Peter Rosegger
Das Sünderglöckel
Peter Rosegger

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Die Angst vor dem Sterben.

Wir wissen noch immer nicht genau, ob der Hinblick auf den Tod mehr beiträgt, unser Leben zu verdüstern oder zu erhellen. Vielleicht wäre das Bewußtsein, ewig auf dieser Erde, in diesem Leibe, und unter dem bekannten Einerlei fortzuleben, einfach nicht auszuhalten. Noch sicherer aber weiß die Mehrzahl der Menschen von der Qual, der Furcht vor dem Sterben, die uns so viele bange Stunden macht. Ein Rat mancher Weltweiser besteht darin, stets den Augenblick wahrzunehmen und zu genießen, ohne zu denken, was kommen kann. Dieses Eintagsfliegenprinzip will aber bei dem alles begehrenden wirklichen Herrenmenschen nicht verfangen. Es gibt viele Seelennaturen – und wahrlich nicht die wertlosesten – die nie im stande sind, den Freudenbecher des Augenblicks in vollen Zügen zu trinken, weil sie schon während des Genusses an die nahe Neige denken müssen. Es freut sie kein Glück, weil sie dessen Ende fürchten. Was nicht ewig dauert, hat für sie keinen rechten Wert. Diese Anspruchsvollen müssen von ihrer Unsterblichkeit überzeugt sein, wenn ihnen das gegenwärtige Leben von Wert sein soll. Gibt es für sie persönlich keine Zukunft, so bedeutet ihnen auch die Gegenwart nichts. Deshalb wirft so mancher aus Verzweiflung am ewigen Leben auch das zeitliche weg.

Ob nun ewiges Leben oder ewiges Nichtsein, keinesfalls bleibt dem Erdensohne der Übergang geschenkt. Und dieser Übergang ist unheimlich. Man könnte sich aber doch wundern darüber, daß die Leute das Sterben nicht schon gewohnt sind. Seit Menschengedenken sterben sie, alle Zustände und Verhältnisse sind so eingerichtet, daß die Individuen einander in kurzen Zeiträumen ablösen. Mancher ist schon trostlos, wenn er sich selbst ein paar Jahre überlebt. Würde einmal eine Generation auch nur dreißig Jahre leben über das gewöhnliche Maß hinaus – es gäbe eine ungeheure Revolution. So sieht denn jeder jeden Tag die Reihen um sich sachte hinsterben, und die Totenglocken läuten nicht seltener als die Suppenglocken. Es gibt nichts Alltäglicheres, nichts Gewöhnlicheres als das Sterben. Und trotzdem ist es keiner gewohnt, weil bei jedem das erste Mal auch das letzte Mal ist. Wahrscheinlich fürchten wir das Sterben nur deshalb so arg, weil wir nicht schon wenigstens einige Male gestorben sind, oder uns nicht daran erinnern, je einmal gestorben zu sein. Man vermutet, daß das Kindergebären schmerzhafter ist, als das Sterben, und doch fällt es keinem braven Weibe ein, dem Glücke zu entsagen aus Furcht vor den Schmerzen.

Aber so gewöhnlich und gleichmäßig in der Natur das Geborenwerden und Sterben vor sich geht, für den Einzelmenschen bedeuten diese Vorgänge doch alles – Sein und Nichtsein. So wie die Natur mit unendlicher Energie nur auf das Ganze bedacht und gleichgültig gegen das Einzelwesen ist, so gleichgültig ist umgekehrt das Einzelwesen gegen das Weltganze und so leidenschaftlich hält es fest an dem persönlichen Sein. Das ist der Konflikt, den es gilt zu schlichten. Warum ist hier kein Vererbungsprozeß nachzuweisen? Der Tod vererbt sich, weshalb nicht auch das ruhige Philosophenbewußtsein seiner Selbstverständlichkeit? Nach der Anpassungstheorie müßten im Lauf der Zeiten die Wesen sich gelassen anpassen dem Todesgedanken und dem Tode, so wie der Frühlingsfrohe dem Herbste, dem Winter, ja selbst dem persönlichen Alter sich wohlgemut ergibt. Ist nicht ein williges Sichfügen in die unabweisbare Verwandlung zweckmäßig? Warum geschieht es nicht, da doch nach dem Naturgesetze das Zweckmäßige sich vollzieht! – Nun, das paßt auf das Leben, aber nicht auf den Tod. Eben das Entsetzen vor dem Tode ist Vererbung, weil nur die starken, leidenschaftlichen, im Sinne dieses Lebens todhassenden Lebewesen die mächtigste Fortpflanzung besorgen. Nach grobsinnlicher Auffassung ist die Empörung gegen den Tod das Zeichen eines gesunden Lebens. Aber ich stelle die Frage, ob sich energische Lebenslust mit Furchtlosigkeit vor dem Tode denn nicht verträgt? Wer es erfahren hat, wie im Volke so viele ihr Leben lang, ob gesund oder krank, in Todesangst sind, und diese Todesfurcht sie zu keiner wahren Erdenfreude kommen läßt, der sucht nach Mitteln, um dieses Gespenst zu vertreiben. Er trachtet in den Menschen Vorstellungen zu erwecken, jene Wahrheiten zu enthüllen, in deren Lichte der Tod seine Schrecken verliert, und schließlich – bedeutungslos wird, als ob er gar nicht vorkäme. Und das wäre hier zu versuchen.

