Joseph Roth
Tarabas
Joseph Roth

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XIII

Deshalb trank er am Abend dieses unseligen Tages viel mehr, als seine Gewohnheit war. Er trank so viel, daß der Jude Kristianpoller nachzusinnen begann, auf welche Weise man unbemerkt dem Branntwein Wasser zumischen könnte. Das Leben freute den Gastwirt Kristianpoller nicht mehr, obwohl er bereits wußte, daß zwei Kisten mit Löhnung für die Mannschaft und Gage für die Offiziere am späten Nachmittag gekommen waren. Zwei Unteroffiziere, sechs Mann, alle mit Karabinern in der Hand, hatten das Auto begleitet. Noch stand es im Hof Kristianpollers. Die Kisten lagerten in der Kammer. Der Wachtposten marschierte auf und ab vor dem Eingang. Er war es eben, der den Juden verhinderte, den Branntwein zu verwässern. Eine Laterne pendelte sachte im nächtlichen Wind vor dem Eingang zur Kammer und verbreitete einen gelblichen, fettigen Schimmer im Hof. In der Gaststube hörte man die regelmäßigen, genagelten Schritte des Postens, obwohl alle Offiziere, wie gewöhnlich, an ihren Tischen saßen. Aber sie sprachen nicht, sie flüsterten. Denn mitten, wie auf einer Insel des Schweigens und wie umzäunt von einer Mauer aus blankem und stummem Eis, saß der gefürchtete Oberst Tarabas allein an seinem Tisch. Er trank.

Die ganze Welt hatte Tarabas verlassen. Vergessen und ausgespuckt hatte ihn die Welt. Zu Ende war der Krieg. Der Krieg selbst hatte Tarabas verlassen. Keine Gefahr mehr wartete auf ihn. Verraten fühlte sich Tarabas vom Frieden. Die Sache mit dem Regiment verstand er nicht. Die Cousine Maria hatte ihn verraten. Vater und Mutter schickten ihm keinen Gruß. Sie verrieten ihn. Vergessen, verlassen, ausgespuckt und verraten war der Oberst Tarabas.

Das Regiment, das er aufgestellt hatte, taugte nichts. Er wußte es ja selber. Morgen mußte man die Hälfte wegschicken; entwaffnen und wegschicken. Er erhob sich, er schwankte schon ein bißchen. Er ging in den Hof, seine Getreuen aufzusuchen.

Er rief Konzew, seinen ältesten Feldwebel. Seit mehr als drei Jahren diente Konzew Herrn Tarabas. »Mein Lieber!« sagte Tarabas. »Mein Lieber!« wiederholte Tarabas; er lallte schon ein bißchen.

Die mächtige Gestalt des Feldwebels Konzew unter dem gestirnten Gewölbe der klaren Nacht, spärlich beleuchtet von der gelblich schimmernden Laterne, blieb unbeweglich vor dem Obersten stehn. »Komm mit!« sagte Tarabas. Und der Koloß Konzew setzte sich in Bewegung. Da er sah, daß Tarabas ein wenig schwankte, bückte er sich, dermaßen dem Obersten die Schulter als Stütze darbietend. Tarabas umschlang die Schulter Konzews. Er versuchte, das bärtige, große Angesicht des Feldwebels dem seinigen anzunähern, er roch mit Wohlbehagen den Schnurrbart Konzews, den Atem aus Tabak und Alkohol, oh, den ganzen wohlvertrauten Geruch des Feldsoldaten, die feuchte Ausdünstung des wolligen Uniformstoffes, den erdigen Duft der schweren, klobigen Hände, den süßlichen Juchtengeruch der Stiefelschäfte und des Riemenzeugs. Diese Gerüche konnten den Obersten Tarabas zu Tränen rühren. Schon stahlen sich zwei heiße Tropfen aus seinen Augen. Tarabas konnte nicht sprechen. Er wankte, mit dem Arm den gebückten, gleichsam verkürzten Koloß Konzew umschlingend, in die äußerste, dunkelste Ecke des Hofes.

