Peter Rosegger
Das Sünderglöckel
Peter Rosegger

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Ein moderner Dämon.

Nach der stärkenden Nacht schreite ich durch den kühlen, feuchten, sonnendurchfunkelten Baumgarten. Die Vögel singen so leidenschaftlich wie Menschen, wenn sie Liebe und Wonne fühlen. – Vom Sommerhäuschen her das trauliche Geräusch des Alltagslebens. Ich setze mich auf die Lindenbank, in der Hand ein schönes Buch. Der Morgen eines Tages, der ganz mein sein wird; denn die drohenden Besuche abzulenken, ist gelungen, und die Post ist gnädig gewesen. Kann jemand ermessen, was das heißt, einen ganzen langen stillen Sommertag ganz allein für sich zu haben? Wer erst wenige Tage vorher dem Stadtlärm entkommen ist, um ländlichen Frieden zu atmen, der, dächte man, sollte die ruhige Einsamkeit zu schätzen wissen.

Doch anstatt sehr glücklich zu sein, war ich sehr unzufrieden – natürlich, ohne zu wissen, warum. Über das schöne Buch schweifte das Auge zwischen den weißstämmigen Birken hinaus in die fernen blauen Berge. Lesen? In diesem engen drückenden Garten sitzen bleiben und lesen? Oder mit den Kindern allerlei Kindisches treiben? Oder in der Hängematte warten auf den Mittag, und von Mittag aufs Vesperbrot und endlich auf den Abend, der ewig nicht kommen will? Unerträglich.

Da haben wir's – das denkbar größte idyllische Glück unerträglich! Ein sachtes Bangen zieht mich hinaus in die Täler, an die Bergeshänge, auf die Höhen, die mir nichts Neues bieten, weil ich sie hundert Mal schon bewandert habe. Hatte es mich doch allemal, so oft ich draußen war, gelangweilt an den Wässern, verdrossen in den Wäldern, zu sehr umwindet auf den Almen – daß ich bald wieder dem Heim zuwanderte! Und jetzt, wo man so bequem sitzen oder sich geruhsam ergehen könnte im heimlichen Baumgarten, will's nicht behagen, man muß hinaus, irgend wohin. Wohin denn? Das weiß ich nicht. Der Wege ziehen viele nach allen Richtungen, man kann gehen, fahren und reiten. Aber auf den Straßen ist's zu staubig, auf den Matten zu sonnig, in den Schluchten zu feucht; auf die Berge ist's zu steil, auf die Almen zu weit, ins Hochgebirge zu beschwerlich. Und zu Hause – Ödheit. Vielleicht arbeiten? Wieso? Arbeiten kann man, wenn's regnet. Die schönen Tage müssen ausgenützt werden. Also erfüllt mein Wesen ein abenteuerliches Unbehagen. Ich schaue in mich und suche nach der Ursache – und finde sie nicht. Darf man den Zustand modern nennen? Unzufrieden mit dem, was man ist und hat, ein Verachten des Naheliegenden, und wäre es das Beste, ein Hangen und Verlangen nach Dingen und Verhältnissen, die – man eben nicht kennt. Würde man sie kennen, würde man wissen, was man will, gleich wäre der Reiz beim Satan, oder der Satan beim Reiz. – Ruhelos! Kaum daß wir in unseren bequemen Wohnstätten festsässig geworden sind, fängt Nomadenblut an, sich zu regen – unbändiges Nomadenblut. Was ist das? Was ist es nur? Es ist die Unrast des Suchenden. Das frühere Ideal – Beständigkeit, das heutige – Wechsel. Alle Heimständigkeit ist hin. Man sagt, es sei Bedürfnis geworden, zu reisen, um nicht zu verrotten, nicht zurück zu bleiben, denn alles reist. Und es sei Bedürfnis geworden, zu gewissen Zeiten in den Alpen zu sein, in den Hotels der Seen zu wohnen und hohe Berge zu besteigen. Alles spricht davon, überall liest man darüber, alle gesellschaftlichen und Verkehrseinrichtungen zwingen nachgerade darauf hin. Was ist das nur? Ist es, weil die Menschheit gähnt? Sie will doch Geld erwerben! Aber hierin gibt es halt noch immer kleine Unterbrechungen, und sie gähnt jeden Augenblick, da sie nicht Geld erwerben kann.

