Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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XX

Gegen sechs Uhr abends erwachte der Oberst Tarabas. Durch das unverdeckte Fenster sah er Sterne am Himmel. Er glaubte, es müsse späte Nacht sein. Er bemerkte, daß er nicht in seinem Zimmer lag; und er erinnerte sich, daß er am Nachmittag nach Hause in den Gasthof gekommen war und daß ihm der Knecht Fedja ein neues Zimmer gegeben hatte, weil in seinem früheren der tote Feldwebel Konzew gelegen war. Dann entsann sich Tarabas, daß man um zwölf Uhr mittags Konzew und die anderen begraben hatte. Man wollte Tarabas das Zimmer des seligen Großvaters anweisen: dies hier war also das Zimmer, in dem der Großvater des Juden Kristianpoller gelebt hatte und wahrscheinlich auch gestorben war.

Es war hell. Der blaue Schimmer der Nacht ließ alle Gegenstände erkennen. Tarabas setzte sich aufrecht. Er bemerkte, daß er im Mantel, mit umgeschnalltem Riemen und in Stiefeln auf dem Bett lag. Er sah sich im Zimmer um. Er sah den Ofen, die Kommode, den Spiegel, den Schrank, die kahlen, weißgetünchten Wände. Nur zur Linken des Bettes hing ein Bild. Tarabas erhob sich, um es genauer zu betrachten. Es zeigte ein breites Angesicht, umgeben von einem fächerartigen Bart. Der Oberst trat einen Schritt zurück. Er steckte die Hände in die Taschen, er wollte seine Zündhölzer hervorholen. Seine Hände befühlten etwas Haariges und Klebriges.

Er zog sie sofort heraus. Kerze und Streichhölzer waren auf dem Nachttisch. Tarabas machte Licht. Er hob die Kerze hoch und las die Unterschrift unter dem Bild. Sie lautete: »Moses Montefiore«.

Es war ein billiger Stich, wie er zu Hunderten in vielen jüdischen Häusern des Ostens verbreitet ist. Der Name bedeutete Tarabas gar nichts. Der Bart aber erschreckte ihn gewaltig.

Er steckte die Hände noch einmal in die Taschen und zog zwei klebrige, verfilzte Knäuel roter Menschenhaare hervor. Mit Abscheu warf er sie auf den Boden, bückte sich sofort und hob sie wieder auf. Er betrachtete sie eine Weile in der offenen Hand und steckte sie in die Taschen. Hierauf erhob er noch einmal die Kerze und leuchtete genauer, Zug um Zug, das Angesicht Montefiores ab. Das Porträt hing unter Glas, in einem dünnen, schwarzen Holzrahmen. Auf dem Kopf trug Montefiore ein rundes Käppchen, genau wie der Gastwirt Kristianpoller. Das breite, weiße Angesicht, vom dichten, weißen Fächerbart umrandet, erinnerte an einen gütigen, umnebelten Mond in milden Sommernächten. Der halbverhängte, dunkle Blick zielte in eine bestimmte, nicht zu erahnende Ferne.

Tarabas stellte die Kerze auf den Nachttisch und begann auf und ab zu gehn. Er vermied es, noch einmal einen Blick auf das Bild zu werfen. Aber bald hatte er das deutliche Gefühl, daß ihn der unbekannte Montefiore von der Wand her aufmerksam betrachtete. Er löste das Bild vom Nagel, kehrte es um und stellte es auf die Kommode, mit dem Rücken zum Zimmer. Die Rückwand des Rahmens bestand aus nacktem, dünnem Holz und ein paar kleinen Nägelköpfchen an den vier Rändern.

Nunmehr glaubte Tarabas, daß er ungestört auf und ab wandeln könnte. Aber er irrte sich. Hatte er den Blick Montefiores auch abgewendet, so erwachte jener Rothaarige, dessen Bart er noch in der Tasche trug, wie er leibte und lebte, vor Tarabas' Augen. Er hörte wieder die kleinen, piepsenden Angstrufe des hin und her geschüttelten Juden und dann den letzten, schrillen Schrei.

Noch einmal zog Tarabas aus der Tasche das verfilzte Knäuel. Er betrachtete es längere Zeit, mit stumpfen Augen.