Ich will nicht erst historisch werden und daran erinnern, wie die Alten den Tod in lieblichen Gestalten personifiziert haben, als schönen Genius, der die Fackel bricht, als süß schlafenden Jüngling. Für solch Symbolisches hat der moderne Mensch wenig Sinn. Er denkt nur, daß das Sterben weh tut, unfaßbar weh. Er fürchtet und fühlt den Tod wie einen Scharfrichter, der gewaltsam das Leben vernichtet. Denn die meisten Menschen sterben eines unnatürlichen Todes. Sie sterben nicht an Altersschwäche, was ein Einschlafen am Abend ist. Sie sterben nicht am Ende des Lebens, sondern mitten im Leben – und das tut freilich weh. Doch nur das noch leidende Leben tut weh, nicht der nahende Tod. Viele Leute glauben, man sterbe an den Schmerzen einer Krankheit, diese Schmerzen würden so wahnsinnig groß, daß sie nicht mehr auszuhalten seien und deshalb sterbe man daran. Nun ist der Tod aber gerade das Aufhören der Schmerzen, das Ende derselben. Der heftige Schmerz ist noch Zeichen großer Lebensenergie, erst wenn die Sinne gefühllos werden und der Geist stumpf und gleichgültig geworden, kann es das Nahen des Todes bedeuten. Gegen den Schmerz, der uns so zuwider ist, gibt es gar kein besseres Mittel als den Tod. Dieser kümmert uns also nicht weiter. Man könnte, ohne paradox zu werden, in allem Ernste sagen, der Tod gehe uns Menschen eigentlich gar nichts an, lebendig nicht, weil wir sind, und tot nicht, weil wir nicht sind.

Dem Tode die Schrecken hat das Mittelalter gegeben, das gegen die Menschenfreuden überhaupt erbarmungslos gewesen ist. Durch die Vorstellung eines schrecklichen Todes war auch das Leben schrecklich gemacht. Geschah das, um alle Freude ins Jenseits zu verlegen? Nein. Auf die meisten Menschen (denn der Himmel war kaum zu erringen) wartete im Jenseits die ewige Verdammnis. Im Mittelalter gab es kein Sterbebett, an dem nicht ein paar Teufel bereit standen, um die ausfahrende Seele in Empfang zu nehmen und ins ewige Feuer zu schleppen! Das Erdenleben schrecklich, das Sterben noch schrecklicher und das Jenseits am schrecklichsten. Das war das Los der Menschen im Mittelalter. In Wahrheit ist weder das Leben, noch der Tod, noch das Jenseits schrecklich gewesen. Einzig schrecklich nur war diese grausame Lehre, die eine Hölle von Angst, Jammer und Verzweiflung in das Menschenherz gesenkt hat. Diese Hölle ist noch heute nicht ganz ausgelöscht. Obschon die katholische Kirche die Himmelstür wesentlich erweitert hat, wenigstens für ihre Gläubigen, so behauptet sie doch noch immer, daß es nur für den Katholiken gut sterben sei. Wer jedoch Gelegenheit hat, Sterbende zu sehen, der merkt keinen Unterschied zwischen Angehörigen verschiedener Religionen. Vor kurzem habe ich einen Atheisten sterben gesehen, der – bis zum letzten Augenblicke bei Bewußtsein – mit Fassung und unter Zeichen der Liebe zu den Umstehenden dem Tode entgegensah. »Es ist doch angenehm, so zu sterben!« Das war sein letztes Wort.