Du gütiger Gott, das wird doch keine Standrede gegen das Reisen sein sollen! Wo in aller Welt gibt es denn etwas Schöneres, Bildenderes, Erhebenderes, als eben – in aller Welt. Wo ist denn etwas Himmlischeres, als die Naturfreude – die Gnade, die Gott dem modernen Menschen aufbewahrt hat zum Ersatz für so vieles andere, das er verloren! – Wenn die Leute, die reisen und reisen können – nur auch reisen könnten! Wie treiben sie es denn? Die wirklichen Genüsse und Seelengewinne wiegen bei weitem nicht auf die Kosten, den Zeitverlust, die Mühsal und den Ärger, wenn der Philister reist. Man reist bloß, um zu reisen, klettert, um zu klettern, läßt sich in allen denkbaren Vehikeln herumwerfen, gibt Geld aus – und wenn's vorbei ist, hat man nicht das Gefühl einer genossenen Erholung, sondern einer getanen Arbeit. Man freut sich, daß sie getan ist, und ist befreit von dem Alp, der gedrückt hat. Denn wochenlang hat man vorher die Reise beredet, für sie gespart, auf sie vorbereitet. Endlich sind sie da, die Beschwerden der Eisenbahnfahrten, die zweifelhaften Nachtquartiere, die ungewohnte Kost, die rupfenden Kellner und lümmelhaften Lohndiener und die touristischen Bedrängnisse aller Art. Es ist ein Schimpfen und Fluchen und Seufzen wochenlang, oder ein Prahlen und Großtun und fremden Leuten glauben machen wollen, man sei mehr als Krämer oder Gerbermeister. Und doch bringen sie nicht ein Wort über die Lippen, das nicht nach Kleingeld oder Leder riecht. Endlich vom Salzkammergut, oder von Tirol, oder gar von der Schweiz heimgekehrt, wissen sie nichts anderes zu erzählen, als wie man in diesem oder jenem Hotel gegessen, auf dieser oder jener Bergpartie übernachtet, und wie viel man für diese und jene Fahrstrecke bezahlt hat. Solche geistige Anregung hält aber auch monatelang vor, bis wieder die Zeit kommt für neue Reisepläne. – Daß es der gebildete Philister um ein paar Grade höher macht, als der ungebildete, ist richtig, kommt aber am Ende doch aufs Gleiche heraus. Es sind halt sehr oft nicht Bedürfnisreisen, es sind Renommierreisen.

Da meine ich natürlich nicht die wirklichen Touristen und Naturfreunde, wovon viele im Laufe des Jahres sich manches Nötige versagen, um ein paar Bergtouren machen zu können, wovon viele Gesundheit und Leben einsetzen für Naturgenüsse, die hehr und heilig sind und den ganzen Menschen durchglühen und glücklich machen. Das sind mir die rührendsten Gestalten unseres ganzen modernen Lebens. Ich meine auch nicht die Sommerfrischler, die – so lange unsere Weltgiftstätten, »Stadt« genannt, immer noch wachsen – die paar Wochen Landluft so nötig haben, wie der Fisch das Wasser.

Ich meine manch' andere und – mich selbst nicht zuletzt. Wenn man im stillen frischen Garten sitzt, mitten in einem Kranz von grünen Bergen, und doch keine Ruhe hat, sondern fort will in unbestimmte Ferne – so ist das einfach, als wäre man besessen von einem Dämon. Es ist nicht so, als ob man sich nach bestimmten Gegenden oder Ortschaften oder Menschen oder Kunstwerken oder Naturwundern sehnte – man hat vieles schon zum Überdruß gesehen, man hat Abscheu vor den Widerwärtigkeiten des Reisens, vor den Unbilden der Witterung, vor dem Durcheinandergeschütteltwerden mit allerlei oft recht widerlichen Gesellen – und doch muß man fort. Mancher hat das Glück gehabt, oft schon die Alpen zu schauen, und hat die Gabe, in mächtiger Phantasie sich alle ihre Herrlichkeiten lebendig vorstellen zu können, so daß ein solch geistiges Wiederschauen fast vollgültiger Genuß ist – und doch kann er nicht in seiner heimlichen Frohrast verbleiben – er muß fort ins Unstete, Unwirtliche hinaus. Das ist der Dämon.

