Peter Rosegger
Das Sünderglöckel
Peter Rosegger

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Pietätlosigkeit.

Er liebte es, in der kühlen Morgeneinsamkeit so dahin zu wandeln. Das waren ja die einzigen Stunden, da er Mensch sein durfte, im dunkelgrünen Anzug, mit dem Spazierstock dahinschreitend auf offener Straße. An Fuhrwerken, Handwerksburschen, Touristen und Bauern vorbei, von niemandem gekannt, und wenn von Einheimischen gekannt, ehrerbietig aber unauffällig gegrüßt. Gerne legte er seinen Stock auf das Straßengeländer, ließ ihn während des Gehens auf demselben dahingleiten, während er träumerisch in den rauschenden Fluß blickte. Manchmal stieg er hinab an das Ufer und versuchte es mit der Angel. Bisweilen kam der Diener nach, sorgend, ob der Herr nicht etwas bedürfe. Er wurde zurückgeschickt – Menschen haben keinen Diener und brauchen keinen.

Da hat es sich eines Morgens zugetragen, daß er sehr verspätet ins Schloß zurückkehrte. Die Regierungsgeschäfte warteten der Erledigung; alles war erregt, geängstigt – wo er denn so lange bliebe? Oben im Dorfe Au hatte er sich verweilt. Dort war ihm aufgefallen, daß zwei Männer über den Achseln einen Schragen trugen und darauf lag ein Sarg, aus Brettern schlecht gefügt, ohne Kreuz und Kranz. Keine Zier und kein Priester und kein kirchliches Geläute und kein Leidtragender. In solcher Verlassenheit hatte der Mann noch keinen Menschenschrein gesehen, in solch hilf- und herzloser Verlassenheit, wie dieser Sarg auf den Schultern der unmutigen Männer lag. Wer ist es, der da gestorben ist und um den niemand Leid hat? Unser Spaziergänger schritt an einen der Träger und fragte: »Wen trägt Ihr da hinaus?«

Der Träger wollte zuerst gar nicht antworten, dann tat er's verdrossen. Auf dem Feldwege sei ein toter Mann gefunden worden, niemand kenne ihn, wahrscheinlich ein fremder Handwerksmensch, ein Bettler oder gar ein Strolch, man wisse nichts. Sie – die Träger – möchten nur das eine gerne wissen, wie sie dazu kommen, diesen Toten auf den Kirchhof zu schleppen, ohne alle Entlohnung. Was könnten sie dafür, daß er gerade auf ihrem Feldwege liegen geblieben? – Vielleicht, dachten die biederen Dorfleute, ist der Mann, der sie angesprochen, einer von denen, die in die Tasche greifen. Der Spaziergänger winkte mit der Hand, sie möchten vorangehen – er hatte genug gehört. Als sie dann ihre Last mürrisch weiter trugen, ging er zehn Schritte hinten drein. Sein ernst gewordenes Gesicht zur Erde gerichtet, schritt er hinter dem Sarge dessen, der als Fremdling in diesem schönen Lande arm und verlassen gestorben war. Vielleicht hatte er hilfesuchend an Türen geklopft und sie waren ihm verschlossen geblieben, steht es doch draußen vor dem Dorfe auf einer Tafel zu lesen: Das Betteln ist verboten! – Und wenn er vollends dort unten im Tale beim Fürstenschlosse hätte anklopfen wollen, so würde er von der Dienerschaft verscheucht worden sein aus dem Prachtportale, das von aller Kunstwelt bewundert wird, so wie man das Königsgeschlecht vergöttert als eines der edelsten dieser Erde. Und eine Stunde weit von dem Herrensitze dieses edlen Geschlechtes verderben und sterben arme Menschen auf der Straße!

Leute, die den Mann betrachteten, der hinter dem Sarge einherging, meinten, er bete ein Kirchengebet, weil er wiederholt mit der Faust an die Brust klopfte. – Einer aber ist unter den Bauern, der stöhnt: »Jessas Maria!« und reißt seinen Hut vom Kopf. Des Toten wegen? Fällt ihm nicht ein, wohl aber des Mannes halber, der den Toten begleitet. Der Bauer hastete zum Nachbar, der mit einem Futterkorbe ging: »Du Zenz! Du Zenz! Siehst du, wer dort geht?«

»Der hinter der Leich' her? Wer ist es denn?«

»Weißt du, wer das ist? – Das ist der König!«

Jetzt riß auch der andere den Hut vom Kopf, und es kam ein dritter dazu, ein vierter, sich gegenseitig in die Ohren tuschelnd: »Der König!« Sie gingen auf den Weg und schlossen sich in respektvoller Entfernung dem Zuge an. In wenigen Minuten wußte es das ganze Dorf: »Der Tote, den sie vorgestern auf dem Feldwege gefunden, er muß ein besonderer Mann sein, ein hoher Herr, denn hinter seinem Sarge geht der König!«

