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17.
Der müde Wandrer.

Drei Wochen nach diesen Begebenheiten schritt ein einsamer Wandrer auf der Landstraße hin, mit Stab und Ledertasche, sein Antlitz war bleich, die Wangen eingefallen, und tiefster Gram blickte aus den tiefliegenden, trocken dahinstarrenden Augen. Er hat den Bart unordentlich und buschig wachsen lassen, das Har hängt wirr um die Schultern, sein ganzes Wesen ist starre Gleichgültigkeit, nur ein hin und wieder tief hervorgezogener Seufzer und ein bittres Lächeln, bringt Kunde von einer schmerzlichen Vergangenheit und von inneren Qualen, die noch der Gegenwart angehören. Wir erkennen in ihm Erich, er hat sich sehr verändert!

Gleichgültig überläuft sein Auge die Gegend um ihn her, obgleich diese wol wert ist, genauer betrachtet zu werden, denn er befindet sich auf dem westlichen Abhange des Odenwaldes, auf der Bergstraße.

Der Odenwald, ein waldiges dunkles Gebirge, bestehend aus Granitblöcken und Sandsteinkegeln, zerklüfteten Schluchtenthälern und fichtenbewachsenen Höhen, zieht sich zwischen dem Neckar und Main dahin, in einer Entfernung von drei Stunden vom Rhein, östlich reicht es bis zur Tauber und Jaxt, der Main trennt es im Norden vom Spessart. Als es noch keine Eisenbahnen gab, war dies die Fahrstraße nach dem Süden, hier zog die Schar der Reisenden hinab, wenn sie die Gletscher der Alpen, oder Italiens blauen Himmel begrüßen wollten.

Damals war die Bergstraße berühmter als jetzt, sie ist vereinsamt, man sieht sie von der Eisenbahn aus dunkelgrün herdämmern, diese aber bringt den Reisenden im Fluge nach Heidelberg, wohin auch die Bergstraße führt. Wer aber nun so mit einem Male in Heidelberg ist, der besteigt wol die äußersten Hügel des Odenwaldes, über die der bequeme, schöne »Philosophenweg« führt, der Stadt grade gegenüber, die Bergstraße aber läßt er liegen. Heidelberg–! Doch so weit sind wir noch lange nicht.

Die Bergstraße also ist jetzt ein einsamer Weg, wenigstens kein völkerverbindender mehr. Dorf an Dorf reiht sie an einander, über jedes derselben hebt der Odenwald die Reste einer alten Burg. Da ist der Melibokus, der höchste Gipfel des Odenwaldes, da ist die Zwingenburg, da ist über Weinheim ein altes Thurmgemäuer, da ist auch, über Schriesheim, die alte Strahlenburg, wohin Graf Wetter von Strahl das schöne Käthchen von Heilbronn als seine Gemalin entführte, da sind noch hundert andre.

Erich hatte diese stillere Straße gewählt, weil er nicht zu eilen hatte, weil er dem beflügelnden Ungethüm des Dampfes gern aus dem Wege ging, und den lauten Verkehr der Menschen, der sein todesmüdes Herz zu Boden drückte, vermied.

Bist Du jemals in einer Lage gewesen, lieber Leser, wo Du an Gott und Menschen, wo Du an Dir selbst verzweifeltest, wol, dann wirst Du Erichs Gemütsleiden verstehen. Aller Zauber der purpurn untergehenden Sonne – was scheint er ihn anzugehen? Aller Violenduft und Dämmer, der jetzt die Schluchten des Odenwaldes durchwebt – was ist er für ihn? Kalt und trübe blickt er vor sich hin, als suche sein Blick in dem aufwirbelnden Staubwölkchen, die sein Fuß aufwirft, einen verlornen und begrabnen Sonnengedanken, und das bittre Lächeln seines Mundes scheint eine traurige Selbstverhöhnung zu sein, die rechte Hand führt den Wanderstab, die Linke fährt zuweilen über Stirn und Augen, sie will vielleicht einen vergessenen Ton des Glückes hervordrängen, aber sie kann es nicht, denn das Auge blickt noch eben so starr und finster als zuvor.

