Peter Rosegger
Das Sünderglöckel
Peter Rosegger

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»Ein interessanter Fall«.

Der fünfjährige Nicki hatte vom Onkel ein Kaninchen bekommen. Das wird er gleich dem Papa zeigen, wenn er zu Mittag von der Klinik nach Hause kommt.

»Ach, Kind«, sagte Mama, »Papa wird nicht Zeit haben, sich mit dir zu freuen. Papa ist immer sehr beschäftigt.«

»Beschäftigt! Was ist das, Mama?«

»Kranke heilt er. Kranke Menschen. Arme kranke Kinder. Kinder, wie du bist, mein Schatz.«

»Der liebe Papa! Und heilt er mich auch?«

»Gewiß, wenn du krank bist, was Gott verhüte!«

»Und heilt er das weiße Kaninchen auch?«

»Wenn er kann, gewiß. Papa ist ja doch so gut. Man muß auch gegen die armen Tiere gut sein, Nicki! Nicht wahr, du wirst es nie quälen? Gewiß nicht?«

Um Mama zu zeigen, wie lieb er es habe, packte er das Kaninchen am Halse und drückte es heftig an sich.

»Aber Junge!« rief sie, »du würgst es ja! So am Kragen, das tut ja weh! Bei den Ohren faßt man die Kaninchen an. So!«

»Bei den Ohren tut's ja auch weh!« rief der Knabe, sich wohl daran erinnernd, wie der Onkel einmal halb im Spaß, halb im Ernst bei den seinen gezupft hatte. Das Kaninchen wird's doch nicht so krumm nehmen; es wurde jetzt gekost und geherzt, daß dem Kleinen dabei schier der Atem ausging. Ob dem Tiere auch so liebwonnig zu Mute war bei dem Drücken und Pressen, das ist es nicht gefragt worden.

Als nun der Professor kam, dessen Anwesenheit sofort das Zimmer mit Jodoformgeruch erfüllte, lief der Knabe ihm entgegen: »Papa! Siehst du?« Und hielt ihm das Kaninchen vor. Der Papa, ernst bis zur Würde, nahm es in die Hand, aber nicht am Halse faßte er es an und auch nicht an den Ohren, fast wie einen Stein packte er das Tier am Bauch, daß es winselte. Eine Faust voll Kaninchen, so hob er es zu seinem Gesicht empor, mit den Fingern der anderen Hand spreizte er ihm die Schnauze auf, um durch seine scharfen Goldbrillen irgend etwas zu beobachten. Dann warf er es wie einen alten Hut aufs Sofa hin und fragte, ob aufgetragen sei.

Der kleine Nicki war schier starr ob der Behandlung, die seinem Lieblinge soeben widerfahren.

»Albin!« sagte die Frau einigermaßen beklommen zu ihrem Manne, »schau, jetzt hast du ihm gewiß wehe getan.«

»Wem?«

»Dem Tiere. Wie es noch wimmert! Erbarmt's dich denn nicht?«

»Laßt mich aus mit diesen sentimentalen Geschichten!« rief er unwirsch. »Auf der Klinik würde dir das bald vergehen!«

»Mein Gott, ich glaube es!« sagte sie, »bei den armen Kranken! Schon bei deinem Buche, wo die Magenoperationen abgebildet sind, wäre ich gestern beinahe ohnmächtig geworden. Ich müßte sterben vor Mitleid.«

»Mit dem Mitleide würdest du nicht weit kommen, meine Liebe!« sagte der Professor ziemlich frostig. »Mitleid hat noch keinen« –

»Keinen Kranken geheilt. Du wirst wohl recht haben, Mann!«

»– hat noch keinen interessanten Fall gelöst. Lassen wir das. Du verstehst das nicht.«