Ein Dämon, aber trotz alledem keiner der schlimmsten. Die Freuden, die er verspricht, hält er auch, wenigstens denen, die sie verstehen. Unter Umständen läßt er sie mit dem Leben bezahlen, und wenn Alpentouristen immer wieder in die Gefahr gehen, so bezeugen sie damit, daß diese Freuden mit dem Leben nicht zu teuer bezahlt werden. – Den Seligen wird die Anschauung Gottes verheißen. Das Schauen und Anschauen ist der uneigennützigste aller Genüsse. Was ist es anders, als Anschauung Gottes, wenn wir seine Schöpfung schauen und dabei das tiefste Glück empfinden? – Aber ist nicht auch in meinem Garten Gottes Schöpfung? Warum zieht's mich davon? – Ich suche zu antworten. Einmal: die Zeit ist ein rasch fliegendes Wandelpanorama geworden, so hat sie den Menschen verwöhnt, in immer rascherem Laufe immer anderes zu sehen. Daher weiß ich mir bei meiner Gebrechlichkeit kaum etwas Feineres, als in einem Wagen hinzufahren durch schöne wandelnde Landschaften, im tauigen Morgen, in der Mittagssonne, in der Abendkühle. Die Landschaft in allen ihren Formen, Farben, Lichtern und Schatten, mit dem unerschöpflichen Gaukelspiel der Wolken am Himmel! Alles kommt reihenweise oder kreisend mir entgegen, an mir vorüber, die näheren Dinge eilend, die ferneren und großen majestätisch langsam – Gärten, Auen, Wälder, Felsen, Wässer. Die vom Blitz gespaltene Tanne, der zerklüftete Stein, der dämmernde Tümpel, auf Augenblicke sogar der kreisende Adler, das schreckige Reh, dann der dunkle Frieden in den Gründen, das Rauschen, Klingen und Leuchten in den Höhen. Immer gleich und immer anders, nie ein Stückwerk, nie ein Stümperwerk – immer ein vollendetes Bild. Wer mißt die Stimmungen? – Nichts Feineres, als unter fieberndem Reiserausch so hinzugleiten im Wandel des Beständigen, in der Beständigkeit des Wandels. – Müde, vielleicht krank komme ich heim, aber die arme Seele hat dann auf ein Weilchen Ruhe.

Das hatten die Alten nicht verstanden, wie man aus einer Fahrt oder Wanderung über Berg und Tal, durch Wald und Au des Schauens wegen so viel Wesens machen kann. Was daran Jagd und Landwirtschaft war, und höchstens einmal eine Natur-Kuriosität, sonst sahen sie nichts. Vor dem, was uns heute entzückt, fürchteten sie sich – im übrigen war ihnen die Landschaft leer. Naturschönheiten in unserem Sinne gab es nicht, das unruhvolle Verlangen, sich in besondere Naturstimmungen zu versetzen, gab es nicht – da war es leicht, im Garten sitzen zu bleiben oder sich gar auf die Bank hinzustrecken und zur Krönung des Behagens eine Pfeife zu rauchen. Doch mir ist mein fiebernder Reise- und Naturfreudenrausch beinahe lieber als jene Behaglichkeit.

Wenn nur auch jeder Tourist diesen wilden, heiligen Naturrausch empfände. Aber viele von ihnen, sie fahren, sie laufen, sie steigen, sie klettern. Sie wollen gerade einmal wissen, wer stärker ist und wer's besser kann – weiter ist's nichts. Oder sie wollen genau nach Metern wissen, wie hoch ein Berg, wie weit eine Höhle, wie tief ein See ist, freuen sich unbändig, alte Resultate umstoßen zu können, und sind verstimmt, wenn es schon vor ihnen in Richtigkeit gewesen. Wo kein Weg, da wollen sie gehen, wo kein Steig, da wollen sie klettern, wo keiner noch war, da wollen sie hin. Forschertrieb in den einzelnen, Renommisterei in den meisten Fällen.

In den Monaten August und September klettern zwischen Graz und Genf mindestens zwei Millionen Menschen in den Alpen herum, dreiviertel davon Fachtouristen und Bravotouristen. Das sind so recht die vom Dämon Gejagten und Gehetzten; kein Bergwirtshaus, das nicht erschallte von ihren Prahlereien, kein Alpenfriedhof, auf dem nicht ein Zutodegefallener läge.

Der Dämon Alpinismus!

Die ganze zivilisierte Welt liegt in seinem Banne, die Alpen sind Gemeingut der Völker geworden. Der Amerikaner steht auf dem Montblanc so eigenmächtig auf seiner Eisscholle, wie der Engländer; der Hamburger ist auf dem Glockner so gut daheim, wie der Wiener. Kaum eine Stadt im weiten Deutschen Reich, die nicht in den Alpen ihr Touristenhaus besäße und nicht jährlich ihre Kletterer schickte; geborene Flachländer können es bald so gut, als die Älpler, wenn nicht besser. Viele Alpenhotels sind um diese Zeit nicht minder belebt, als die Restaurants unter den Linden oder auf der Ringstraße, und wo einst nur arme Hirten ein weltfernes, geduldiges Kummerleben geführt, tummelt sich heute die feine, üppige Welt und spielt sich Weltgeschichte ab. Der Sohn verdient sich als Bergführer an einem Tage mehr, als sein Vater, der Senne, einst sich im ganzen Sommer verdient hatte.

