Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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V

Er mußte nach Cherson einrücken, zum Kader seines Regiments. Mit ihm verließen zwei junge Männer das Schiff, Soldaten, Offiziere. Er hatte sie während der Seefahrt nicht gesehn. Nun fragte er sie, ob sie auch einrückten. Jawohl, sagten sie, in die Petersburger Garnison; sie seien aber aus Kiew. Wäre man einmal beim Regiment, wer weiß, ob man da noch Urlaub bekäme, die Heimat zu sehn. Also führen sie zuerst nach Hause, und dann erst zum Regiment. Sie rieten ihm, das gleiche zu tun.

Dies leuchtete Tarabas ein. Der Krieg hatte eine brüderliche Ähnlichkeit mit dem Tode bekommen. Wer weiß, ob man da noch Urlaub erhielt – sagten die beiden. In Tarabas' Zimmer, im Schrank, hing die Uniform, die er liebte, ähnlich liebte wie Vater, Mutter, Schwester und Haus. Dank seinen Beziehungen und seinem Geld war es dem alten Tarabas gelungen, die Gnade des Zaren anzurufen und dem Sohn die Charge eines Leutnants zu erhalten – ein paar Monate schon, nachdem der unselige Prozeß vergessen worden war. Dies erschien Nikolaus Tarabas nur selbstverständlich. Seiner Meinung nach war er es, der dem Zaren die Gnade erwies, im Dreiundneunzigsten Infanterieregiment als Leutnant zu dienen. Es wäre ein schwerer Schaden der russischen Armee widerfahren, wenn man Tarabas degradiert hätte.

Tarabas stieg also in den Zug, der in seine Heimat fuhr. Er kündigte seine Ankunft nicht an. Überraschungen zu erleben, Überraschungen zu bereiten war seine Lust. Wie ein Befreier wollte er heimkommen! Wie mochten sie sich fürchten, so nahe der Grenze! Sicherheit und Sieg wollte er ihnen bringen!

Frohgemut ließ sich Tarabas im überfüllten Zug nieder, gab dem Schaffner ein überraschendes Trinkgeld, erklärte, er sei ein »besonderer Kurier« in besonderen Angelegenheiten des Kriegs, schob den Riegel vor und betrachtete mit Wollust die Passagiere, die, trotz ihrem unbestreitbaren Recht, in seinem Kupee Platz zu nehmen, dennoch im Korridor stehen mußten. Eine außergewöhnliche Zeit, die Leute hatten die Pflicht, sich mit ihr abzufinden und einem außergewöhnlichen »Kurier des Zaren« die Bequemlichkeit zu lassen, die für seine besondere Aufgabe unentbehrlich war. Von Zeit zu Zeit ging Tarabas in den Korridor, musterte hochmütig die Armen, die da stehen mußten, zwang die Müden, die auf ihren umgestülpten Koffern saßen, aufzustehn und ihm Platz zu machen, stellte befriedigt fest, daß alle ohne Widerspruch seinem blitzblauen Auge gehorchten und ihn sogar mit einigem Wohlgefallen ansahen, und mit übertriebener Strenge gab er dem Schaffner, so daß es alle hören konnten, Befehle, Tee zu kochen und dies und jenes von den Stationen zu holen. Manchmal riß er die Kupeetür auf und beschwerte sich über die allzu lauten Gespräche der Passagiere im Korridor. Sie brachen in der Tat sofort ihre Unterhaltungen ab, wenn sie Tarabas erblickten.

