Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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IX

In dem kleinen Städtchen Koropta herrschte eine große Verwirrung, als Tarabas mit seinen Getreuen ankam. Männer in den verschiedensten Uniformen, herbeigeschwärmt und herangeschwemmt von allen Teilen der Front und aus dem Innern des Landes, Gefangene aus den plötzlich aufgelösten Lagern, Verwahrloste und Betrunkene, manche angelockt von der Möglichkeit, mitten in der allgemeinen Verwirrung irgendeinen abenteuerlichen Gewinn zu ergattern, ihr Glück und Gott selbst zu versuchen, trieben sich in den Gäßchen herum, lagerten auf dem weiten, wüsten Rund des Marktplatzes, hockten auf ziellos hin und her rollenden Bauernfuhren und Militärautomobilen, kauerten auf den hellen Stufen des großen Gerichtsgebäudes, auf den alten Grabsteinen des Friedhofs am Hügel, auf dessen Gipfel sich die kleine, gelbleuchtende Kirche erhob. Es war ein klarer, vortrefflicher Herbsttag. In seinem vollkommenen, blauen Glanz nahmen sich die verfallenen Häuschen mit den schiefen Schindeldächern, die hölzernen Bürgersteige, der getrocknete, silbern schimmernde Straßenkot in der Mitte, die zerlumpten Uniformen wie eine unaufhörlich bewegte, festliche Malerei aus, ein eben im Entstehen begriffenes Bild; seine einzelnen Teile und Gestalten schienen noch den ihnen gebührenden Platz zu suchen. Zwischen den farbigen Soldaten sah man die hurtigen und furchtsamen dunklen Schatten der Juden in langen Kaftanen und die hellgelben Schafspelze der Bauern und Bäuerinnen. Frauen mit bunten, geblümten Kopftüchern hockten auf den niedrigen Schwellen in den offenen Türen der kleinen Häuschen, und man hörte ihr aufgeregtes, zielloses Geschwätz. Die Kinder spielten in der Mitte der Hauptstraße. Und durch den silbernen Schlamm wateten Gänse und Enten den vereinzelten, von der trocknenden Sonne noch verschont gebliebenen, schwarzen Tümpeln entgegen.

Mitten in diesem Frieden waren die armen Einwohner des Städtchens Koropta ganz ratlos und sehr aufgeregt. Sie erwarteten etwas Fürchterliches; vielleicht sollte es noch schlimmer sein als alles, was ihnen bisher der Krieg gebracht hatte. Seine gewaltigen, brennenden Stiefel hatten zwischen den ärmlichen Häuserzeilen Koroptas verkohlte und wüste Spuren hinterlassen. In der niedrigen, alten Mauer rings um den Kirchhof am Hügel fanden sich zahllose Löcher unsinnig verirrter Geschosse; da hatte der Krieg seine mörderischen Finger in den Stein gegraben. Mit diesen Fingern eben hatte er auch viele Söhne des Städtchens Koropta erwürgt. Friedlich zu leben waren die Menschen von Koropta seit jeher gewohnt gewesen, hingegeben ihren kümmerlichen Tagen und ihren stillen Nächten, den gewöhnlichen Wandlungen eines gewöhnlichen Geschicks. Plötzlich dann vom Krieg überfallen, erstarrten sie zuerst vor seinem schrecklichen Antlitz, duckten sich hierauf, flohen bald, kehrten zurück, beschlossen zu bleiben, gebannt in seinem feurigen Atem. Unschuldig waren sie, fremd waren ihnen die mörderischen Gesetze der Geschichte, gleichgültig und ergeben ertrugen sie die Schläge Gottes, wie sie lange, undenkliche Jahre die Gesetze des Zaren ertragen hatten. Kaum konnten sie die Kunde glauben, daß dieser nicht mehr auf seinem goldenen Throne in Petersburg saß, ja die zweite, noch fürchterlichere, daß man ihn erschossen hatte wie einen alten, unbrauchbar gewordenen Hund. Nun erzählte man ihnen, sie seien nicht mehr ein Teil von Rußland, sondern ein selbständiges Land. Sie seien nunmehr, sagten die Lehrer, die Advokaten, die Gebildeten, eine erlöste und freie Nation. Was bedeuteten diese Reden? Und was für furchtbare Gefahren verhieß dieser Tumult?