Städter aller Stände – der Professor wie der Priester, der Beamte wie der Künstler, der Kaufmann wie der Offizier, mit Bruder und Schwester, mit Weib und Kind – diese Menschen, die sich sonst zur Sommerfrische in den sonnigen Dörfern der Ebene niedergelassen hatten, steigen nun empor in die Waldregion, zu den Almen und noch höher ins Felsengebiet, um am Rande des Eises sich von den städtischen Segnungen der Kultur ein wenig zu erholen. Und wenn diese Sommerfrischler sich einen besonderen Festtag machen wollen, so streben sie auf der Starrnis weiter, über die zerrissenen Gletscher hinan in Bereiche, wo kein Halm, kein Wassertropfen mehr sein kann, wo die Luft zu dünn wird für die Menschenlunge. Mit unsäglichen Beschwerden und Gefahren ringend, streben sie immer noch höher, bis zum erhabendsten Gipfel, um dort, von eisigem Sturm umbraust, es kaum fünf Minuten auszuhalten und dann zerschunden und zerschlagen zutal zu kommen, oft kaum einen anderen Gewinn im Herzen, als die Vorstellung, drei- oder viertausend Meter hoch oben gewesen zu sein. – Armes Hoch- und Hetzwild des Dämons Alpinismus.

Eine tolle Erscheinung – und hat doch einen so tiefen Sinn. Die Verweichlichung in den Städten ist ins Extreme gegangen, so muß auch das Gegenteil ins Extreme gehen. Das unnatürliche Großstadtleben zeitigt den Naturdurst, die Überkultur sehnt sich nach dem rauhen Urleben der Berge. Also hat die künstliche Zahmheit des Stadtlebens umgeschlagen in wilde Tollkühnheit, denn Urkraft ist immer noch vorhanden im Menschen, und je mehr sie eingeengt wird, je sicherer muß sie einmal explodieren. Besser, sie explodiert in den wüsten Bergen, als – auf dem Schlachtfelde. Ich vermute aber noch etwas anderes. Dieses unbewußte ahnungsvolle Streben nach den starren unwirtlichen Höhen ist ein Suchen. Die Menschen suchen etwas, das sie verloren haben – sie suchen Gott. Sie suchen jeder in seiner Art. Und allmählich wird doch etwas gefunden. Wenn der Krämer mit dem Bergführer feilscht und der Fachtourist mit seinen Metern, mit seinen Leistungen prahlt, so sind das dieselben Leute, die auch daheim im Tale eines edleren Begeisterungsschwunges nicht fähig sind, bei denen es immerhin schon ein Fortschritt ist, daß sie sich vom Bierkrug und von den Spielkarten loszureißen vermögen – allmählich dämmert ihnen doch die Ahnung auf, daß im Gebirge etwas mehr dahinter ist, als Steine und Nebel.

Die Lust an den Bergen dürfte sich in nächster Zeit noch steigern, doch im Ganzen wird sie sich erschöpfen, ehe sie sich erfüllt. Unserer Seele heilige Sehnsucht – in der Außenwelt ist sie nicht zu stillen. Und doch können die Versuche nach Stillung nimmer rasten. Wird an den Bergen einmal alles »entdeckt« und begangen sein, dann wirft der Menschengeist sich in andere Bereiche. Der kindische Knabe saust in unendlicher Hast auf den Straßen dahin, aus keinem anderen Grund, als so schnell wie möglich dorthin zu kommen, wo – er nichts zu tun hat. Der Philister dringt in die Höhlen, um zu erforschen, daß es urzeitliche Schichten und Reste gibt und daß es unter der Erde finster ist. Der Unrast Sohn taucht in die Tiefen der Seen, er steigt vom Ballon getragen in ungemessene Regionen empor, immer wieder ums Leben ringend, das für ihn nur dann noch einigen Wert hat, wenn es täglich frisch erkämpft werden muß.

Erst wenn die Städte anfangen werden zu versinken und die Leute sich wieder in die stilleren, freieren Ländlichkeiten zerstreuen, wenn sie in ruhigerer Arbeit, im friedlichen Rhythmus der Jahreszeiten das ihnen abhanden gekommene Gleichgewicht gefunden haben, dann werden diese modernen Dämonen schweigen, und der Mensch wird zur Natur endlich wieder in das natürliche Verhältnis treten.

 


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