Es ist Abend, er ist sehr ermüdet, seine bestaubte Kleidung zeugt von einer langen Wandrung, da biegt er links vom Wege ein, nach dem freundlich ladenden Dörfchen Zwingenberg, das im Grün versteckt, sich im Dunkel an die Berge lehnt, wie ein schläferndes Kind, das müde lächelnd in die Kissen sinkt. Vor Erich her ging ein ebenfalls bestäubter müder Handwerksbursch, der war gegen Erich doch noch glücklich, er konnte noch singen, wenn auch mit schlechter Stimme, und Erich hörte folgendes traurig dahinklingende Lied:

Was soll aus mir werden,
Das sag' mir nur Eins?
Das Wandern währt lange,
Und Geld hab' ich keins.

Und trocken ist die Kehle,
Und müd bin ich auch,
Ach hätt' ich ein Nestlein,
Wie's Vöglein im Strauch!

Da wär's gar behaglich.
Da hätt' ich meine Sie,
Und wenn ich dran denke,
Mir wird, ich weiß nicht wie!

Da hätt' ich mein' Herberg
Die liebe lange Nacht,
Da hätt' ich die Sorgen
Von Herzen ausgelacht.

Kein Geld, keine Herberg,
Und auch keine Sie –
Ach, Wandern, ach Wandern,
Was machst mir für Müh!

Erich hatte den Handwerksburschen bald erreicht, dieser zog den Hut tief vor ihm ab, und bettelte ihn an.

Der Glückliche! dachte Erich, er kann doch betteln! Er hat doch eine bestimmte kleine Sorge, um die sich seine Gedanken drehen, und der er durch Betteln abhelfen kann, dann kann er die ganze Nacht, wenn auch auf harter Streu, gesund und erquicklich schlafen. O, wer doch auch betteln könnte!

Das unerwartet große Geldstück, welches der Bursch von Erich erhalten hatte, machte ihn gesprächig, er erzählte Erich von schlechten Herbergen, wie man ihm oft so übel mitgespielt, wie die Meister ihn oft so schlecht behandelt und ihm den mühsam erarbeiteten Lohn vorenthalten hätten. Seine Hauptklage aber erging sich über seine Armut.

Erich hörte ihm schweigend zu, nahm ihn in Zwingenberg mit in das Wirtshaus, wo er zu Nacht einkehrte, ließ ihm Wein geben und schenkte ihm einen Thaler. Der arme Bursche war ganz glückselig, konnte nicht aufhören zu danken, und behauptete seit lange keinen so guten Menschen gesehn, und keinen so guten Abend erlebt zu haben. Er ließ sich Essen und Wein schmecken und Erich konnte ihn nicht ohne stillen Neid betrachten. Wie leicht war es ihm geworden, diesen Menschen zu beglücken, ihm, der sich so wenig beglückt fühlte!

Plötzlich sprang der Handwerksbursche auf und rief:

»Halt, bald hätte ich was vergessen!«

Er öffnete sein Ränzel, langte eine sauber gestickte Brieftasche heraus und wies sie Erich vor, mit der Frage, ob er sie vielleicht verloren habe, er selbst habe sie gestern gefunden. Erich betrachtete sie gleichgültig, ohne sie in die Hand zu nehmen, sie gehörte ihm nicht. Eine Visitenkarte fiel heraus, auch dieser widmete er keine Aufmerksamkeit, der Wirt aber betrachtete sie, schien sich zu besinnen und langte das Fremdenbuch hervor, dann suchte er mit dem Finger unter den eingeschriebenen Namen und sagte:

»Richtig, hier steht's, es ist derselbe ausländische Name, vorgestern war der Herr die Nacht hier – Arthur Mac Kenneth,« las er, langsam buchstabirend.

Wie das Zucken eines elektrischen Schlages, so fühlte Erich die Nennung dieses Namens auf sich wirken.

»Wo steht der Name?« rief er aufspringend; »wann war der Mann hier? War noch Jemand mit ihm?« –

Der Wirt starrte ihn erstaunt an und sagte: der fremde Herr sei vorgestern Nacht hier gewesen und zwar allein, am andern Morgen aber sei er nach dem Odenwalde aufgebrochen, er habe einen Führer über den Melibokus und Burg Auerbach nach Reichenbach genommen.

»Schafft mir einen Führer, der mich noch in dieser Nacht nach Reichenbach bringt!« sagte Erich hastig.