In meinem Hause habe ich ein junges Mädchen voll Frische und Lebenslust. Das hat über seinem Toilettentischchen das Bild eines lebensgroßen Totenschädels geheftet, und an der rotseidenen Halsmasche als Busennadelknopf trägt das Mädchen ein Miniaturtotenschädelchen, hohläugig ebenso munter in die Welt blickend, wie die braunen Augen der Trägerin. »Man muß auch den Totenschädel zähmen, dann beißt er nicht«, sagte sie einmal, und dieses frühe Sichvertrautmachen mit dem Unvermeidlichen nimmt dem Tode den Stachel. Eine junge Schwester dieses Mädchens hat einmal ein vollständiges Totengerippe in einem Sacke von Wien nach Graz gebracht, das sie von einem Arzte für ihren Bruder, der Medizin studierte, erhalten hatte. Die Ehrfurcht, die sie für diese Reste eines vergangenen Menschen empfand, hinderte sie durchaus nicht, unterwegs harmlos zu scherzen und zu lachen.

So soll man niemals – selbst in blühender Jugend nicht – vor dem Tode die Augen abwenden, vielmehr über das Grauen, das uns anfangs bei Todeserinnerungen zu überfallen pflegt, Souveränität zu gewinnen suchen, die man auch in kürzester Zeit erlangt.

Nach der Beobachtung kann man sagen, daß die Todesangst, die manchen durch das Leben verfolgt, in der Nähe des Todes abnimmt und zuletzt ganz verlischt. Menschen, die sich in plötzlicher Todesgefahr, als z. B. Sturz von einem Felsen, Wagenzusammenstoß u. s. w. befanden, haben ausgesagt, daß sie in den Augenblicken der Gefahr weniger Angst empfanden als Neugierde, wie das verlaufen werde. –

Und doch diese Angst vieler Menschen vor dem Sterben! Sogar Selbstmorde werden verübt aus Furcht vor dem Sterben, allein soviel man den instinktiven Äußerungen solcher Selbstmörder entnehmen kann, ist ihr letzter Augenblick nicht so sehr erfüllt von der Angst vor dem Sterben, als von der Reue um das Leben.

Sehr viele scheuen das Sterben wie ein Elementarunglück, das ihnen die Welt zerstört, das sie lostrennt von allem, was sie hier geschaffen haben, lostrennt von allem, dem sie sich angelebt und in dem sie sich verkörpert haben. Dieser Verlust wäre allerdings hart, wenn man – davon etwas wüßte. Wenn man im tiefen Grabe eingeschlossen denken könnte: Mein Haus, meine Werke, meine Fähigkeiten, mein Rang – alles ist hin und mein lieber schöner Leib muß die Speise der Würmer sein! Aber dieses Bewußtsein, das uns wahnsinnig machen könnte, das Leben wäre es wieder, und nicht der Tod. Es gibt jedoch einen Fall, wo man das Sterben mit vollstem Bewußtsein empfindet und überdauert, das Gestorbensein gleichsam weiß und fühlt. Nämlich, wenn man liebe Angehörige hinterläßt, in denen wir leben, die am Totenbette stehen und die dann verlassen sind. Das und nur das ist das bitterste Sterben, doch wieder nur bitter für die Lebenden, nicht für den Toten. Man kann das Sterben drehen und wenden wie man will – den es trifft, der ist geborgen.

Alte Leute sterben leicht, ja ersehnen den Tod oft so innig, als man im Alter nur etwas ersehnen kann. »Hat mich der liebe Gott denn ganz vergessen?« hört man manche einsame Greisin seufzen. Nicht allein, weil die Menschen sich von der Neunzigjährigen wenden, fühlt sie sich verlassen, sondern vielmehr, weil der Tod immer noch nicht kommen will. Es ist ihr, als sinke sie langsam und ewig in eine Tiefe hinab und niemand erlöse sie vor sich selbst. Das ist unheimlich, in ein solches Menschenwesen muß man sich hineindenken, um so recht inne zu werden, wie sehr wir Gott danken müssen dafür, daß wir hier sterben dürfen!