Befriedigt und belustigt von der eigenen Klugheit wie von der Torheit der anderen, verließ Nikolaus Tarabas den Zug am Morgen nach einem ungestörten, gesunden Schlaf. Kaum zwei Werst trennten ihn noch vom väterlichen Hause. Freilich erkannten und begrüßten ihn der Stationschef, der Portier, die Gepäckträger. Auf ihre herzlichen Fragen erwiderte er mit amtlicher Geschäftigkeit, er sei in allerwichtigstem und allerhöchstem Auftrag aus Amerika zurückberufen worden, immer den gleichen Satz wiederholend, ohne das freundliche Lächeln zu verlieren und den Glanz seiner blitzblauen Kinderaugen. Als ihn der und jener fragte, ob er zu Hause angekündigt worden sei, legte Tarabas einen Finger an den Mund. Also gebot er Schweigen und weckte Respekt. Und als er sich ohne Gepäck, so, wie er New York verlassen hatte, vom Bahnhof entfernte und den schmalen Landweg einschlug, der zum Hause des Geschlechtes Tarabas führte, legte einer der Beamten nach dem anderen den Finger an den Mund, genauso, wie es Tarabas getan hatte, und alle glaubten sie zu wissen, daß Tarabas, ihnen seit seiner Kindheit vertraut, ein großes Staatsgeheimnis mit sich trage.

Um die Stunde, in der man, wie er wußte, zu Hause Mittag aß, kam Nikolaus an. Er ging, um die »Überraschung« vollkommen zu machen, nicht den breiten Weg hinan, der zu seinem Hause führte und den die schlanken, zarten und so lang entbehrten Birken zu beiden Seiten begleiteten, sondern über den feuchten, schmalen Pfad zwischen den breiten Sümpfen, den die vereinzelten Weiden, zuverlässige Wegweiser, bezeichneten und der im halben Bogen hinter das Haus führte und unter dem Fenster Nikolaus Tarabas' endete. Im Dachgiebel lag sein Zimmer. Wildes Weinlaub, alt schon, feste und biegsame Ruten, von hartem Draht durchflochten, wucherten an der Wand, bis zu den grauen Schindeln des Daches. Statt der Stiege die Weinlaubruten zu benutzen war für Tarabas eine Kleinigkeit. Das Fenster – mochte es auch geschlossen sein – mit einem seit der Kindheit geübten Griff zu lockern und lautlos aufzustoßen schien ihm ebensoleicht. Er zog die Schuhe aus und steckte sie in die Rocktaschen, wie er in der Kindheit getan hatte. Und, gewandt, ohne Laut, wie er es als Knabe gewohnt gewesen, klomm er die Wand empor; zufällig war das Fenster offen; einen Augenblick später stand er in seinem Zimmer. Er schlich zur Tür und schob den Riegel vor. Der Schlüssel steckte noch im Schrank. Man mußte sich sachte mit der Schulter gegen den Schrank lehnen, wollte man verhüten, daß er knarre. Jetzt war er offen. Säuberlich über Bügeln hing die Uniform. Tarabas legte den Zivilanzug ab. Er zog die Uniform an. Den Säbel befreite er mit geschwinden Händen von der papierenen Hülle. Der Gürtel knarrte. Schon war Tarabas gerüstet. Er ging auf Zehen die Treppe hinunter, klopfte an die Tür des Speisezimmers und trat ein.

Vater und Mutter, die Schwester und die Cousine Maria saßen auf ihren gewohnten Plätzen. Man aß Kascha.

Zuerst begrüßte er den langentbehrten heißen Duft dieser Speise, einen Duft aus gerösteten Zwiebeln und gleichzeitig eine Wolke gewordene selige Erinnerung an Feld und Getreide. Zum erstenmal, seitdem er das Schiff verlassen hatte, verspürte er wieder Hunger. Hinter dem leisen Dunst, der aus der vollen Schüssel in der Mitte des Tisches aufstieg, verschwammen die Gesichter der Familie. Sekunden später erst bemerkte Tarabas ihr Erstaunen, vernahm er erst das Klirren der hingelegten Bestecke, das Geräusch der rückenden Stühle. Als erster stand der alte Tarabas auf. Er breitete die Arme aus. Nikolaus eilte ihm entgegen und konnte nicht umhin, zwei, drei Körner der langentbehrten Speise im Schnurrbart des Vaters zu bemerken. Dieser Anblick verminderte beträchtlich die Zärtlichkeit des Jungen. Nachdem sie sich geräuschvoll geküßt hatten, begrüßte Nikolaus die Mutter, die sich eben schluchzend erhob, die Schwester, die ihren Platz verließ und rings um den Tisch ging, den Bruder zu erreichen, und die Cousine Maria, die sich ihm, der Schwester folgend, langsamer näherte. Nikolaus umarmte sie. »Ich hätte dich niemals erkannt«, sagte er zu Maria. Durch das feste Tuch seiner Uniform spürte er ihre warme Brust. In diesem Augenblick begehrte er die Cousine Maria so heftig und ungeduldig, daß er den Hunger vergaß. Die Cousine huschte nur mit gespitzten, kühlen Lippen über seine Wange. Der alte Tarabas rückte einen Stuhl herbei und hieß den Sohn, sich an seine Rechte zu setzen. Nikolaus setzte sich. Er lechzte wieder nach der Kascha. Er sah gleichzeitig Maria an und schämte sich seines Hungers. »Hast du gegessen?« fragte die Mutter. »Nein!« sagte Nikolaus; fast rief er es.