Plötzlich sagte er: »Sie hat recht gehabt!«

»Sie hat recht gehabt«, wiederholte er – und ging hin und zurück. »Sie hat recht gehabt – ich bin ein Mörder.«

Es war ihm in diesem Augenblick, als hätte er eine unendlich schwere Bürde auf den Rücken genommen, aber zugleich auch, als wäre er von einer noch unsäglicher drückenden befreit worden. Er befand sich in dem Zustand eines Menschen, der, seit undenklichen Jahren verurteilt, eine Last aufzuheben, die zu seinen Füßen liegt, sich endlich von dieser Last beschwert weiß, ohne daß er sie sich selbst aufgeladen hätte; als wäre sie plötzlich lebendig auf seine Schultern gelangt. Er beugte den Rücken. Er nahm die Kerze in die Hand. Und als wäre die Tür des Zimmers nicht hoch genug, um ihn durchzulassen, senkte er den Kopf, um sie zu durchschreiten. Er ging die schmale, ächzende Treppe hinunter, vorsichtig Stufe um Stufe beleuchtend. Aus der Gaststube kamen ihm die Stimmen der Kameraden entgegen. Er trat ein, die brennende Kerze in der Hand. Er stellte sie auf den Schanktisch. Die Uhr zeigte sieben. Er erkannte, daß es erst sieben Uhr abends war. Er grüßte kurz. Die Offiziere warteten auf ihr Abendessen. Zu Fedja sagte er leise: »Ich möchte in den Keller, zu Kristianpoller.«

Sie stiegen in den Keller. Auf dem letzten Treppenabsatz rief Tarabas: »Ich bin's, Tarabas!«

Kristianpoller stemmte den eisernen Stab gegen die Platte. Fedja zog sie an der Öse hoch.

»Euer Hochwohlgeboren!« sagte Kristianpoller.

»Ich habe mit dir zu sprechen!« sagte Tarabas. »Bleiben wir hier. Fedja soll gehn.«

Als sie allein waren, begann Tarabas: »Wer ist dein Moses Montefiore?«

»Das ist«, erwiderte Kristianpoller, »ein Jude aus England. Er war der erste jüdische Bürgermeister von London. Wenn er bei der Königin eingeladen war, bereitete man ihm ein Essen, ihm allein, wie es die jüdische Religion vorschreibt. Es war ein großer Gelehrter und ein frommer Jude.«

»Sieh her«, sagte Tarabas und zog aus der Tasche den roten Bartknäuel. »Sieh her, Kristianpoller, verstehe mich auch recht! Ich habe heute einem Juden sehr weh getan.«

»Ja, ich weiß, Euer Hochwohlgeboren«, erwiderte Kristianpoller. »Manche kennen nämlich mein Versteck. Und die Juden stehlen sich doch auf die Straße. Es ist einer gekommen. Er hat mir erzählt. Sie haben Schemarjah den Bart ausgerissen.«

»Ich gebe dir einen Soldaten mit!« sagte Tarabas. »Geh, hole mir diesen Schemarjah her! Ich werde euch hier erwarten.«

Sie stiegen die Treppe hinauf. »Wache!« rief Tarabas. Der Soldat begleitete Kristianpoller in die Straße.

Aber der Wirt kam nach wenigen Minuten zurück. »Er ist nicht mehr zu finden«, sagte er. »Euer Hochwohlgeboren müssen wissen«, fügte er hinzu, »er war ein Narr. Ein Schwachkopf. Sein Sohn hat ihm ganz den Kopf verdreht ...«

»Seinen Sohn kenne ich«, sagte Tarabas.

»Nun, er ist, sagen die Juden, in die Wälder geflohen.«

»Ich werde ihn finden«, sagte Tarabas.

Sie schwiegen eine lange Zeit. Sie saßen im ersten Stockwerk des Kellers, jeder auf einem kleinen Branntweinfaß. Auf einem dritten stand die Kerze. Das Licht flackerte. An den feuchten, rissigen Wänden huschten die Schatten der beiden Männer auf und nieder. Der Oberst Tarabas schien nachzudenken. Kristianpoller wartete.

Endlich sagte Tarabas: »Hör zu, mein Lieber! Geh hinauf. Bring mir einen deiner Anzüge. Leih ihn mir!«

»Sofort!« sagte der Jude.

»Und mach ein Bündel daraus!« rief ihm Tarabas nach.

Als Kristianpoller mit dem Bündel in den Keller zurückkam, sagte Tarabas: »Ich danke dir! Ich werde für ein paar Tage verschwinden; aber sag niemandem etwas davon!«

Und er verließ den Keller.


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