Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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VI

Der Krieg wurde seine Heimat. Der Krieg wurde seine große, blutige Heimat. Von einem Teil der Front zum andern kam er. Er kam in friedliches Gebiet, setzte Dörfer in Brand, ließ die Trümmer kleiner und größerer Städte zurück, klagende Frauen, verwaiste Kinder, geschlagene, aufgehängte und ermordete Männer. Er kehrte um, erlebte die Unrast auf der Flucht vor dem Feind, nahm Rache im letzten Augenblick an vermeintlichen Verrätern, zerstörte Brücken, Straßen, Eisenbahnen, gehorchte und befahl, und alles mit gleicher Lust. Er war der mutigste Offizier in seinem Regiment. Patrouillen führte er mit der Vorsicht und Schlauheit, mit der die nächtlichen Raubtiere auf Beute ausgehn, und mit der zuversichtlichen Kühnheit eines törichten Mannes, der seines Lebens nicht achtet. Mit Pistole und Peitsche trieb er seine zaghaften Bauern zum Sturm, den Mutigen aber gab er ein Beispiel: er lief ihnen voran. In der Kunst, unsichtbar, maskiert durch Pflanze, Baum und Strauch, geborgen von der Nacht oder in den morgendlichen Nebel gehüllt, sich an Drahtverhaue heranzuschleichen, um den Feind zu vernichten, erreichte ihn keiner. Karten brauchte er nicht zu lesen, die Geheimnisse jedes Terrains errieten seine geschärften Sinne. Verhüllte und entfernte Geräusche vernahm sein hurtiges Ohr. Flink ergriff sein wachsames Auge alle verdächtigen Bewegungen. Seine sichere Hand griff zu, schoß und verfehlte kein Ziel, hielt, was sie gefaßt hatte, schlug unerbittlich auf Gesichter und Rücken, ballte sich zur Faust mit grausamen Knöcheln, öffnete sich aber bereitwillig und mit stählerner Zärtlichkeit zu kameradschaftlichem Druck. Tarabas liebte nur seinesgleichen. Er wurde ausgezeichnet und zum Hauptmann befördert. Wer immer in seiner Kompanie Neigung zum Zaudern verriet, geschweige denn Feigheit, war sein Feind, wie der Feind, gegen den die ganze Armee kämpfte. Wer aber, wie Tarabas selbst, das Leben nicht liebte und den Tod nicht scheute, war der Freund seines Herzens. Hunger und Durst, Schmerz und Müdigkeit, durchwanderte Tage und Nächte ohne Schlaf stärkten sein Herz, erfreuten es sogar. Vollkommen außerstande, strategisches Talent zu beweisen und, was man in der Militärsprache »größere Aktionen« nennt, zu begreifen, war er ein außerordentlicher Frontoffizier, ein ausgezeichneter Jäger auf kleinen Jagdabschnitten. Ja, ein Jäger war er, ein wilder Jäger war Nikolaus Tarabas.

Die schwere Trunkenheit lernte er kennen und die flüchtige Liebe. Vergessen waren Haus, Hof, Vater und Mutter und die Cousine Maria. Als er sich ihrer aller eines Tages erinnerte, war es zu spät, ihnen Nachricht zu geben; denn Tarabas' Heimat war damals vom Feinde besetzt. Wenig bekümmerte ihn dies, der Krieg war seine große, blutige Heimat geworden. Vergessen waren New York und Katharina. Dennoch, in manchen Pausen, zwischen Gefahr und Gefecht, Trunkenheit und Nüchternheit, flüchtigem Rausch und flüchtigem Mord, ward es Tarabas sekundenlang (aber auch nur so lange) klar, daß er seit der Stunde, in der ihm die Zigeunerin auf dem New Yorker Jahrmarkt geweissagt hatte, als ein Verwandelter lebte, ein Verwandelter, ein Verzauberter und wie in einem Traum Befangener. Ach, es war nicht sein Leben mehr! – Zuweilen war es ihm, als sei er gestorben und das Leben, das er jetzt führte, bereits ein Jenseits. Doch verflogen diese Sekunden der Besinnung, und Tarabas versank aufs neue im Rausch des Blutes, das rings um ihn floß und das er fließen ließ, im Geruch der Kadaver, im Dunst der Brände und in seiner Liebe zum Verderben.