Sie schwieg. Sie setzten sich zu Tische und aßen schweigend. Im Kopfe der Frau Professorin waren eine Menge Gedanken rege, aber sie hatte schon die Erfahrung, daß es in solchen Stunden besser sei, die Gedanken bei sich zu behalten. Der Standpunkt, von dem aus sie die Welt betrachtete, war der des Mitleids. Was nicht ihr Mitleid erregen konnte, das hatte für sie weiter kein Interesse. Die leidenschaftliche Liebe zu ihrem Kinde war lauter Erbarmen mit dem zarten, hilflosen Wesen und dem zuckenden Herzlein in seiner kleinen Brust. Selbst ihren Professor, den derben, strebsamen Mann, hatte sie aus Mitleid genommen und zum Mitgenossen ihres Vermögens gemacht. Denn er hatte ihr eines Tages zögernd vertraut, daß er unglücklich sein würde, wenn er ihre Hand nicht bekäme. Sie konnte sich nicht freuen an all dem Kostbaren, womit sie das Haus ihres Mannes geschmückt hatte. Sie mußte immer ein leidendes Wesen um sich haben, daß sie ihrem Hange, Leiden zu lindern, Genüge tun konnte. Von der Straße hatte sie nicht bloß aufsichtslose Kinder in ihre Hut genommen, sondern auch manchen herrenlosen Hund, manche Katze und anderes Tier, das hilflos im Feindesland war unter den Menschen. Auf dem Kriegsfuße stand sie nur mit den Fuhrleuten, die ihre Pferde rackerten, mit den Gassenjungen, die nach Vogelnestern fahndeten. Selbst die Blumen ihres Garten begoß sie vor allem aus Mitleid mit ihnen. Allen Ernstes sagte sie einmal zu ihrem Mann, daß sie davon überzeugt sei, die Pflanzen hätten auch eine Empfindung für Freud und Leid. Er hatte ihr damals gar keine Antwort gegeben. Da käme man weit, wenn auch Männer solchen rührseligen Stimmungen nachhängen wollten. Wissenschaft! Fortschritt! Das war seine Parole. – Erbarmen und Liebe, sagte er in einem seiner Werke, seien gefährliche Dinge, die Träger derselben, ob Personen oder Völker, müßten im Kampfe ums Dasein unterliegen. Dieses »Unterliegen« schien ihm etwas Schreckliches zu sein. Er zitterte davor. Im reichen Luxus des Lebens atmete er frei, Ruhm war ihm die höchste Blüte des Daseins. Und das war nur durch Fortschritt und Sieg zu erlangen. Zwar zeigte ihm auch die Wissenschaft und der Fortschritt im letzten Grunde die Auflösung der menschlichen Tierrasse, aber dieses Unterliegen als Tier zog er vor dem siegreichen Unterliegen als nächstenliebender Mensch. Nun wurde aber sein männlich starkes Herz, das dem Mitleide so abhold war, auf eine Probe gestellt.

Ricki erkrankte eines Abends, das einzige Kind. Hohes Fieber, pfeifender Atem. Als der Professor ihm in den Hals hinabschaute, tat er's allerdings in wesentlich rücksichtsvollerer Weise, als einige Tage vorher anderen Wesen. Eine leichte Diphtherie – nichts Besonderes. Mit etwas Lapis kann der Belag gelöst werden. Das tat er, darauf fiel der Knabe in einen ruhigeren Schlaf. Triumph der Wissenschaft! Am nächsten Morgen konnte der Gelehrte beruhigt wieder auf seine Klinik gehen, deren Studium er sich stets mit größtem Eifer widmete. Seine Befunde und Operationen waren in den Fachblättern stets ein Ereignis.

Die Frau Professorin saß am Bette des kranken Knaben und hielt den Atem ein, um auf den des Kindes zu horchen. Das war aber ganz eigenartig! Ganz seltsam, wie das Kind atmete. Wie das neuerdings pfiff und gurgelte, wie das zuckte durch alle Muskeln und Adern des ganzen Körperchens! – Sie schickte den Diener auf die Klinik: der Herr Professor möchte unverweilt nach Hause kommen.