»Konzew«, begann Tarabas, und es war das erstemal, daß er so zu seinem Feldwebel sprach, »mein lieber, alter Konzew, unser Regiment taugt nichts, der General hat es mir heute gesagt, aber wir zwei haben es ja auch so schon gewußt, nicht wahr, mein Konzew? Ach, mein lieber Konzew, wir müssen sie morgen wegschicken, die schlimme Hälfte, und wir müssen sie morgen besoffen machen.«

»Jawohl, Herr Oberst«, sagte da der Feldwebel Konzew, »wir werden sie besoffen machen, und wir werden sie auch loswerden. Wir werden ihnen die Gewehre abnehmen. Und die Munition auch«, sagte Konzew nach einer Weile als einen ganz besonderen Trost. Er war gut zehn Jahre älter und fünf Zentimeter größer als der Oberst Tarabas, und er benahm sich ganz väterlich.

»Weißt du noch«, sagte dann der Oberst, »der Krieg? – Es war eine großartige Sache. Man hatte es da nicht nötig, Regimenter zusammenzustellen. Man schoß einfach, man krepierte. Ganz einfach. Nicht, mein lieber Konzew?«

»Ja, ja«, sagte der Koloß Konzew, »der Krieg, das war eine Sache! Nie mehr, nie mehr werden wir einen neuen erleben.«

»Und er war schön!« sagte Tarabas. »Er war herrlich!« bestätigte Konzew.

»Wir werden morgen nicht ausrücken«, sagte Tarabas. »Wir werden sagen, der General hat einen Tag zum Trinken freigegeben. Um sechs Uhr morgens werden die Leute zu trinken beginnen. Am Abend werden wir sie unter Bewachung hinausschaffen.«

»Wir haben vier Lastautos«, bestätigte Konzew. »Kehren wir um, Herr Oberst!« Und er geleitete gebückt, um gute drei Zentimeter kürzer, als ihn die Natur geschaffen hatte, den Obersten Tarabas zurück in die Wirtsstube.

»Laß dich umarmen«, sagte Tarabas, bevor er eintrat. Konzew aber sprang einen Schritt vor, stieß die Tür zur Gaststube auf, blieb an der Schwelle reglos stehn und wartete, bis Tarabas eingetreten war. Hierauf salutierte er, verließ mit einem einzigen gewaltigen Schritt die Stube, und eine Weile hörte man noch seine mächtigen Stiefel auf der nächtlichen Erde des Hofes herumstampfen.

Tarabas setzte sich wieder an den Tisch und blieb auch daselbst, und vor ihm reihten sich die Schnapsgläser auf wie funkelnde Soldaten. Allmählich verließen die Offiziere, einer nach dem andern, die Gaststube, jeder mit wortlosem Gruß vor dem Obersten. Allein blieb Tarabas am Tisch. Hinter der Theke saß der Gastwirt Kristianpoller.

Der Oberst Tarabas gedachte offenbar nicht mehr sich zu erheben. Über dem Schanktisch schlug die Wanduhr Kristianpollers eine Stunde nach der anderen. Dazwischen hörte man nur ihr starkes, eisernes Ticken und aus dem Hof die regelmäßigen, genagelten Schritte des Wachtpostens. Sooft der Oberst Tarabas ein Gläschen an den Mund führte, schrak Kristianpoller auf und machte sich bereit, ein neues zu füllen. Unheimlicher noch als der unaufhörlich trinkende Tarabas erschien dem Wirt die vollkommene Stille dieser Nacht, dermaßen, daß er ordentlich froh wurde, sobald der Oberst trank. Von Zeit zu Zeit blickten beide Männer nach dem Fenster, auf das schmale Rechteck des dunkelblauen, gestirnten Himmels. Hierauf begegneten einander ihre Augen. Und je häufiger ihre Augen sich trafen, desto vertrauter schienen die Männer miteinander zu werden. Ja, ja, du Jude! sagten die Augen des Obersten Tarabas. Und: Ja, ja, du armer Held! sagte das eine, das gesunde Auge des Juden Kristianpoller.


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