Der Wirt sah ihn groß an, dann stellte er ihm vor, daß das ganz unmöglich wäre, die Wege durch den Odenwald wären Nachts zu gefährlich, kein Führer ließe sich dazu her. Erich bot doppelten und dreifachen Lohn. Dem Wirt war natürlich daran gelegen, einen so splendiden Reisenden, der sein Geld sogar an einen lumpigen Handwerksburschen verschwendete, zu Nacht unter seinem Dache zu behalten, er fuhr daher fort, das Ansinnen Erichs als gar nicht ausführbar darzustellen.

»Was denken Sie denn auch,« sagte er, »der Herr ist vorgestern früh von hier weggegangen, bis Reichenbach sind's nur sechs Stunden, da konnte er zu Mittag gut da sein, und nun ist er gewiß über alle Berge, denn er sah nicht aus, als wolle er lange an einem Orte verweilen.«

Dann erzählte er, wie schön und luftig das Zimmerchen sei, das er für Erich habe einrichten lassen, und mehr dergleichen, während Erich nach jener Brieftasche gegriffen hatte und sie nun durchsuchte. Es lagen Briefe drin aus England, Edinburg und Paris, sie konnten nichts für ihn Wichtiges enthalten, er legte sie ungelesen wieder hinein.

Er mußte sich in die Unmöglichkeit schicken, heute der Spur des Schotten zu folgen – oh, wie brannte er darauf, seiner habhaft werden zu können; denn auf ihn mußte ein großer Theil der Schuld jener schrecklichen That fallen, die an Johannes ausgeübt worden war, die plötzliche Abreise in jener Schreckensnacht schien dies nur zu bestätigen.

Erich begab sich auf sein Zimmer, aber der Schlaf floh ihn, er durchwachte eine ruhelose, ihm ewig dünkende Nacht, gegen Morgen sank er in einen Schlummer, aus dem er durch die Nachricht geweckt wurde, daß der Führer, den er auf Sonnenaufgang bestellt hätte, seiner bereits harre.

Er machte sich alsbald auf den Weg, und schärfte dem Führer ein, ihn auf gradem Wege nach Reichenbach zu bringen. Er hatte Not demselben glaublich zu machen, daß er nicht gekommen sei, um Berge zu besteigen und Aussichten zu betrachten, ja er verbat sich von dem Führer jegliche Unterhaltung mit welcher dieser ihm bereits den Weg zu würzen begann, so daß derselbe für sich den Kopf schüttelte und dachte, das müsse wol ein Engländer sein, der einen Sparren im Kopfe habe. So wurde denn der Melibokus und das Auerbacher Schloß, ein altes Gemäuer, das Karl der Große gebaut haben soll, liegengelassen, ebenso alles Uebrige, was der Reisende sonst mit Aufmerksamkeit hier zu betrachten pflegt.

Eine Stunde vom Melibokus entfernt ist der Felsberg, von dessen Gipfel herab, bis gegen Reichenbach hin, sich das sogenannte Felsenmeer hinzieht. Es ist dies eine ungeheure Masse von Granitblöcken und Felsen, wild durcheinander geworfen, kahl und unzugänglich für die kräftigere Vegetation. Es wird von den Einen für eine herabgestürzte und zerschellte Felsenlawine gehalten, von Andern für einen ausgebrannten, und später von Wasserströmungen ausgewaschenen Krater.

Es ist dies nicht unwahrscheinlich, denn die vulkanische Natur des Odenwaldes tritt überall hervor, die Bewohner bilden sich noch heut ein, daß von gewissen Bergkegeln zu gewissen Zeiten Rauch aufsteige, was freilich nur dann heutzutage noch wahrscheinlich ist, wenn man oben ein Feuer anzündet. Wir Heidelberger Studenten haben vor Jahren oft genug auf diesen Bergen die Nächte hindurch kampirt, ein Esel trug ein Fäßchen Bier hinauf, die Trinkhörner trugen wir an der Seite, und so um ein Reisigfeuer gelagert, waren wir dann selber junge Vulkane, deren Köpfe vor innerer Glut rauchten. –

Das Felsenmeer nun hat seinen Namen nicht vom Wasser, denn dies wird im Odenwald nur durch sehr kleine, aber sehr lebendige und kristallhelle Bäche vertreten, sondern von den wogenhaft übereinander und nebeneinander geschichteten Granitmassen, als sei ein vom Sturme aufgewühltes Meer durch ein Zauberwort hier plötzlich versteint, um in ewiger Ruhe kalt und starr da zu liegen.