Heiland am Kreuz, das währte eine Ewigkeit! Der Knabe verfiel in Krämpfe und während der furchtbaren Erstickungsnot huben seine Händchen und Füßchen an zu erkalten. Tropfen und Öle, Binden und Aufwärmungen, Schütteln und Reiben, alles, was der bis zum Wahnsinn geängstigten Mutter und der jammernden Dienerschaft einfiel, wurde angewendet. Nichts und nichts. Da fiel die Frau vor dem Schutzengelbilde nieder, das neben dem Bettchen hing und hub laut schreiend an zu beten: »Hilf uns, du heiliger Geist Gottes! Der du gesandt bist, dieses Kind zu beschützen! Dieses liebe, unschuldige Kind! Das nie eine Sünde begangen hat! Das täglich vor dem Schlafengeh'n zu dir gebetet hat. Schutzengel! Schutzengel! Hilf ihm! Du mußt ihm helfen!« Dann rüttelte sie das sterbende Kind, herzte es, rüttelte es wieder, streichelte mit bebenden Händen das Engelsbild und flehte weiter: »Nein, müssen nicht! Müssen nicht, du heiliger Engel Gottes! Tue es gütig! Siehe, ich knie vor dir, ich flehe dich an in der Demut einer armen Sünderin, hilf ihm! Hilf ihm! Hilf ihm!«

Endlich kam der Diener atemlos: den Professor habe er nicht angetroffen auf der Klinik. In einem der Versuchshöfe dürfte er sein, habe man gesagt.

Die Frau hörte nicht mehr drauf hin, denn eben starb das Kind. Die Augensterne hatten sich oben übergewendet und waren erloschen. Unter den glühendsten Liebkosungen der Mutter ist es still und kalt geworden. Und als es vorbei war und die kleine, schmale, blasse Leiche dalag auf der roten Seidendecke, da richtete die Frau sich starr auf und schaute leer um sich in der mit Pracht und Schönheit ausgestatteten Wohnung. Ein Blick auf das Schutzengelbild, ein Blick auf das Porträt ihres Mannes – ein kalter Blick. – Dann hüllte sie sich den Mantel um und ging davon. Aber noch auf der Stiege kehrte sie um, eilte zurück ins Kindszimmer, den Knaben zu pflegen, denn es konnte nicht möglich sein. Der Kleine lag da wie vorher – tot. – Tot. – Sie stieg in einen Wagen und fuhr zum medizinischen Versuchshof.

»Professor Gibart.«

»Ist in dem Augenblick nicht zu sprechen.«

»Ich wünsche sofort zu meinem Mann!«

»Ah, die Frau Professorin! Entschuldigen Euer Gnaden. Ich werde sogleich melden. Er verbat sich nur fremde Störungen, da er eben heute einen interessanten Fall hat.«

»Lassen Sie das! Welche Tür?«

»Bitte Numero sieben.«

Leise öffnete sie und blieb an der Schwelle stehen. Ihr Mann stand im blauen Kittel vor einem großen Tisch, neben ihm ein junger Assistent, eben mit einer Vorrichtung beschäftigt. Diese Vorrichtung bestand in einem kleinen Schragen, auf welchen ein lebendiges Tier gespannt war. Ein Hund mußte es sein, er stieß manchmal ein heiseres Winseln aus. Der Professor drückte den Taster einer elektrischen Maschine, deren Draht mit dem Tiere verbunden war.

»Leckt er?« fragte der Gelehrte leise.

»Er leckt, Herr Professor!« antwortete der Assistent.

Der Professor schlug wieder auf den Taster. Der Hund stöhnte wie ein schwerverletzter Mensch. Der Assistent zog einen Riemen an.

»Leckt er noch?« fragte der Professor.

»Bei meiner Treu, er leckt noch!«

»Höchst interessant!« murmelte der Professor entzückt. »Notieren Sie!«

Nun trat die Frau vor. »Albin!« sagte sie, es war ein hohler Ton, in dem sie's sprach.

»Du?!« rief der Professor überrascht aus.

»Was machst du da?« fragte sie.

»Ach, Freundin! Das ist von höchstem Interesse!« sagte er. »Denke dir doch. Dieses Tier ist seh- und gehörlos gemacht. Durch sein Gehirn geht seit einer Stunde dreiunddreißig Minuten der elektrische Strom und er leckt dem Doktor hier noch die Hand.«

»Befreie den Hund!« rief sie.