Man schob ihm Teller und Löffel hin. Während er aß und erzählte, wie er gekommen, ungesehn in sein Zimmer geklettert war und die Uniform angezogen hatte, beobachtete er die Cousine. Sie war kräftig, ein beinahe gedrungenes Mädchen. Ihre zwei braunen Zöpfe hingen züchtig und zuchtlos zugleich über ihre Schultern und begegneten einander, unter dem Tischtuch, wahrscheinlich im Schoß. Manchmal nahm Maria die Hände vom Tisch und spielte mit den Enden ihrer Zöpfe. In ihrem jungen, bäuerlichen, gleichgültigen und ausdruckslosen Angesicht fielen die sanften, schwarzen, seidigen, langen und aufwärtsgebogenen Wimpern auf, zarte Vorhänge vor den halbgeschlossenen, grauen Augen. Auf ihrer Brust lag ein kräftiges, silbernes Kreuz. Sünde, dachte Tarabas: das Kreuz erregte ihn. Ein heiliger Wächter war es über der lockenden Brust Marias.

Hübsch, breitschultrig, schmalhüftig sah Tarabas in der Uniform aus. Man bat ihn, von Amerika zu erzählen. Man wartete: er schwieg. Man begann, vom Krieg zu sprechen. Der alte Tarabas sagte, der Krieg würde drei Wochen dauern. Nicht alle Soldaten fielen, und von den Offizieren stürben bestimmt nur wenige. Nun fing die Mutter zu weinen an. Darauf achtete der alte Tarabas keineswegs. Als gehörte es zu den selbstverständlichen Eigenschaften einer Mutter, Tränen zu vergießen, dieweil die anderen essen und sprechen, hielt er weitläufige Vorträge über die Schwäche der Feinde und die Stärke der Russen; und nicht für einen Augenblick wurde ihm klar, daß der finstere Tod schon seine hageren Hände über dem ganzen Lande kreuzte und auch über Nikolaus, seinem Sohn. Taub und stumpf war der alte Tarabas. Die Mutter weinte.

Der Staketenzaun aus silbernen Birkenknüppeln umringte noch das väterliche Gehöft; und es war gerade die Zeit, wo die Knechte die Apfelbäume schüttelten, die Mägde hoch hinauf in die Zweige krochen, um die Früchte zu pflücken und auch, um von den Knechten besser gesehen zu werden. Sie hoben die leuchtend roten Röcke und zeigten die weißen, starken Waden und die Schenkel. Die späten Schwalben flogen in großen, dreieckigen Schwärmen nach dem Süden. Die Lerchen schmetterten immer noch, unsichtbar im Blau. Offen standen die Fenster. Und man hörte das scharfe, schwirrende Singen der Sensen – man schnitt schon die letzten Halme von den Feldern – in größter Hast, wie der Vater erzählte. Denn die Bauern mußten einrücken, morgen, übermorgen oder in einer Woche.