Ein Weg führt durch dieses Felsenmeer nicht, nur elastisch geschmeidigen Jugendfüßen ist es vergönnt hier umherzuklettern. Legt man aber sein Ohr an die überall klaffenden Felsenspalten, so vernimmt man aus der Tiefe das dumpfe Rauschen und Plätschern verborgener Gießbäche, als läge da unten noch eine dunkle unzugängliche Welt, aus welcher hier und dort eine Sumpfpflanze langhalsig, schlangengleich und verwundert über das ungewohnte Sonnenlicht, hervorguckt. –

Erich stand jetzt auf der nördlichen Spitze, wo der Weg vorüber führt, da gewahrte er einen Mann, der langsam, aber mit sicherem Fuße, zwischen dem Gestein umherschritt – mit einem jauchzenden Racheschrei erkannte er den Schotten.

Dieser hatte den Ruf gehört, erblickte jetzt auch seinerseits Erich, und beflügelte seine Schritte ihm entgegen. Erich stürzte mit wilden Blicken auf ihn zu, packte ihn bei der Brust, und schrie:

»Treffe ich Dich, Mörder? Wo hast Du Deinen Schandgenossen? Steh mir Rede, Bösewicht, Du entfliehst mir jetzt nicht!«

Arthur sah ihn mit einem festen, ruhigen Blicke an, machte Erichs Hand von seiner Brust los, und sagte:

»Ich habe kein Theil an jener entsetzlichen That, sie fällt ganz allein auf jenen unglücklichen Maler Bernhard. Beruhigen Sie sich. Ich war selbst in Heimbach und in der Stadt; die über jene That eingeleitete gerichtliche Untersuchung hat mich auch äußerlich von jedem Verdacht der Theilnahme daran freigesprochen, ich habe jene ganze Nacht im Schlosse Weilburg neben der Leiche des Grafen und dem Krankenbette Coronas zugebracht.«

Die Ruhe des Schotten und der zuversichtliche Ton seiner Stimme wirkten besänftigend auf Erich.

»Wo ist Bernhard?« fragte er.

»Im Irrenhause.«

Erich schauderte.

»Können Sie sich so weit beruhigen,« fuhr der Schotte fort, »eine Erzählung von mir anzuhören, so sollen Sie in kurzen Worten eine Geschichte erfahren, die, obgleich an sich entsetzlich genug, Sie doch mit mir versöhnen wird. Es ist mir lieb, daß ich Sie doch noch gefunden habe, ehe ich Deutschland für immer verlasse, ich habe Sie vergeblich gesucht, da ich Ihnen noch Manches mitzutheilen habe, und nicht gern in Unfrieden von Ihnen scheiden möchte.«

Indem Beide vorwärts schritten, verließen sie das Felsenmeer und schlugen den Pfad ein nach dem Felsberge. Auf dem Felsberge steht ein Försterhaus, das zugleich Wirtshaus ist, dort hatte Arthur die letzte Nacht zugebracht, sein geringes Reisegepäck befand sich noch daselbst. Erichs Führer wurde zurückgeschickt, und Arthur fuhr fort zu sprechen:

»Hören Sie mich an, Sie werden mir dann nicht länger zürnen.

Als ich Sie einst in der Schweiz kennen lernte, und Sie damals störend in mein Verhältniß zu Corona eintraten, hatte ich doch keinen Groll gegen Sie, denn ich hatte von Anfang an gesehen, daß das ganze Bemühen unseren Kreis durch Sie zu erweitern, allein von Corona ausging. Jene Scene in Zürich, auf dem Balkone, will ich übergehen, ich hatte sie wol beobachtet. Corona löste darauf selbst unser Verhältniß, ich war sehr unglücklich darüber, ich reiste Ihnen nach, denn ich glaubte durch Sie vielleicht die Sache wieder in's Gleiche bringen zu können, in Bingen war ich Ihnen auf der Spur, dann waren Sie wieder verschwunden. Ich reiste nach Paris, wohin der Graf Weilburg mit Corona gegangen war, sie blieb fest in ihrer Weigerung.

