Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
In diesem Jahre warten die Landstreicher ungeduldig auf den Frühling. Es war ein schwerer Winter. Es kann noch lange dauern, bis er sich entschließt, das Land zu verlassen. Hunderttausend feine, unentwirrbar verästelte, eisige Wurzeln hat er überall geschlagen. Tief unter der Erde und hoch über ihr hat er gewohnt. Unten sind die Saaten tot, oben die Sträucher und das Gras. Sogar der Saft in den Bäumen der Wälder und an den Rändern der Wege scheint erstarrt für immer. Ganz langsam schmilzt der Schnee auf den Äckern und Wiesen, nur in den kurzen Stunden um den Mittag. In den dunklen Abgründen aber, in den Gräben am Weg liegt er noch klar und starr über einer harten Eiskruste. Es ist Mitte März; und noch hängen Eiszapfen an den Dachrinnen der Häuser und schmelzen kaum eine Stunde lang im Glanz der mittäglichen Sonne. Am Nachmittag, wenn der Schatten wiederkehrt, erstarren sie aufs neue zu unbeweglichen, funkelnden und geschliffenen Spießen. Noch schläft die Erde in den Wäldern. Und in den Kronen der Bäume hört man keinen Vogel. Ungerührt, in kaltem Kobaltblau, verharrt der Himmel. Die Vögel des Frühlings meiden seine tote Klarheit.
Die neuen Gesetze des neuen Landes sind ebenso die Feinde der Landstreicher wie der Winter. In einem neuen Staat muß Ordnung herrschen. Man soll ihm nicht nachsagen, er sei barbarisch oder gar »eine Operette«. Die Staatsmänner des neuen Landes haben an alten Universitäten Rechte und Gesetze studiert. Die neuen Ingenieure haben an den alten technischen Hochschulen studiert. Und die neusten, lautlosen, zuverlässigen und präzisen Maschinen kommen auf stillen, gefährlichen Rädern in das neue Land. Die gefährlichsten Raubtiere der Zivilisation, die großen Rollen Zeitungspapier, gleiten in die neuen Setzmaschinen, entrollen sich selbständig, bedecken sich mit Politik und Kunst und Wissenschaft und Literatur, spalten sich und falten sich und flattern hinaus in die Städtchen und in die Dörfchen. Sie fliegen in Häuser, Häuschen und Hütten. Und somit ist der neue Staat vollkommen. Auf seinen Straßen gibt es mehr Gendarmen als Landstreicher. Jeder Bettler muß ein Papier haben, ganz, als wäre er ein Mensch, der Geld besitzt. Und wer Geld besitzt, der trägt es zu den Banken. In der Hauptstadt gibt es eine Börse.
Tarabas erwartete den einundzwanzigsten März, um die Hauptstadt aufzusuchen. Es war das Datum, das ihm der General Lakubeit ausgesetzt hatte. Tarabas hatte noch fünf Tage Zeit.
Er erinnert sich an das letzte Gespräch mit Lakubeit. Der Kleine hat nicht viel Zeit. Er mahnt Tarabas, ganz schnell zu erzählen. »Verstehe! Verstehe!« sagt er, »fahren Sie nur fort!« Nachdem Tarabas alles erzählt hat, sagt Lakubeit: »Also gut. Kein Mensch außer mir wird etwas von Ihnen wissen. Auch Ihr Vater nicht. Sie können bis zum zwanzigsten März des nächsten Jahres versuchen, ob Sie dieses Leben aushalten. Dann schreiben Sie mir. Ich werde dafür sorgen«, sagt Lakubeit, »daß Sie vom einundzwanzigsten März an jeden folgenden Monat Ihre Pension erhalten.«
»Leben Sie wohl!« sagt Tarabas. Und ohne eine Antwort abzuwarten, ohne Lakubeits ausgestreckte kleine Hand zu beachten, geht er fort.