All dies gelangte zum heimgekehrten Tarabas wie aus einer unendlichen Ferne. Er wunderte sich, daß Haus, Hof, Land, Vater und Mutter ihm näher gewesen waren im weiten, steinernen New York als hier, und obwohl er doch hierhergekommen war, sie zu umarmen und seinem Herzen nahe zu fühlen. Tarabas war enttäuscht. Daß sie ihn als heimgekehrten verlorenen Sohn begrüßen würden, als Retter und als Helden: so hatte er es sich ausgemalt. Man behandelte ihn allzu gleichgültig. Die Mutter weinte: aber so sei ihre Natur, meinte Tarabas. In New York hatte er eine andere Mutter gesehn, eine zärtlichere, verzweifelte Mutter, wie sie sein eitles Kinderherz brauchte. Hatte man sich während seiner langen Abwesenheit daran gewöhnt, das Haus Tarabas ohne den einzigen Sohn zu sehn? Eine Überraschung hatte er ihnen bereiten wollen, durchs Fenster war er gestiegen, immer noch harmlos wie als Knabe, die Uniform hatte er angezogen und war ins Zimmer getreten, so, als wäre er gar niemals in Amerika gewesen. Ihnen aber schien es ganz selbstverständlich, daß er so plötzlich daherkam!

Er aß, gekränkt, stumm und mit gutem Appetit. Er führte wortlos einen Löffel nach dem andern zum Mund, es war ihm, als äße er nicht selbst, als fütterte ihn ein anderer. Nun war er gesättigt. Mit einem Blick auf die Cousine Maria sagte er: »Ich muß also morgen früh abreisen. Ich muß spätestens übermorgen beim Regiment sein.« Bat man ihn etwa zu bleiben? – Keineswegs! – »Recht, recht!« sagte der Vater. Ein wenig heftiger schluchzte die Mutter auf. Unbewegt blieb die Schwester. Maria senkte die Augen. Das große Kreuz an ihrer Brust glänzte. Man erhob sich schließlich vom Tisch.

Am Nachmittag stattete Tarabas ein paar Besuche ab, beim Pfarrer, bei Gutsnachbarn. Er ließ einspannen. Und im Glanz seiner Uniform, eine großartige Erscheinung aus Blau und Silber, fuhr er, ein wenig fremd, durch das Grün und Gelb des Herbstes, mit der Zunge schnalzend – und sooft er irgendwo hielt, wendete er in einem eleganten und kühnen Bogen, die Zügel straffend, und die Pferde blieben stehen, wie erzene Pferde auf Monumenten. Das war immer schon Tarabas' Art gewesen. Alle kleinen Bauern grüßten ihn, die Fenster öffneten sich, eine große, sonnendurchglänzte Staubwolke ließ er hinter sich. Seine Fahrt befriedigte ihn, auch gefiel ihm der Respekt, den man ihm überall unterwegs zollte. Dennoch glaubte er eine große, unbekannte Angst in den Gesichtern zu sehen. Der Krieg hatte noch nicht begonnen, und schon wohnte sein Schrecken in den Menschen. Und wenn sie Tarabas etwas Angenehmes sagen wollten, quälten sie sich, und sie sagten ihm nicht alles, was sie im Herzen trugen. Fremd war Tarabas in seinem Lande – der Krieg war hier heimisch geworden.

Der Abend kam. Tarabas zögerte, nach Hause zu fahren. Locker ließ er die Zügel und die Rosse im träumerischen Schritt. Als er den Anfang der Birkenallee erreichte, die geradeaus zum Hause führte, stieg er ab. Die Pferde kannten den Weg. Vor den großen Ställen, linker Hand vom Hause, blieben sie stehen und wieherten klug und gaben ihre Ankunft zu erkennen, und der Hofhund bellte, wenn der Knecht nicht sofort kam. Die Pferde allein hatten Tarabas erkannt. Zärtlichkeit erfüllte ihn, er streichelte die heißen, rostbraunen, glänzenden Leiber, legte seine Stirn an die Stirn jedes Tieres, atmete den Dunst ihrer Nüstern und fühlte die wohlige Kühle der ledernen Haut. In den großen, glänzenden Augen der Pferde glaubte er alle Liebe der Welt zu sehen.