Dennoch gab ich die Hoffnung nicht auf, sie wieder zu gewinnen, ich näherte mich dem Weilburgschen Stammschlosse, und wohnte in derselben Stadt, die auch Ihnen kurze Zeit zum Aufenthalt gedient hat. Doch wollte ich es vermeiden gleich erkannt zu werden, ich blieb daher am Tage zu Haus und ging nur Nachts aus, wo mich dann meine Schrille meist zu jener alten Ruine Weilburg führten. Von Ihrer Anwesenheit erfuhr ich leider zu spät, sonst würde ich sie mir mehr zu Nutze gemacht haben, auch wurde ich auf Sie erst durch eine Person aufmerksam gemacht, deren Bekanntschaft ich vielfach zu beklagen Ursache hatte. Es war der Maler Bernhard. Dieser verläumdete Sie bei mir auf jede Weise, er schilderte mir Ihren Charakter von der abschreckendsten Seite.

In jener Schreckensnacht kam er zu mir gestürzt, Corona lasse mich rufen, sagte er. Sie waren bei jener Scene im Ahnensal des Schlosses gegenwärtig, als der Kammerdiener uns die Nachricht vom Tode des Grafen brachte. Dieser war auf ganz plötzliche Weise herbeigeführt worden. Ich eilte hinunter und fand den Pfarrer von Bergenthal noch bei der Leiche.

Dieser erzählte mir, er sei gekommen, um dem Grafen einige Papiere seines Vorgängers im Amte, bei dem er sich schon lange als Adjunkt aufgehalten habe, zu überreichen. In diesen Papieren sei die Nachricht enthalten gewesen, daß der Maler Bernhard – des Grafen natürlicher Sohn sei. Ich rede die Wahrheit! Der verstorbene Pfarrer habe hier einige Notizen über das Schicksal der Mutter des Malers, die längst gestorben sei, aufgezeichnet, sie sei ein Mädchen gewesen, das der Graf wahrhaft geliebt, endlich aber doch habe aufgeben müssen. Jetzt nun, erzählte der Pfarrer von Bergendorf weiter, da er gehört habe, daß der Graf seinen Sohn zu sich genommen habe, wollte er ihm auch diese Papiere nicht mehr vorenthalten. Hierauf habe der Graf ein langes Gespräch mit ihm gehabt und ihm am Schlusse desselben einige alte Pergamente vorweisen wollen. Die Pergamente waren nicht an ihrem bewußten Platze, den Grafen rührte der Schlag vor Schreck. O ich weiß, wer sie fortgenommen hatte, lassen Sie mich nur weiter erzählen!«

Arthur athmete tief auf, und fuhr fort:

»Ein Diener erschien und meldete mir, ich müsse augenblicklich nach der Stadt, der Maler Bernhard lasse mich rufen. Ich war unschlüssig, was ich thun sollte, denn auch Corona rang mit dem Tode, da ich ihr aber durchaus nichts helfen konnte, und die Person des Malers ein neues Interesse für mich gewonnen hatte, empfahl ich Corona der Sorge des Hausarztes, und folgte dem Rufe Bernhards.

Ich war entsetzt über seine Verwandlung, als ich ihn erblickte. Vor der Thür stand ein Wagen mit Postpferden, er stürzte auf mich zu, schilderte mir eine schreckliche Gefahr, in welcher wir uns befänden, wenn wir nicht die Flucht ergriffen, er drängte mich in den Wagen, und fort ging es, indem der Morgen eben anbrechen wollte.

Im Wagen brach sich ein entsetzliches Geständniß Bahn über seine Lippen, er erzählte mir, er habe Sie und Ihren Freund Johannes ermordet, man setze ihm nach und auch mir, denn man glaube auch mich dabei betheiligt. Ich wollte halten und den Postillon umkehren lassen, Bernhard schrie und eiferte dagegen, schon aber nahm ich noch Schlimmeres an ihm wahr, ich bemerkte die Anzeichen ausbrechenden Wahnsinns. Bald war ich meiner Sache gewiß, in einem Städtchen, durch welches unser Wagen eben rollte, ließ ich schnell einen Arzt rufen, dieser bestätigte meine Vermutung, ich übergab ihn seiner Obhut und er brachte ihn, mit gehörigen Mitteln von mir versehen, in eine Irrenanstalt.