So ging er denn, so ließ er sich kommandieren, von Brand zu Brand, von Mord zu Mord, und nichts Böses widerfuhr ihm. Eine höhere Gewalt hielt Wacht über ihn und bewahrte ihn auf für sein merkwürdiges Leben. Seine Soldaten liebten ihn und fürchteten ihn auch. Seinem Blick gehorchten sie und dem leisesten Wink seiner Hand. Und lehnte sich einer unter ihnen gegen Tarabas' Grausamkeit auf, so hielt fast keiner der anderen zu dem Empörer. Alle liebten sie Tarabas; und alle fürchteten sie ihn.

Auch Tarabas liebte seine Leute, in seiner Art liebte er seine Leute, weil er ihr Gebieter war. Er sah viele von ihnen sterben. Ihr Tod gefiel ihm. Es gefiel ihm überhaupt, wenn man rings um ihn starb, und wenn er, wie er auch mitten zwischen den Schlachten als einziger im Regiment zu tun gewohnt war, durch den Schützengraben ging, die Namen seiner Leute verlas und die Antwort »gefallen« von den Kameraden hörte, so zeichnete er ein Kreuz in sein Notizbuch. In diesen Augenblicken genoß er manchmal die Vorstellung, er sei ja überhaupt selbst schon tot; alles, was er da erfuhr, geschähe im Jenseits; und die anderen, die Gefallenen, seien so gewiß in ein drittes Leben eingekehrt wie er selbst nunmehr in sein zweites.

Er wurde niemals verwundet und niemals krank; er bat auch niemals um einen Urlaub. Der einzige war er im Regiment, der keine Post bekam und keine erwartete. Von seinem Haus sprach er niemals. Und dies befestigte die Meinung, die man von ihm hatte, daß er ein gar Sonderbarer sei.

So verlebte er den Krieg.

Als die Revolution ausbrach, behielt er seine Kompanie ingrimmig in der Gewalt, mit Gebärden, Fäusten, Blick, Pistole und Stock. Es war nicht seine Sache, zu verstehen, was in der Politik vorging. Es kümmerte ihn nicht, ob der Zar abgesetzt war. In seiner Truppe war er selbst der Zar. Es war ihm nur angenehm, daß seine Vorgesetzten, der Stab, das Armeekommando, verworrene und widerspruchsvolle Befehle auszuteilen begannen. Er brauchte sich nicht um sie zu kümmern. Bald gewann er, weil er der einzige im ganzen Regiment war, den die Revolution nicht verwirrt und nicht verwandelt hatte, mehr Macht als der Oberst selbst. Er kommandierte das Regiment. Und er verlegte es nach seinem Gutdünken dahin und dorthin, führte selbständige Kämpfe, brach in gleichgültige Dörfer und Städtchen ein, frisch und munter wie in den ersten Wochen des Krieges.

Eines Tages – es war ein Sonntag – tauchte in seinem Regiment ein Soldat auf, den Tarabas noch niemals gesehen hatte. Zum erstenmal, seitdem er eingerückt war, erschrak er gewaltig vor einem ganz gewöhnlichen Infanteristen. Sie lagen in einem winzigen, halbzerschossenen galizischen Dorf. Der Hauptmann Tarabas hatte sich in einer der noch ziemlich gut erhaltenen Hütten einquartiert, die Nacht mit der vierzehnjährigen Tochter der Bäuerin verbracht, am Morgen bei seinem Burschen Kaffee mit Schnaps bestellt. Es war ein sonniger Tag, gegen neun Uhr morgens. In frischgewichsten Stiefeln, in gesäuberten, lederbespannten, breiten Reithosen, ein Reitstöckchen in der Hand, rasiert und mit dem ganzen Wohlgefühl ausgestattet, das einen Mann wie Tarabas nach einer wohlig verbrachten Nacht an einem glänzenden Herbstmorgen erfüllen konnte, verließ der Hauptmann die Hütte und das Mädchen, das im Hemd vor der Tür hockte. Tarabas schlug es mit seiner Reitgerte zärtlich auf die Schulter. Das Mädchen erhob sich. Er fragte, wie es heiße: »Der Herr hat mich schon gestern abend nach meinem Namen gefragt«, sagte das Mädchen, »als ich ins Bett kam.« In ihren winzigen, grünen, tief in die Wangen gebetteten Augen stand ein schelmisches und böses Feuerchen. Tarabas sah ihre junge Brust unter dem Hemd, ein dünnes Kettchen am Hals, dachte an das Kreuz, das Maria getragen hatte, und sagte, indem er ihren Scheitel mit der Reitpeitsche berührte: »Du heißt Maria, von nun ab, solange ich hierbleibe!« »Jawohl, Euer Gnaden!« sagte das Mädchen. Und pfeifend ging Tarabas von dannen.

