, in diesem Gruß. »Guten Morgen, Jude!« erwiderte der Furchtbare. Es war ihm angenehm, der lärmende Gruß Kristianpollers weckte ihn erst eigentlich, bestätigte ihm auch, daß er noch mächtiger war als der anbrechende Tag; mochte der noch viele neue Papiere bringen. Gierig, mit gewaltigen Schlucken trank er den glühenden Tee, erhob sich, grüßte und rasselte in die Kaserne. Alle, die ihm unterwegs begegneten, wichen ihm aus und verbeugten sich tief. Er aber sah niemanden an.

Neues Unglück erwartete ihn in der Kanzlei. Er war ein gebildeter Mensch, Akademiker sogar. Einmal, vor Jahren, hatte er ganz verteufelte Formeln begriffen, Prüfungen bestanden. Ach, kein schlechtes Köpfchen war der Tarabas gewesen! Heute hatte er zwei Hauptleute zu Hilfe genommen; vier Schreiber, befehligt von einem kundigen Unteroffizier, saßen da und schrieben (auch sie wie Teufel). Alle zusammen verwickelten noch mehr die unzähligen Erlässe, die aus der Hauptstadt kamen, verwickelten die Anfragen, lösten keines der vielen Rätsel, verdichteten den Nebel, der sich aus den Papieren zu erheben schien, traten vor Tarabas mit verwirrenden Berichten, fragten ihn, ob sie dies und jenes zu tun hätten, und sagte er ihnen, sie möchten ihn in Ruhe lassen, so verschwanden sie wie Gespenster, vom Erdboden verschluckt, und ließen ihn allein mit der Qual der Verantwortung! Ach, er sehnte sich nach dem Kriege, der gewaltige Tarabas! Die wahllos Zusammengelaufenen, aus denen sich sein neues Regiment zusammensetzte, waren nicht seine alten Soldaten. Aus Hunger waren sie zu Tarabas gekommen, aus keinem andern Grunde. Jeden Tag meldete man ihm Desertionen. Jeden Tag, wenn er den Exerzierplatz besuchte, bemerkte er neue Lücken in den einzelnen Zügen. Man exerzierte faul und schläfrig. Ja, einige seiner Offiziere hatten nicht einmal eine Ahnung von Kompanieexerzieren. Welch Greuel für einen Tarabas! Nur auf seine wenigen Getreuen, die er hierher nach Koropta mitgebracht hatte, konnte er sich noch verlassen. Die andern fürchteten ihn zwar noch; aber schon fühlte er, daß diese Furcht auch den Verrat gebären konnte und den Meuchelmord. Gehorchte man noch seinen Befehlen? – Man nahm sie nur ohne Widerspruch entgegen. Auflehnung wäre ihm genehmer gewesen.

Und Tarabas erinnerte sich an den unseligen Sonntag, an dem der rote Fremdling zum erstenmal vor ihm erschienen war und mit dem das große Unheil angefangen hatte. Zeitweilig erfüllte ihn ein grimmiger Haß gegen seine Untergebenen, wie er ihn niemals gegen den Feind gekannt hatte. Und er erhob sich am Abend, wenn er sicher war, daß sie alle, seine Feinde, schon lange schliefen, vom friedlichen Tisch des Gasthofs, verließ ohne Gruß die Gesellschaft der zechenden Kameraden und eilte, Rachedurst im Herzen, mit großen Schritten in die Kaserne. Er visitierte die Wachen, ließ die Zimmer öffnen, riß die Decken von den nackten Leibern der Schlafenden, durchsuchte Lager und Strohsäcke, Rucksäcke und Bündel, Taschen und Kissen, kontrollierte das Klosett, drohte, den und jenen zu erschießen, fragte nach den Militärpässen, den Papieren, den Schlachten, die der und jener mitgemacht hatte, wurde plötzlich gerührt, war nahe daran, sich zu entschuldigen, dann von neuem Grimm gegen sich selbst erfüllt, hierauf von Wehmut und Mitleid. Tief beschämt, aber die Scham geborgen hinter klirrender Furchtbarkeit, stampfte er von dannen (und wie gerne hätte er seinen Schritt lautlos gemacht), zurück in den Gasthof.