Ich selber kehrte um nach Weilburg. Dort erfuhr ich, daß Bernhards That nur zur Hälfte wahr sei, Corona fand ich in wilden Phantasien eines Nervenfiebers. Nach einigen Tagen ließ sie mich zu sich rufen. Sie war ruhiger geworden und sagte mir, sie fühle, daß sie dem Tode entgegen gehe. Sie bat mich, ihr all ihr Unrecht zu verzeihen – sie war so sanft und hingebend! Nur der Gedanke, an dem Tode ihres Vaters schuld zu sein, da sie die Pergamente habe entwenden lassen, machte ihr schreckliche Pein. Ich wich nun nicht mehr von ihrem Krankenlager, sie wollte auch sonst Niemand um sich leiden, nach wenigen Tagen war sie hin, sie starb in meinen Armen.«

Große Tropfen standen an Arthurs Stirn, als Beide jetzt vor dem Försterhause auf dem Felsberge angelangt waren.

»Ich bin noch nicht ganz fertig,« fuhr er fort, »warten Sie einen Augenblick«.

Er ging in das Haus, und bald darauf wieder kommend, sagte er:

»Nehmen Sie dies hier, Corona hat es mir wenige Stunden vor ihrem Tode für Sie überreicht, sie hat viel von Ihnen gesprochen, diese Kleinigkeit hat sie in früheren Tagen für Sie gearbeitet, sie will Ihnen jetzt dadurch ein versöhnendes Lebewohl sagen.«

Erich besah das ihm von Arthur Eingehändigte. Es war ein kleines Etui zu Visitenkarten, auf der einen Seite war auf dunkelblauem Sammt das Sternbild des Orion in Gold gestickt, auf der andern Seite ebenso auf blauem Grunde der Buchstabe C. Inwendig lag ein kleiner Zettel von Coronas Hand. –

»Leben Sie wohl, Orion,« so schrieb sie, »und verzeihen Sie einer Sterbenden, die Sie sehr geliebt hat. Ihnen soll das, was wir zusammen erlebten, keine Minute verbittern, und geht es Ihnen einst wohl, so denken Sie mein, ich nehme Ihr Bild unverlöschlich mit hinüber. Corona Weilburg.« – – –

*

Schweigend saßen Arthur und Erich lange gegenüber, Beide ließen stumm die Bilder der Vergangenheit an ihrer Sele vorüberziehen. Und wie bunt, wie vielfältig waren diese Bilder! Ein stiller Frieden umgab die ersten, ihr Glanz steigerte sich durch stufenweis errungenes Glück zum Gipfel aller Wonne, dann legte sich dämmerndes Gewölk auf die nächsten, um endlich allem Todesschmerze durch einen tiefen Seufzer Luft zu machen.

Nach einer Stunde stand Arthur auf und fragte:

»Wohin führt Sie Ihr Weg?«

»Nach Italien.«

»Wohl, so trennen sich unsre Wege. Sie gehen der Sonne des Südens entgegen, mag sie Ihre Schmerzen lindern! Ich gehe nach Schottland zurück, wo ich meine Stammgüter wieder habe ankaufen lassen; dort in den Bergen des Nordens will ich durch reges Wirken und Schaffen zu übertäuben suchen, was ich nicht vergessen kann. Nur noch bis Heidelberg gehe ich heut, dort habe ich Briefe aus meinem Vaterlande in Empfang zu nehmen, dann wende ich mich zurück nach Norden. Werden wir uns in diesem Leben wiedersehn? Es ist nicht wahrscheinlich. Lassen Sie uns denn als Freunde scheiden! Waren wir doch beide, wenn auch mit ungleich starken Banden, an ein Wesen geknüpft, das unvergeßlich in unsre Zukunft hinüber ragen wird, haben wir doch zusammen gute und trübe Tage gesehn, die Epoche machen in unsrem Leben.