Aber gerade das erweckt bei den meisten den größten Abscheu vor dem Sterben: daß es tot macht! Die Vorstellung des Totseins ist für uns Kinder des Lebens unerträglich. Zum Glücke ist sie nur eine Vorstellung, und das noch eine ganz vage. Es gibt ein Sterben, das heißt ein Verwandeln, aber es gibt kein Totsein – kann keins geben für den, dessen Wesen im Geiste ist. Auf die Unsterblichkeit der Materialisten gebe ich nichts. Die sprechen in ihrem Sinne von der Unsterblichkeit des Körpers, der auch im Grabe lebe, dort anstatt eines Lebens deren tausend erzeuge! Wahrlich nein, als Wurm, als Insekt sein Leben fortzusetzen, das wäre meine Sache nicht. Dazu bin ich viel zu unbescheiden. Eher leuchtet's mir ein, wenn die Gelehrten sagen, daß im menschlichen Körper von sieben zu sieben Jahren sich alle Stoffe umsetzen, auswechseln, so daß jedes Teilchen ein anderes wird. Der Mensch wirft also alle sieben Jahre einen alten Leib weg und zieht einen neuen an. Ist das nicht ein Sterben und Wiederauferstehen im Kleinen? Und die Seele, das Ichbewußtsein, bleibt über alles hinaus sich gleich. Ein Beweis, daß die Seele nicht an den Stoff gebunden ist, sondern für sich besteht.

Die Unsterblichkeit, die ich meine und wünsche und habe, ist die persönliche Unsterblichkeit, die Unzerstörbarkeit des Ichbewußtseins. Ich habe täglich meine Leiden, und doch ist mein Denken, Ahnen und Beten – ewig zu leben. Andere dürsten nach Ruhm, nach Wissen, nach Schönheit – ich dürste nach Leben. Nach ewigem Leben mit gesunden Sinnen und einem reinen Herzen. Der alte Spruch: »Ich komme und weiß nicht woher, ich bin und weiß nicht wer, ich gehe und weiß nicht wohin, mich wundert's, daß ich noch fröhlich bin«, stimmt manchen traurig. Es gibt einen noch traurigeren: »Ich komm' aus dem Nichts, bin nichts und gehe ins Nichts.« Dieser Spruch gefällt vielen gar so gut, obschon er ganz unsinnig ist. Denn wenn einer nichts ist, wie kann er kommen und gehen? Wenn einer nichts ist, wie kann er denken, daß er nichts ist? – Ich für meinen Teil bin erst zufrieden mit der absoluten Sicherheit, ewig zu leben. Allerdings nicht so, als ob ich die Erinnerung an alle sinnliche Vergangenheit auch nach dem Sterben mit mir fortschleppen müßte; diese Vergangenheit wird mit dem Hinfallen des Körpers, in den sie eingemeißelt worden, abgestreift. Aber so ist es, daß ich immer und zu jedem Augenblick durch alle Ewigkeiten hin weiß: Ich bin. Unsere Seele wird wohl nie einen Augenblick der Bewußtlosigkeit haben, auch im Schlafe, in der Ohnmacht nicht, es bleibt bloß die Erinnerung nicht haften. – Leben! Leben! Das ist mein fester Glaube, nein, meine unerschütterliche Überzeugung, die ich schon hundert Mal ausgesprochen habe, und die ich tausend Mal zu bekennen das Verlangen trage: meine Seele ist unsterblich, mein Ichbewußtsein ist unzerstörbar. Beweis dafür: ich bin. Mit dem großen Philosophen sei's gesagt: ich denke, ich schreibe das nieder, also bin ich. Und daß ich bin, ist mir ein sicheres Zeichen, daß ich immer war und immer sein werde. Denn wenn ich bin, weshalb soll ich denn ganz willkürlich annehmen, daß ich nicht wäre? Je einmal nicht gewesen wäre, nicht sein würde? Und gesetzt, ich nehme an, daß ich nicht war und nicht sein werde, also im ganzen nicht bin: warum soll ich denn gerade jetzt, in diesem Augenblick sein, wenn ich überhaupt nicht bin? Das erschiene mir lächerlich, ungereimt, undenkbar. Strenge genommen ist es ja richtig, daß ich bloß für diesen einen Augenblick meines Seins bürgen kann. Aber dieser Augenblick war immer und wird immer sein. Denn dieser Augenblick ist die Ewigkeit. – Nach unserem Sprachgebrauch von »Zeit und Ewigkeit« bilden wir uns ein, die Zeit sei ein Stück für sich, stehe im Gegensatz zur Ewigkeit, oder sei nur ein Bindeglied zwischen einer Ewigkeit nach rückwärts und einer Ewigkeit nach vorwärts. Und ich fühle es doch so deutlich, daß ich mit meiner Zeit mitten in der Ewigkeit stehe und andererseits, daß die Ewigkeit in mir steht. Man könnte sagen: wenn die Ewigkeit nicht wäre, so wäre ich auch nicht, oder vielleicht noch richtiger: wenn ich nicht wäre, dann wäre auch die Ewigkeit nicht. Heißt es doch, daß Zeit und Raum bloß Denkformen sind, die nicht sein könnten, wenn nicht jemand wäre, der sie denkt. Damit hebt man freilich alles auf: alle Wesenheit außer mir ist nichts Reales für sich, ist nur eine Vorstellung, eine Denkform in mir. Und so hat sich die Sache mit einem Schlage umgekehrt. Wenn es sonst hieß: ich bin nichts, aber die Welt ist alles, so kann es nun heißen: ich bin alles und die Welt ist nichts.