Er schlug zum zweitenmal den Seitenweg ein, zwischen den Weiden, wie am Morgen. Die Frösche lärmten zu beiden Seiten, es roch nach Regen, obwohl der Himmel wolkenrein war und die herbstliche Sonne in glänzender Reinheit unterging. Sie blendete ihn. Er mußte den Blick senken, um auf den Weg zu achten, den Pfad nicht zu verlieren. Also sah er nicht, daß ihm jemand entgegenkam. Überrascht nahm er einen Schatten dicht vor seinen Füßen wahr, ahnte im Nu, wem er gehörte, blieb stehen. Maria kam ihm entgegen. Sie hatte ihn also vermißt. Die hochgeschnürten Stiefel setzte sie zierlich und achtsam auf den schmalen Pfad. Es gelüstete Tarabas plötzlich, die vielfältig geflochtenen Schnüre aufzuschneiden. Wut und Wollust erfüllten ihn. Es gab kein Ausweichen. Er ließ Maria herankommen. Er legte einen Arm um sie und so, sorgfältig und hart aneinandergedrückt aus Angst vor dem Sumpf zu beiden Seiten (und auch aus Heimweh), berührten sich manchmal ihre Füße auf dem schmalen Pfad. Sie kehrten zurück in den Wald. Späte Vögel riefen. Sie sprachen kein Wort. Sie umarmten sich plötzlich. Sie wandten sich, beide gleichzeitig, einander zu, umschlangen sich, taumelten und sanken auf die Erde.

Als sie aufstanden, blinkten die Sterne durch die Baumkronen. Es fröstelte sie. Sie klammerten sich aneinander und kehrten auf dem Hauptweg ins Haus zurück. Vor dem Eingang blieben sie stehen, küßten sich lange, als nähmen sie Abschied für immer. »Du gehst zuerst hinein«, sagte Tarabas. Es war der einzige Satz, der die ganze Zeit über zwischen beiden gefallen war.

Tarabas folgte langsam.

Man sammelte sich zum Abendessen. Wann er weg müsse, fragte der Alte den Sohn. Um vier Uhr morgens, sagte Nikolaus, damit er ja nicht den Zug versäume. Das hätte er also richtig vorausbedacht, sagte der Alte. Man trug das besondere Mahl auf, das er am Nachmittag angeordnet hatte: Grütze in dampfender Milch, gekochtes Schweinefleisch mit Kartoffeln, Wodka und hellen Burgunder dazwischen und weißen Schafkäse zum Beschluß. Man wurde laut. Der Alte fragte. Nikolaus erzählte von Amerika. Er erfand für den Augenblick eine Fabrik, in der er soeben zu arbeiten angefangen hatte, eine Fabrik. Dort stellte man Filme her. Eine recht amerikanische Fabrik. Als er, wie schon seit Wochen, jeden Morgen um fünf Uhr früh im Begriffe war, sich an seine Arbeitsstelle zu begeben, riefen die Zeitungsjungen die Nachricht vom Kriege aus – und also fuhr er dann geradewegs in die russische Botschaft. Einen Abend vorher hatte es noch zwischen ihm, Tarabas, und einem ekelhaften Barwirt eine Schlägerei gegeben. Der Wirt hatte ein unschuldiges Mädchen, wahrscheinlich seine Kellnerin, beschimpft und sogar angegriffen. Solche Menschen gab es in New York.

Selbst die gleichgültige Schwester horchte auf, als Nikolaus diese Geschichte erzählte, und immer wieder sagte die Mutter: »Gott segne dich, mein Junge!« Tarabas selbst war überzeugt, daß er die pure Wahrheit erzählte.

Und man erhob sich. Man feierte im Stehen Abschied. Und der alte Tarabas sagte, daß man den Sohn in vier Wochen wiedersehen werde. Und alle küßten ihn. Er wollte morgen früh niemanden mehr sehn. Maria küßte ihn flüchtig. Die Mutter hielt ihn eine Weile in den Armen und wiegte ihn so im Stehen. Vielleicht erinnerte sie sich an die Zeit, in der sie ihn noch im Schoß gewiegt hatte.