Mehr als vier Monate waren es her! Zuweilen sehnt sich Tarabas danach, jemandem zu begegnen, der ihn früher gekannt hatte und der ihn trotzdem jetzt noch erkennen würde! Es mußte eine der lustvollsten Arten sein sich zu demütigen! In seinen sündhaften Stunden, das heißt: in den Stunden, die er seine sündhaften nannte, sah Tarabas mit jener Selbstbewunderung auf seinen kurzen, aber geschehnisreichen Weg zurück, auf dem er sich die Abzeichen und die Auszeichnungen des Elends erworben hatte, mit der andere, die aus Not und Namenlosigkeit zu Geld oder Ruhm gelangen, auf ihre »Karriere« zurückzusehn pflegen. Auch eine gewisse Eitelkeit auf sein Äußeres konnte Tarabas nicht bekämpfen. Manchmal blieb er vor der spiegelnden Scheibe eines Schaufensters stehn und betrachtete sich mit gehässigem, grimmigem Wohlgefallen. So, versunken in den Anblick seines Spiegelbildes, stand er manchmal da, bis er seine alte Gestalt, seine Uniform, seine Stiefel in Gedanken wiederangenommen hatte. Und fand hierauf eine bittere Freude daran, Stück für Stück abfallen, das rasierte und gepuderte Angesicht sich mit dem wuchernden Bart bedecken zu sehn, zu beobachten, wie der gerade Rücken sich in sanftem Bogen krümmte. Ja, du bist der echte Tarabas! sagte Tarabas dann. Damals, vor Jahren, als du mit den Revolutionären Umgang hattest, war dein Angesicht schon gezeichnet. Später, als du dich in den Straßen von New York herumtriebst, warst du schon ein Elender. Dein Vater hat dich durchschaut, Nikolaus! Du hast ihn angespuckt, das war dein Abschied vom Vater! Erkannt hat dich der rothaarige Soldat, der keinen Gott hatte, und der kluge Lakubeit. Manche haben gewußt, Tarabas, daß du die Welt betrügst und dich selbst. Es war nicht dein Rang, den du gewaltig spazierenführtest, eine Maskerade war deine Uniform. So, wie du jetzt bist, gefällst du mir, Tarabas!
So sprach Tarabas manchmal zu sich selbst, in den belebten Gassen einer Stadt, und die Leute lachten über ihn. Sie hielten ihn für einen närrischen Menschen. Er entfernte sich schnell. Die Leute waren imstande, die Polizei zu rufen. Er erinnerte sich an die drei Polizisten in New York, die er hatte vorbeigehn lassen, als er noch der abergläubische Feigling Tarabas war. Auch dafür büße ich noch, dachte er still erfreut. Ich möchte sie schon aufhalten und mich vor den Augen der Gassenbuben abführen lassen. Aber sie würden erfahren, wer ich bin.
Immer, wenn er so zu sich selber sprach und wenn die Erinnerungen durch sein Gehirn jagten, ihm davonliefen, während er sie festzuhalten wünschte, fühlte er Frost und Hitze in seinem Körper abwechselnd. Er fieberte. Oft überfiel ihn das Fieber und schüttelte ihn. Es begann, an seinem kräftigen Körper zu zehren. Es setzte sich in seinem Angesicht fest. Es höhlte seine bärtigen Wangen aus. Manchmal schwollen seine Füße an. Er mußte humpeln. In manchen Nächten, in denen er ein Obdach gefunden hatte, in dem man sich ausziehn durfte, konnte er nur mit Mühe die Stiefel ablegen. Landstreicher, die ihm zusahen, betrachteten mit Kennerschaft seine geschwollenen Glieder und verschrieben ihm allerhand Rezepte: Heublumenbäder, auch Wegerichtee, urintreibende Kräuter, Geißbart und Geißleitern und wilden Hirsch. Man riet ihm zu Bitterklee, Weihwedel und Wegwartkraut. Seine Krankheiten verursachten viele nächtliche Diskussionen. Immer fanden sich Männer, die im Verlauf ihres wechselreichen Lebens genau die gleichen Leiden gehabt hatten. Sobald aber Tarabas eingeschlafen war, stießen sie sich an und gaben einander durch Zeichen zu verstehen, daß sie nicht mehr viel auf sein Leben geben mochten. Sie machten Kreuze über den Schlafenden und schliefen dann selbst zufrieden ein. Denn auch die Söhne des Elends liebten ihr Leben und hingen mit Inbrunst an dieser Erde, die sie so gut kannten, ihre Schönheit und ihre Grausamkeit; und sie freuten sich ihrer Gesundheit, wenn sie einen dem Tod entgegenhumpeln sahen. Tarabas selbst sorgte sich eher um seine zerrissenen Stiefel als um seine geschwollenen Füße. Mochten die Kleider zerreißen, man mußte ganze Stiefel haben! Sie sind das Werkzeug des Landstreichers. Man hat vielleicht noch lange Wege zurückzulegen, Tarabas!