»Wie? Wen Hund befreien?« lachte er. »Es soll nun festgestellt werden, wie lange in einem der Sinne beraubten animalischen Körper die mechanische Tätigkeit –«

»Befreie den Hund!« rief die Frau mit ganz unheimlichen Mienen, hoch aufgerichtet, blaß, zuckenden Mundes. Und ihr Auge, wie fremd!

»Was ist dir, liebes Kind?« fragte sie der Vivisektor. »Das verstehst du nicht. Das Tier würde seine Freiheit in sehr geringem Maße ausnützen können.«

»Weil es zuschanden gepeinigt ist!« rief sie.

»Er leckt noch beständig!« sagte der Assistent und hielt dem immer schwächer stöhnenden Hund auf der schrecklichen Folterbank seine Hand hin.

»Erlöse dieses Tier!« schrie die Frau. »Bei Gott im Himmel, erlöse dieses Tier!« Am ganzen Leib erbebte sie. Wie die verzerrten Züge eines Leichnams, so war ihr Gesicht in diesem Augenblicke. Er schaute sie jetzt betroffen an. Da sagte der Assistent: »Der Hund ist tot.«

»Ach, ärgerlich, diese Störung, gerade jetzt!« murmelte der Professor, einen Stift, den er gerade in der Hand gehabt, auf den Tisch schleudernd.

Sie trat ganz nahe an ihn und schrie ihm ins Gesicht hinein: »Scheusal! – Scheusal!«

Er wich zurück. »Bist du bei Sinnen?«

»Nun weiß ich, warum es hat geschehen müssen!« fuhr sie fort. »Und wenn du zehn Kinder hättest, deine Lieblinge, auf die qualvollste Weise müßten sie sterben, als Vergeltung für solche Grausamkeit!«

»Aber, so beruhige dich doch, meine Liebe!«

»Jetzt, weil ich das gesehen, sage ich: es ist besser so. Besser in der Erde schlafen, als leben und eine solche Bestie zum Vater haben! – Vielleicht, mein Richard, hättest auch du so werden müssen unter seinem Beispiel. Ich preise Gott, daß er dich genommen hat – von diesem abscheulichen Menschen weg.«

»Du sprichst vom Knaben. Wie geht's ihm?«

»Zurück, Ungeheuer! – Ich werde mein Kind allein begraben. Daß es dir erspart bleibe, ein Herz zu heucheln! – Gott!« schrie sie auf, die Fäuste an die Brust stoßend und dann wie im höchsten Wohlbehagen aufatmend: »Gott, habe Dank mein Gott, für den Haß!«

So stürzte sie zur Tür hinaus, über die breite Treppe an den Wagen: »Vorwärts! Nach Hause!«

Der Professor, nun aufs höchste bestürzt, eilte ihr nach. Aber er fand sogleich keinen Wagen und als er nach Hause kam, waren die Familienzimmer leer. Die Dienerschaft huschte ratlos umher. Die gnädige Frau sei in der größten Aufregung von einer Fahrt gekommen, habe den Leichnam ins Tuch gewickelt, sei, denselben fest mit den Armen umschlingend, zurück in den Wagen und davon gefahren.


Professor Albin Gibart war in den prachtvollen Räumen allein. Aller Komfort, den er sich stets gewünscht, umgab ihn. Aller Luxus, alles Resultat der Wissenschaft. Aber er war allein. Aller Gelehrtenruhm, an dem er unersättlich gewesen, leuchtete nun um sein Haupt – um ein ruheloses, gequältes Haupt. Eine beständige, eine furchtbare, eine grenzenlose Pein war in ihm. Eine unerträgliche, bis zur Verzweiflung gesteigerte Pein. Vergebens schrie er in unersättlicher Selbstsucht Flüche hin über sein Unglück, über den Liebling, der ihm gestorben war, über das treulose Weib, das ihn verlassen hatte.

Wenn er nur hätte ein Ende machen können! Wenn er wenigstens hätte bereuen können! Aber ihm fehlte das Herz dazu.

 


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