Das Gesinde kam. Mit jedem, Knecht und Magd, tauschte Nikolaus den Abschiedskuß.

Er ging in sein Zimmer. Er legte sich, so wie er war, Schlamm an den Stiefeln, aufs Bett. Er schlief wohl eine Stunde, erwachte dann infolge eines unbekannten Geräusches, sah, daß seine Tür offen war, ging hin, um sie zu schließen. Ein Windstoß hatte sie geöffnet. Auch das Fenster gegenüber war offen.

Er konnte nicht mehr einschlafen. Es kam ihm in den Sinn, daß es nicht just der Wind gewesen sein mußte. Hatte Maria versucht, ihn wiederzutreffen? – Warum schlief sie nicht mit ihm, in der letzten Nacht, die er in diesem Hause verbrachte? Ihr Zimmer kannte er. Im Hemd lag sie nun, das Kreuz über dem Bett. (Es schreckte ihn ein wenig.)

Er öffnete die Tür. Er ließ sich mit beiden Händen das Geländer der Treppe hinuntergleiten, um nicht mit den schweren Stiefeln die Stufen zu betreten. Jetzt öffnete er Marias Tür. Er riegelte sie ab. Er blieb eine Weile reglos. Dort war das Bett, er kannte es, als Knabe hatte er mit Maria und der Schwester die Laken abgezogen, um Leichenzug zu spielen. Eines nach dem anderen hatten sie sich totgestellt. Durch das große Rechteck des Fensters leuchtete die hellblaue Nacht. Tarabas trat ans Bett. Die Diele knarrte, und Maria fuhr auf. Halb noch im Schlaf und ganz vom Schrecken gefangen, breitete sie die Arme aus. Sie empfing Tarabas, so wie er war, gerüstet und gestiefelt, fühlte mit Wonne seine harten Bartstoppeln auf dem Angesicht und haschte mit ungelenken Händen nach seinem Nacken.

Satt, herrisch und lärmend erhob er sich. Sanft und schon ein wenig ungeduldig legte er Marias Hände, die sie ihm entgegenstreckte, auf das Bett zurück. »Du gehörst mir!« sagte Tarabas; »wir heiraten, bis ich zurückkomme. Du bist treu. Du siehst keinen Mann an. Leb wohl!« – Und er verließ das Zimmer, ging, ohne auf den Lärm zu achten, den er verursachen mochte, die Treppe hinauf, um seine Sachen zu holen.

Oben, in der Stube, saß der alte Tarabas. Man spioniert also, dachte Nikolaus im Nu. Man spioniert mich aus. Der alte Grimm gegen den Vater erwachte wieder, der Grimm gegen den Alten, der einen grausam vertrieben hatte, in das grausame New York. Der Vater erhob sich, sein Schlafrock klaffte auseinander, man sah das Bauernhemd und die langen Schläuche der Unterhosen aus Sackleinewand, zusammengebunden über den mächtigen Knöcheln. Mit beiden Händen ergriff der Vater Nikolaus an den Epauletten. »Ich degradiere dich!« sagte der Alte. Oh, man kannte diese Stimme sehr gut, sie war nicht lauter als gewöhnlich. Nur der Adamsapfel bewegte sich auf und nieder, heftiger als sonst und in den Augen stand der kalte Zorn, Zorn aus blankem Eis. Jetzt geschieht was, dachte Nikolaus, die Angst um seine Epauletten verwirrte ihn. »Laß los!« schrie er. Im nächsten Augenblick sauste die väterliche Hand gegen seine Wange. Nikolaus wich zurück, indes der Alte den Schlafrock wieder zusammenraffte.

»Wenn du gesund heimkehrst, heiratest du!« sagte der Alte. »Und nun geh! Sofort! Verschwinde!«

Tarabas griff nach Säbel und Mantel und wandte sich zur Tür. Er öffnete sie, zögerte einen Augenblick, kehrte noch einmal um und spuckte aus. Dann schlug er die Tür zu und hastete hinaus. Pferde, Knecht und Wagen erwarteten ihn schon, um ihn zur Bahn zu führen.


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