Der Hauptmann Tarabas kümmerte sich ebensowenig um die Gesetze der Geschichte wie die Bewohner des Städtchens Koropta. Die Befreiung der Nation machte es ihm möglich, sein soldatisches Leben fortzusetzen. Was ging ihn die Politik an? Eine Angelegenheit der Lehrer, der Advokaten, der Gebildeten! Der Hauptmann Tarabas war nunmehr Oberst geworden. Es war seine Aufgabe, ein untadeliges Regiment zusammenzustellen und es zu kommandieren. Kein anderer als Nikolaus Tarabas wäre imstande gewesen, mit einer Handvoll Männer ein ganzes Regiment zu sammeln. Er hatte einen ganz bestimmten Plan. Auf dem winzigen Bahnhof von Koropta und just vor der hölzernen Baracke, in der noch ein alter russischer Major einen Unteroffizier und die Bahnwache befehligte, stellte Tarabas seine Leute in zwei Reihen auf, kommandierte ihnen ein paar Exerzierübungen, ließ sie niederknien, das Gewehr in Anschlag bringen, ein paar Salven in die Luft abgeben, alles in Anwesenheit einiger erstaunter Menschen in Zivil und in Uniform, der Bahnwache und ihres Kommandanten, des alten Majors. Hierauf hielt Tarabas, sichtlich befriedigt von der erheblichen Anzahl der Zeugen, die, herbeigelockt von den zwecklosen Salven, dem merkwürdigen Beginnen beiwohnten, eine Ansprache. »Ihr Männer«, so sagte Tarabas, »die ihr mir gefolgt seid in vielen Schlachten und in der Rast, im Krieg gegen den Feind und gegen die Revolution, ihr habt jetzt keine Lust mehr, das Gewehr abzulegen und friedlich heimzukehren. Ihr, so wie ich, wir werden als Soldaten sterben, nicht anders! Mit eurer Hilfe werde ich hier ein neues Regiment aufstellen, für das neue Vaterland, das uns das Schicksal beschert hat. Abtreten!« – Die kleine Schar schulterte die Gewehre. Alle waren sie furchtbar anzusehn, weit furchtbarer als die bedrohlichen und zerlumpten Gestalten im Städtchen und auf dem Bahnhof. Sie besaßen nämlich die ganze wohlausgerüstete, rasselnde, klirrende, gespornte, die gepflegte Furchtbarkeit ihres Führers und Herrn. Blank schimmerten die fleißig gefetteten Läufe ihrer Gewehre, die kräftigen Riemen kreuzten sich über den breiten Schultern und Brüsten und gürteten die schlanken Röcke ohne Fleck und Fehl. Wie Tarabas, ihr Führer und Herr, trugen alle kriegerische, sauber gebürstete und gewaltige Schnurrbärte in den wohlgenährten Gesichtern. Und aller Augen waren hart und kalt, ein guter, ein wachsamer Stahl. Tarabas selbst, obwohl er es beileibe keineswegs nötig hatte, seine Entschlossenheit durch irgendeinen ihn ermutigenden Anblick zu nähren und zu stärken, fühlte seine eigene Kraft bestätigt, wenn er seine Leute ansah. Jeder von ihnen war sein getreues und ergebenes Abbild. Alle zusammen waren sie gleichsam sechsundzwanzig Tarabasse, sechsundzwanzig Ebenbilder des großen Nikolaus Tarabas, und ohne ihn unmöglich. Seine sechsundzwanzig Spiegelbilder waren sie eben.

Warten hieß er sie vorläufig und ging klirrenden Fußes in das Bahnhofskommando. Hier fand er niemanden vor. Denn der alte Major, ebenso wie der Unteroffizier, befanden sich noch draußen, auf dem Perron, wo sie der merkwürdigen Kommandos Tarabas' und der merkwürdigen Disziplin seiner Leute Zeugen gewesen waren. Der Oberst Tarabas klopfte mit seinem Reitstock auf den Tisch. Man mußte dieses Klopfen weithin auf dem still gewordenen Bahnhof hören. Der Major erschien auch alsbald. »Ich bin der Oberst Tarabas«, sagt Nikolaus. »Ich habe die Aufgabe, in dieser Stadt ein Regiment zu bilden. Ich übernehme bis auf weiteres auch das Kommando über diese Stadt. Vorläufig wünsche ich von Ihnen zu wissen, wo ich Verpflegung für mich und meine sechsundzwanzig Mann bekomme.«