Noch hatte er keine Löhnung für seine Mannschaft bekommen, keine Gage für sich und seine Offiziere. Seine Getreuen stahlen und raubten, was sie brauchten, wie sie gewohnt waren, in Häusern und Gehöften. Der Bevölkerung hatte er, der Sitten eingedenk, die in eroberten Gebieten galten, befohlen, vorläufig jeden Nachmittag dem Regiment Lebensmittel zu liefern. Pünktlich jeden Nachmittag um vier Uhr standen die Einwohner von Koropta mit Körben und Bündeln im Hof der Kaserne. Sie bekamen für Fleisch, Eier, Butter und Käse sogenannte Quittungen, winzige Zettelchen. Überreste und Fetzen aus altem vergilbtem Kanzleipapier, beschrieben von der ungelenken Hand des Feldwebels Konzew, gezeichnet von Tarabas mit einem kraftvollen T. Einmal sollten, nach Tarabas' Kundgebung, die drei seiner Männer unter heftigem Trommeln in Koropta verlautbart hatten, diese Quittungen eingelöst und bezahlt werden. Man traute den Trommlern nicht. Wie oft schon im Verlauf dieses Krieges hatten die Menschen von Koropta Trommler vernommen! Aber furchtsam wie bisher brachten sie in die Kaserne, was sie an entbehrlicher Nahrung besaßen oder gekauft hatten – und auch die Ärmsten trugen noch eine Kleinigkeit herbei, ein Töpfchen Schmalz, eine Schnitte Brot, Kartoffeln, Zuckerrüben, Rettich und gebratene Äpfel.

Die unersättlichen Offiziere verpflegte der Jude Kristianpoller. Der alte, hilfreiche und grausame Gott schenkte dem Juden Kristianpoller an jedem neuen Tag ein neues Geschenk. Aus dem Dörfchen Hupki kam der gute Schwager Leib mit einem halben Ochsen. Und am nächsten Tage erschien unerwartet der Schinder Kuropkin, der ein gestohlenes Schwein gegen einen Liter Schnaps umzutauschen gehofft hatte. Nicht vergeblich war seine Hoffnung gewesen. Zwei Liter gab ihm Kristianpoller. Dafür schlachtete Kuropkin eigenhändig das Schwein und briet es im Hof im offenen Feuer. Mit Geld hatte bis jetzt nur der furchtbare Tarabas bezahlt. Von den anderen hatte Kristianpoller nicht einmal Quittungen erhalten. Aber was bedeutete auch das neue, in der Hast hergestellte Papiergeld, das der neue Staat auslieferte? Würde es noch zu Lebzeiten Kristianpollers in bares Gold umgetauscht werden? Bares Gold, fünf meterhohe Rollen aus goldenen Zehn-Rubel-Stücken, bewahrte Kristianpoller im zweiten Stockwerk seines Kellers auf. Schon bereitete er sich auf den Tag vor, an dem er, die Gefräßigkeit seiner verhaßten Gäste zu befriedigen, in den Keller steigen würde, um etwas von einer der Rollen abzuheben. Aber er betete, dieser Tag möchte noch sehr ferne liegen.

Schon hatte Tarabas Botschaft nach der Hauptstadt geschickt, es fehle an Geld und er könne, wenn es ausbliebe, Meuterei und Unruhe erwarten. An einem der nächsten Tage erschien ein eleganter Leutnant in der neuen Uniform des Landes in Koropta, just zu einer Zeit, in der Oberst Tarabas bereits in der Gesellschaft der Kameraden trank. Der Leutnant meldete, daß am nächsten Tage die Exzellenz, der General Lakubeit, die Garnison inspizieren werde. Tarabas erhob sich. »Bringt er Geld, der General?« fragte er. »Gewiß!« sagte der Leutnant. »Setz dich und trink!« befahl Tarabas.

Der Leutnant setzte sich gehorsam. Er trank sehr wenig. Er war der Adjutant eines nüchternen Generals.


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