Manchmal mußte er mitten auf der Straße einhalten. Er setzte sich. Sein Herz jagte in rasender Hast. Die Hände zitterten. Vor den Augen bildete sich ein grauer Nebel, der auch die nächsten Gegenstände unkenntlich machte. Die einzelnen Bäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite verschwammen zu einem dichten, geschlossenen, endlosen Zug aus Stämmen und Kronen, einer undeutlichen, aber undurchdringlichen Mauer aus Bäumen. Sie verdeckte den Himmel. Man saß in der freien Landschaft, und es war, als säße man in einem luftlosen Zimmer. Schwere Gewichte drückten auf die Brust und auf die Schultern. Tarabas hustete und spuckte. Langsam zerrann der Nebel vor den Augen. Die Bäume am Wegrand gegenüber schieden sich wieder deutlich. Die Welt bekam wieder ihr gewöhnliches Angesicht. Tarabas konnte seinen Weg fortsetzen.
Er hatte noch zwei Stunden bis zur Hauptstadt. Ein Bauer, der Milch zur Stadt führte, hielt an, winkte ihm und lud ihn ein, auf den Wagen zu steigen. »Ich habe Milch genug, Gott sei Dank und Lob!« sagte der Bauer unterwegs. »Trink, wenn du Durst hast!« – Tarabas hatte seit seiner Kindheit keine Milch mehr getrunken. Wie er jetzt, umgeben von scheppernden, vollen Kannen, in denen die Milch satt und vernehmlich gluckste, eine schneeweiße Flasche an die Lippen hob, erfaßte ihn eine große Rührung. Es war ihm, als erkannte er auf einmal den Segen, ja, das Wunder der Milch, der weißen, vollen, der unschuldigsten Flüssigkeit der Welt. Eine ganz selbstverständliche Angelegenheit, so eine Milch! Kein Mensch denkt daran, daß sie ein Wunder ist. In den Müttern entsteht sie; in ihnen verwandelt sich das warme, rote Blut in kühle, weiße Milch, die erste Nahrung der Menschen und der Tiere, der weiße, strömende Gruß der Erde an ihre neugeborenen Kinder. »Weißt du«, sagte Tarabas zu dem Milchbauern, »du führst auf deinem Wagen eine wunderbare Sache!« »Ja, ja«, sagte der Bauer, »meine Milch ist großartig. In ganz Kurki, in meinem Dorf, findest du keine solche! Ich habe fünf Kühe: sie heißen: Terepa, Lala, Korowa, Duscha und Luna. Die beste ist Duscha. Ein süßes Tier! Du solltest sie sehen! Du würdest sie sofort liebhaben. Sie gibt die beste Milch! Sie hat vorne einen braunen Fleck an der Stirn. Die andern sind alle weiß. Aber sie brauchte gar keinen braunen Fleck zu haben, ich könnte sie auch so erkennen. An ihrem Blick, verstehst du, an ihrem Schwanz, ihrem lieben Schwänzchen, an ihrer Stimme. Sie ist wie ein Mensch. Ganz genau wie ein Mensch. Wir leben gut miteinander!«
Nun kamen sie in die Stadt, und Tarabas stieg ab. Er ging zur Post. Es war die Hauptpost, ein neues, großartiges Gebäude. Er kaufte bei dem Fräulein, das vor dem großartigen Portal ihren kleinen Papierladen verwaltete, Briefpapier, Kuvert und eine Feder. Dann schrieb er drinnen in der großen Halle an einem Pult an den General Lakubeit.
»Euer Exzellenz«, schrieb er, »Herr General! Es ist heute der Tag, an dem ich mich melden soll. Ich tue es hiermit respektvollst. Ich erlaube mir, Euerer Exzellenz noch zwei Bitten zu unterbreiten. Die erste: wenn es geht, mir die Pension in Gold- oder Silberstücken auszahlen lassen zu wollen. Die zweite: daß ich mir das Geld zu einer Stunde abholen darf, in der ich von niemandem gesehen werden kann. Ich werde mir erlauben, die Antwort hier, poste restante, abzuholen.
Euerer Exzellenz dankbarst und respektvollst ergebener
Nikolaus Tarabas, Oberst.