Er war, wie gesagt, in herrlicher Laune. Mit seinem Reitstöckchen versuchte er, die blinkenden Fäden des Altweibersommers zu zerteilen. Es gelang ihm nicht; diese merkwürdigen Kreaturen aus Nichts schlangen sich vielmehr um das Stöckchen, umschmeichelten es geradezu. Auch dies gefiel Tarabas. Hierauf drehte er sich eine Zigarette aus dem Tabak, den er lose in der Tasche trug, und verlangsamte den Schritt. Er näherte sich dem Lager seiner Leute. Schon kam der Unteroffizier, ihm Bericht zu erstatten. Sonntag war heute. Die Soldaten lagen faul und matt an den Wiesenabhängen und auf den Stoppelfeldern. »Liegenbleiben!« rief Tarabas, als er sich ihnen näherte. Trotzdem erhob sich einer, einer der ersten, vom Wegrand. Und obwohl dieser Soldat vorschriftsmäßig und sogar ehrerbietig grüßte, unbeweglich wie ein Pfahl, lag in seiner ganzen Erscheinung für das Gefühl des Hauptmanns Tarabas etwas Widerspenstiges, Freches, etwas unbegreiflich Überlegenes. Nein, der war nicht von Tarabas' Hand erzogen worden! Ein Fremder war's in dieser Kompanie!

Tarabas trat näher – und gleich darauf einen Schritt zurück. In diesem Augenblick begann die Glocke der kleinen griechischen Kirche zu läuten. Die ersten Bäuerinnen zeigten sich schon auf dem Weg, der zur Kirche führte. Sonntag war es. Tarabas bekreuzigte sich – immer den Blick auf den fremden Soldaten gerichtet. Und es war, als ob er aus Angst vor ihm das Kreuz geschlagen hätte. In diesem Augenblick nämlich sah er es deutlich: der fremde Soldat war ein rothaariger Jude. Ein rothaariger Jude. Rothaarig, Jude – und es war Sonntag!

Zum erstenmal, seitdem er zur Armee gekommen war, erwachte in Nikolaus Tarabas der alte Aberglaube wieder. Sofort wußte er auch, daß von diesem Augenblick an sein Schicksal sich verändern sollte. »Wie kommst du daher?« fragte Tarabas. Der Soldat zog aus seiner Tasche ein Papier. Man ersah daraus, daß er von dem aufgeriebenen, zum Teil desertierten, zum Teil zu den Bolschewiken übergelaufenen Infanterieregiment Nummer zweiundfünfzig gekommen war. »Es ist gut!« sagte der Hauptmann Tarabas. »Bist du Jude?« »Ja!« sagte der Soldat, »meine Eltern waren Juden! Ich aber kenne keinen Gott!«

Nikolaus Tarabas trat noch einen Schritt zurück. Er klopfte mit dem Reitstöckchen gegen die Stiefel. Der Rothaarige hatte grüngraue Augen und flammende, kurze Büschel darüber, statt der Brauen. »Also, ein Gottloser bist du!« sagte der Hauptmann. »So, so!«

Er ging weiter. Der Soldat legte sich wieder an den Wegrand. Einmal noch wandte sich Tarabas um. Da sah er das rote Haar des Fremden zwischen dem spärlichen Grün des Abhangs leuchten; ein kleines Feuerchen an der grauen, staubigen Straße.


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