Der alte Major verharrte still auf der Stelle neben der Tür, durch die er soeben eingetreten war. Lange schon hatte er solch eine Sprache nicht mehr vernommen. Das war die seit der Kindheit vertraute, seit dem Ausbruch der Revolution nicht mehr gehörte Musik des Soldaten, eine längst verloren geglaubte Melodie. Der grauhaarige Major – Kisilajka hieß er und war ein Ukrainer – fühlte während der Rede Tarabas', wie sich seine Glieder strafften. Er fühlte, daß sich seine Knochen härteten, seine alten, armen Knochen, seine Muskeln spannten sich und gehorchten der militärischen Sprache. »Zu Befehl, Herr Oberst!« sagte der Major Kisilajka. »Die Verpflegungsbaracke ist einen halben Kilometer von hier entfernt. Es gibt aber wenig Lebensmittel dort. Ich weiß nicht –« »Ich marschiere keinen Schritt weiter«, sagte der Oberst Tarabas. »Die Lebensmittel werden hierhergebracht. Was sind das für Leute, die sich auf dem Bahnhof herumtreiben? Sie werden uns die Verpflegung holen. Ich lasse die Ausgänge besetzen.« Und Tarabas begab sich wieder zu seinen Männern. »Keiner der hier Anwesenden verläßt den Bahnhof«, rief Tarabas. Und alle erstarrten. Aus purer Neugier und leichtsinniger Müßigkeit hatten sie sich eingefunden und in der Nähe der merkwürdigen Ankömmlinge ausgeharrt. Gefangene waren sie nun. Sie waren gewohnt, Hunger, Durst und Entbehrungen aller Art seit langer Zeit zu ertragen. Aber die Freiheit hatten sie besessen. Auf einmal verloren war nunmehr auch ihre Freiheit. Gefangene waren sie. Sie wagten nicht mehr sich umzusehn. Einer nur von den Zuschauern, ein kleiner, magerer Jude in Zivil, versuchte, in ängstlichem Leichtsinn und Gott weiß welcher Hoffnung auf ein Wunder, einen der Ausgänge zu gewinnen. Im gleichen Augenblick aber schoß Tarabas auf den Flüchtigen – und der Arme fiel nieder, mit lautem, unmenschlichem Gebrüll fiel er hin, in den linken Schenkel getroffen, genau an der Stelle, in die Tarabas gezielt hatte; das knöcherne, dünne Köpfchen mit dem schütteren Ziegenbärtchen lag, aufwärtsgereckt, hart am Rande eines Schotterhaufens, welcher der Lokomotive Halt anzukündigen bestimmt war, und die kümmerlichen Stiefel mit den zerschlissenen Sohlen ragten mit den gekrümmten Spitzen gegen das gläserne Perrondach. Tarabas selbst ging zu dem Verletzten, hob den federleichten Juden auf, trug ihn auf beiden Armen, als trüge er ein dünnes Birkenstämmchen, in die Stube des Bahnhofskommandos. Alles schwieg still. Nachdem der Schuß verhallt war, hörte man keinen Laut. Es war, als wären sie alle, die da herumstanden, getroffen worden und im Stehen erstarrt. Tarabas legte den gewichtlosen Körper seines ohnmächtigen Opfers auf den mit Papieren bedeckten Tisch des Majors, riß die alte, glänzende, dunkelgraukarierte Hose des Juden auf, zog ein Taschentuch heraus, betrachtete die Wunde und sagte »Streifschuß« zu dem erschrockenen Major. »Verbinden!« rief er dann. Und einer seiner Leute, der Friseur gewesen war und den Dienst als Sanitäter versah, trat ein und begann, den verwundeten Juden flink und behutsam zu behandeln.

Der erstarrten Zuschauer auf dem Bahnhof gab es etwa vierzig. Diese ließ Tarabas aufstellen. Zweien seiner Männer übergab er das Kommando. Essen sollten sie holen. Der Rest verblieb auf dem besonnten, großen Perron und wartete. Tarabas stand am Rande des Bahnsteigs und blickte auf die bläulich schimmernden, schmalen und eiligen Schienenbänder, indessen drinnen im Büro des Majors der verletzte Jude wieder zu sich kam. Man hörte sein jämmerliches, schwaches Schluchzen durch die offene Tür. In der blauen Luft zwitscherten die Spatzen.

Alsbald kamen auch die Leute mit dem Essen zurück. Man hörte das Klappern der blechernen Geschirre und die gleichmäßigen Schritte der Männer. Sie kamen an. Man begann, das Essen zu verteilen. Tarabas bekam als erster eine Schüssel. Mitten aus der grauen, undurchsichtigen Suppe ragte ein Stück dunkelbraunen Fleisches wie ein Fels aus einem See.

Tarabas zog einen Löffel aus dem Stiefel und seine Männer taten im selben Augenblick das gleiche. Die vierzig Gefangenen, die das Essen gebracht hatten, standen reglos da. In ihren großen Augen wohnte der Hunger. In ihren Mündern sammelte sich feuchter Speichel. Sie konnten das hurtige Klappern der blechernen Löffel gegen das Geschirr kaum hören. Und einige unter ihnen versuchten, sich mit den Fingern die Ohren zu verstopfen.