Poste restante.«
Er schickte den Brief ab. Er humpelte in das tadellose, nach westlichen Mustern neu eingerichtete Asyl für Obdachlose, wo er, mit vielen anderen, entlaust, gebadet, gereinigt und mit einer Suppe beschenkt wurde. Er bekam eine Nummer aus Blech und einen harten und chemisch gereinigten Strohsack.
Auf diesem schlief er bis zum nächsten Morgen.
Am Poste-Restante-Schalter lag ein Brief für Nikolaus Tarabas, von der Hand Lakubeits geschrieben. »Lieber Oberst Tarabas!« schrieb der General. »Wenn Sie heute oder morgen gegen zwölf Uhr mittags im Postgebäude erscheinen, wird ein junger Mann Sie ansprechen und Ihnen die Pension einhändigen. Sie brauchen keine Indiskretion zu fürchten. Für unsere neue Armee, Ihren alten Vater, für die Welt sind Sie tot und vergessen. Lakubeit, General.«
Um zwölf Uhr mittags, da die meisten Schalter schlossen, die Beamten fortgingen und die große Halle sich leerte, sprach ein junger Mann Tarabas an. »Herr Oberst!« sagte der junge Mann. »Unterschreiben Sie die Quittung.« Tarabas bekam achtzig goldene Fünf-Franc-Stücke. »Sie entschuldigen uns!« sagte der junge Herr. »Wir haben nicht alles in Goldstücken bekommen können. Wir werden uns bemühen. Von heute in einem Monat um diese Stunde treffen wir uns wieder hier.«
Tarabas ging vor das Tor, blieb einen Augenblick stehn – und wandte sich sofort wieder dem mächtigen Portal zu. Auf dem großen Platz vor der Post warteten ein paar Wagen, Reitpferde, angebunden an Laternenpfählen, und einige Automobile. Es war einer der ersten warmen Tage dieses Frühlings. Die mittägliche Sonne floß gütig über den weiten, steinernen, schattenlosen Platz. Die Pferde vergruben ihre Köpfe ganz in den umgehängten Hafersäcken, fraßen mit heiterem Appetit und schienen sich selig in der Sonne zu fühlen. Auf einmal erhob eines von den Tieren, das vor ein leichtes zweirädriges Wägelchen gespannt war, den Kopf aus dem Hafersack und stieß ein jubelndes Gewieher aus. Es war ein schönes Tier. Es hatte ein grausilbernes Fell, mit großen, regelmäßigen, braunen Flecken. Tarabas erkannte es sofort, am Hals, am wiehernden Ruf, an den braunen Flecken.
Er ging in die Halle, setzte sich auf eine Bank und wartete.
Als die Mittagspause vorbei war, die Schalter sich öffneten und die Menschen wieder die Halle zu füllen begannen, erschien auch der Vater Tarabas. Er war sehr alt geworden. Er ging jetzt auf zwei Stöcken. Auch die Stöcke verrieten noch den reichen Mann. Es waren Stöcke aus Ebenholz mit silbernen Krücken. Der mächtige Schnurrbart des Alten fiel in zwei großartigen, tief herabhängenden, silberweißen, in der Mitte geteilten Ketten über den Mund, und die feinen Spitzen berührten den hohen, schneeweißen Kragen. Quer durch die große Halle wankte der alte Tarabas. Die einfachen Leute machten ihm Platz. Auf den Steinfliesen hörte man seine scharrenden Schritte und das dumpfe, beinahe gespenstische Tappen seiner beiden Stöcke, deren Enden in schweren Gummipfropfen steckten. Als der Alte an den Schalter trat, beugte der Beamte seinen Kopf aus dem Fenster. »Ah! Euer Gnaden!« sagte der Beamte. Der junge Tarabas verließ die Bank und näherte sich dem Schalter. Er sah, wie sein Vater, einen seiner beiden Stöcke an das Schalterbrett hängend, die Brieftasche zog, ein paar Coupons hervorklaubte und dem Beamten übergab. Dann entfernte er sich wieder. Und er streifte fast den Sohn. Aber den Blick auf den Boden gerichtet, ohne sich umzusehn, humpelte er hinaus.
Nikolaus folgte ihm. Vom Tor aus sah er, wie ein Mitleidiger dem Alten half, das Wägelchen zu besteigen. Beide Stöcke lehnten nun neben ihm, auf dem Kutschbock. Er nahm die Zügel in die Hände. Das Pferd zog an. Und der alte Tarabas rollte dahin, nach Hause.
Nach Hause.