Der Tod und die Todesangst entspringt also nicht realer Erfahrung, vielmehr philosophischer Vorstellung. Deshalb kann dieser nur wieder mit philosophischen Gründen entgegengearbeitet werden, obschon bei diesem tiefsten aller Geheimnisse der Mensch verstummen muß.

Du findest es, lieber Leser, also wohl ein wenig anmaßend, mit seinem Ich so groß zu tun. Ist es aber denn gerade mein Ich, das des Schreibenden, von dem ich spreche? Kann's nicht vielmehr das des Lesenden sein? Ja, mein Leser, du hast das volle Recht, dein Ich über alle Zeiten und Dinge zu stellen, es mit der Ewigkeit zu messen – wenn du dich in Gott fühlst. –

Unsere Seele ist eins mit Gott und unsere Heimat ist die Ewigkeit. Das ist mein großes, heißes Glauben, in dem die Stückwerke meines irdischen Wissens und Wünschens hinschmelzen wie Schnee in der Sonne des Mai. Alle irdischen Zeitläufte und Taten sind nur Atemzüge dieses unendlichen Lebens, vor dessen Majestät die Angelegenheit unseres zeitweiligen Sterbens nichts als ein Wäschewechsel ist.

Lassen wir uns also nicht bange machen von dem »raschen Enteilen der Zeit«, von dem stets steigenden Alter, von dem immer näher kommenden Sterben. Trachten wir möglichst naturgemäß zu leben, damit unser Sterben nicht ein unnatürliches werde, ein vorzeitiges, das Körper und Geist noch zu widerstandsfähig findet. Eine unserer Lebensaufgaben ist, dem frühen gewaltsamen Tode des Körpers zu entkommen, immer darauf hinzuarbeiten, daß wir im hohen Alter friedlich entschlafen können. Das weitere gibt sich: was wir in dieser Epoche zu verlieren haben, werden wir in der nächsten finden. Denn das Leben ist aufsteigend, weil es unsere Wünsche sind. Unsere Wünsche, unsere Bestrebungen nach dem Höchsten sind da, um erfüllt zu werden, das ewige Leben hat Zeit genug dazu.

Ich rate daher, daß wir das Spiel nicht auf eine einzige Karte setzen sollen, nicht auf die des gegenwärtigen Erdenlebens, daß wir froh sein mögen, diesen Körper, wenn er unbrauchbar geworden, ablegen zu können, um einen neuen, frischen anzuziehen.

Betrachte doch einmal deinen Leib, dem du so grenzenlos ergeben bist. Gibt es an ihm einen Teil, der dir nicht schon Leid zugefügt hat? Der nicht schon versuchte, dich in die Tiefe zu ziehen? Hast du dich nicht oft geplagt mit diesem Erdenklotz, wenn du zur Höhe wolltest und er niederwärts strebte, dem Tiere, dem Schlamme zu? Danke ihm für manches schöne Erdenglück, das er dir verschaffte, und entlasse ihn kühl.

Im übrigen ist es der Mühe wert, sich, geistig rein, stark und froh zu machen – für ewiges Leben! – Kein irdisch Herz kann es erfassen, was uns bevorsteht.

 


 


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