Tarabas setzte als erster den Löffel ab. Dem ersten der Gefangenen, der in seiner Nähe stand, reichte er den Rest seines Essens, samt dem Löffel. Und ohne daß Tarabas ein Wort gesagt hätte, taten alle seine Männer das gleiche. Jeder von ihnen setzte mit einem Ruck die Schale ab und reichte sie dem nächststehenden Gefangenen. All dies vollzog sich, ohne daß ein Wort gefallen wäre. Man hörte nichts mehr als das Klappern der Blechgeschirre, das Schmatzen der Lippen und das Mahlen der Zähne und das Zwitschern der Sperlinge unter dem gläsernen Dach des Perrons.

Nachdem alle gegessen hatten, gebot der Oberst Tarabas den Abmarsch in die Stadt. Den so zufällig und plötzlich Gefangenen erschien auf einmal ihre veränderte Lage angenehmer. Sie ließen sich von Tarabas' Männern in die Mitte nehmen. Und umgeben von einer lebendigen Mauer aus Bewaffneten, marschierten sie, zufrieden, gleichgültig, manche unter ihnen freudig, unter Tarabas' Befehl in das Städtchen Koropta.

Sie marschierten durch den halbgetrockneten, silbergrauen Schlamm der Straßenmitte – und die Gänse, die Enten und die Kinder liefen schreiend und jammernd vor ihnen her. Der kleine Trupp verbreitete einen absonderlichen Schrecken. Die Bewohner wußten nicht, was für eine neue Art Krieg eben ausgebrochen sein mochte. Denn eine neue Art von Krieg schien ihnen der Einmarsch des Obersten Tarabas zu sein. Fürchterliche und hurtige Gerüchte flogen Tarabas voran. Er sei der neue König des neuen Landes, sagten einige. Und andere behaupteten, er sei der Sohn des Zaren selbst und eben gekommen, seinen Vater zu rächen. Was aber die Juden betraf, deren ein paar Hundert in diesem Städtchen Koropta saßen, so beeilten sie sich, weil es gerade ein Freitag war und der Sabbat mit heiligem Schritt herannahte, die winzigen Läden zu schließen, in großer Hast; und in dem festen Glauben, ihr Sabbat könne den unerbittlichen Gang der Geschichte ebenso aufhalten, wie er ihre Geschäfte aufhielt.

Tarabas, an der Spitze seines gefährlichen Trupps, begriff nicht, weshalb die kleinen Kramläden so eilig geschlossen wurden, und er fühlte sich gekränkt. Die schwatzenden Weiber erhoben sich von den Schwellen, sobald er sich näherte. Man hörte das eiserne Gerassel der Ketten und Riegel und Schlösser vor den hölzernen Kramläden. Hier und dort huschte der schwarze Schatten eines Juden vorbei, Tarabas entgegen, geduckt in den kümmerlichen Schutz der Häuser. Vor sich auf seinem Weg sah Tarabas lauter Fliehende. Daß man vor ihm Angst haben könnte, verstand er nicht. Bekümmert wurde er im Verlauf seines Marsches, bekümmert. Ja, Kummer bereitete ihm die Stadt Koropta. Er hielt vor dem Gouvernementsgebäude, stieg, von zwei seiner Bewaffneten gefolgt, die breite Treppe hinauf und öffnete die zweiflügelige Tür, hinter der er den Kommandanten der Polizei vermutete. Hier saß er in der Tat, ein armseliger Greis, hager und winzig und verloren in dem gewaltigen Lehnstuhl, ein Mann aus alten Zeiten. »Ich habe das Kommando dieser Stadt übernommen«, sagte Tarabas. »Es ist meine Aufgabe, hier ein Regiment zusammenzustellen. Geben Sie mir die Aufzeichnung der wichtigsten Gebäude. Wo ist die Kaserne? Sie dürfen dann ruhig heimgehn.«

»Sehr gerne«, sagte das Greislein. Und begann, mit einem verstaubten, außerordentlich dünnen Stimmchen, das kam, wie aus einem altertümlichen Spind, das Gewünschte herzusagen. Dann erhob sich der Greis. Sein kahler, gelblicher, fleckiger Schädel reichte knapp bis zur Höhe der Sessellehne. Hut und Stock holte er von den Haken, verneigte sich lächelnd und ging.

»Setz dich dorthin!« sagte Tarabas zu einem seiner Begleiter. »Bis ich wiederkomme, bist du der Polizeikommandant!« Und Tarabas ging und säuberte eines der wenigen in Koropta befindlichen Ämter nach dem andern. Die leere Kaserne bezog er hierauf, versammelte die Gefangenen im Hof und fragte: »Wer von euch war Soldat? Wer von euch möchte unter mir weiter Soldat bleiben?«

Alle traten sie vor. Alle wollten sie unter Tarabas Soldaten sein.


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