Da eilte alles herbei, Männer und Weiber liefen aus den Häusern, Kinder und Greise, und schlossen sich dem Zuge an und begannen laut den Psalter zu beten. Mehrere kamen mit Kerzen und zündeten sie an, auf dem Kirchturm huben die Glocken an zu läuten. Dann kam auch die Geistlichkeit herbei in weißen Chorröcken und laut beteten sie ihre lateinischen Gebete. So um die Ecke stand alles still und machte seinen tiefen Bückling vor dem König. Dieser dankte nicht, denn er sah es nicht, weil er unverwandt zu Boden blickte.

Also war es ein großer, feierlicher Leichenzug geworden, der nun die Anhöhe zum Friedhofe emporstieg. Aber siehe, auf dem Friedhofe fand man das Grab nicht. Ganz hinten in einem Winkel, wo ein Haufen von Steinen, Stroh und vermodernden Kränzen lag und anderer Wust, sozusagen im Kehrichtwinkel des Friedhofes, war eine Grube aufgeschaufelt worden. »Gut genug!« hatte der Kirchhofsverwalter gesagt, »ist doch nur ein Vagabund gewesen, vielleicht gar ein Ketzer, man weiß ja nichts!« – Jetzt im letzten Augenblick, als es der Totengräber erfahren, daß hinter dem Sarge der König gehe, pfiff er verzweifelt nach Arbeitsgehilfen, um mit Reisig den Wusthaufen zu verdecken, den Weg glatt zu rechen und die Grube gehöriger zu schaufeln. Es war zu spät. Der rohe Fichtenbrettersarg schwankte schon zum Tore herein und bald war der ganze Friedhof voller Leute, in lauter Andacht das Begräbnis feiernd und sich auf die Zehen stemmend, um über die Köpfe hin den König zu sehen. Um zu sehen, ob er nicht etwa schluchze, wie tief seine Trauer sei, und daß man's demnach erfahre, in welchem Verwandtschaftsgrad der Tote zu ihm gestanden.

Der König stand an der Grube, in die der Sarg nun mit aller umständlichen Feierlichkeit unter schallenden Gebeten versenkt wurde, aber er schluchzte nicht, zeigte auch nicht eine besondere Trauer. Er stand nur da in tiefem Ernste versunken und kümmerte sich nicht um die »Leidtragenden«, die plötzlich so pietätvoll und teilnehmend geworden waren. Als er sich dann wendete, um den Friedhof zu verlassen, wich die Menge ehrfürchtig vor ihm zurück. Nur der Ortsvorstand und der Pfarrer wagten es, sich ihm tief gebeugt zu nahen, um ihn ehrerbietigst zu begrüßen und ihr Beileid auszudrücken zu dem Verluste, der ihn getroffen.

Der König dankte und bedeutete, daß er dem Sarge gerne gefolgt sei.

»Wir hätten gewiß das Möglichste für ihn getan,« versicherte der Vorstand. »In meinem Hause die beste Pflege hatte er gehabt, Medizin und alles. Wenn wir von etwas gewußt hätten. Wir haben halt von nichts gewußt und am Frühmorgen hat ihn mein Nachbar liegen gesehen auf seinem Feldweg. Papiere haben wir auch keine gefunden bei ihm und hat deswegen nichts geschehen können. Ist uns wohl recht zuwider. Aber das Grab werden wir schon recht in Ehren halten – ei das wohl gewiß!«

»Tut das«, sagte der König.

Trat nun auch der Pfarrer einen halben Schritt vor und sprach mit gar leiser Stimme: »Wäre uns wohl eine rechte Erleichterung, Majestät, wenn wir wissen täten – halt wohl sicherlich ein recht lieber Freund gewesen?«

»Ja, meine Herren!« antwortete der König und zuckte die Achseln.

»Meinen halt, weil Eure Majestät ihm die allerhöchste Ehre – daß wir wüßten, wer es gewesen.«

»Ein Mensch«, sagte der König und ging seines Weges.

Die beiden Gemeindehäupter verbeugten sich auf das allertiefste, so tief, daß andere Körperteile obenanstanden. Der König sah es nicht mehr. Er schritt auf die Straße hinaus und an derselben dahin, das Geländer streichend mit seinem Stocke und in den rauschenden Gebirgsfluß blickend. In sein Schloß zurückgekehrt, war er verstimmt. Des Toten willen? Nein, ich vermute, es waren ihm die Lebendigen nicht recht.

 


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