Leben Sie denn wohl, Orion – ich nenne Sie bei diesem Namen, der so bedeutendes Gewicht für mein Leben gehabt hat – leben Sie wohl, und denken Sie mein ohne Groll, wie ich Sie denn stets zu den Menschen rechnen werde, die mir vorzüglich nahe stehen, trotz der Entfernung, die Länder und Meer bald zwischen uns legen werden!«

»Gebe Ihnen der Himmel noch viel gute Tage,« entgegnete Erich, indem er seine Hand in die Arthurs legte, »ich werde oft an Sie denken. Leben Sie wohl!«

Arthur Mac Kenneth rief nach seinem Führer, und verschwand mit diesem bald darauf im Dunkel der Tannen. –

Erich war wieder allein. Er überdachte von Neuem seine Vergangenheit, denn nur hier fand er Punkte, wo er anknüpfen konnte, Gegenwart und Zukunft zeigten ihm eben nur eine öde nebelhafte Ferne, eine unfruchtbare Fläche, er mußte, wie ein verbannter Auswandrer in ein wüstes Land, mitnehmen was er irgend besaß, denn da draußen glaubte er nichts als Oede und Wüstenei zu finden.

Als ein fröhlicher junger Wandrer war er in jenes Thal gekommen, wo er so viel Beglückendes und Erschütterndes erleben sollte, und jetzt war er ein Mann geworden, und mußte ruhelos wieder hinaus in die weite Welt. Der Freund war ihm gestorben, ach wie viel hatte er mit ihm zu Grabe getragen!

Auch die Geliebte hatte er verlassen müssen. Alle hatten den Weinbauer mit Bitten und Vorstellungen bestürmt, er war starr und unzugänglich geblieben, ja alle Bitten hatten ihn noch mehr verhärtet, er war bei seinem Fluch geblieben, er hatte seine Tochter verstoßen.

Beate hatte sich sogleich erboten, Sabinen als eine Schwester gänzlich zu sich zu nehmen, da es aber nicht ratsam war, daß Vater und Tochter in diesem Augenblick unter solchen Verhältnissen in Einer Stadt miteinander wohnten, so gewann der Vorschlag des Pfarrers von Hohenfichte die Oberhand, daß Sabine in seinem Hause bis auf Weiteres ein freundliches Asyl finden solle. Dorthin war sie bereits abgereist, Erich war ihr gefolgt und beschwor sie mit ihm zu gehen, wohin es auch sei.

»Nein,« sagte Sabine, »wir würden dem Unglück entgegen gehen, Erich. Des Vaters Segen bauet den Kindern Häusern, uns wird es nicht so gut, auf unsrer Liebe lastet des Vaters Fluch. Gute Menschen haben mir ihr Haus geöffnet, ich will für sie arbeiten, da mich mein Vater verstoßen hat. Geh Du in die Welt, Erich! Ich bin Dein Weib, vor Gott und Menschen bin ich Dir angetraut, ich werde ewig Deine treue Sabine bleiben, und von der Liebe zu Dir nicht ablassen, aber folgen darf ich Dir jetzt nicht. Geh in die Welt, Erich, die Zeit kann meines Vaters Zorn vielleicht besänftigen, und kommst Du nach Jahren einst zurück, und er will seinen Fluch in Segen verwandeln, dann findest Du mich, wie ich von Dir geschieden war, Dein treues Weib. Bis dahin, Erich, müssen wir uns trennen. Du hast ja selbst einst gesagt, man müsse auch alle Traurigkeit zu ertragen wissen, ertrage sie nun, Erich, es ist unsre Prüfungszeit!«

Sabine blieb fest, sie hatte etwas von dem starken Charakter ihres Vaters, wenn auch gemildert und auf das ächt Weibliche übertragen.

Beate und Ulrich redeten Erich zu, er solle seine Reise nach Italien antreten, die er lange schon im Sinne gehabt habe, und so mußte er sich denn entschließen, er nahm vom Grabe des Freundes und von der Geliebten Abschied und ging fort.

Vom nächsten Hügel blickte er noch Einmal zurück nach dem Pfarrhause zu Hohenfichte, er sah im Giebelfenster Sabinen stehn, sie winkte mit dem Tuche. Aber sie winkte ihm nicht zurück, sie hieß ihn weiter ziehn, und ein Traum kam ihm in den Sinn, den er einst in jener Nacht auf der Felsenplatte des »Todessprungs« gehabt hatte. Auch damals sah er Sabinen mit einem Tuch wehen, während das Bild Coronas nach dem über ihr stehenden Sternbilde des Orion zeigte.

Drei Wochen waren seit dem Tage des Abschieds von Sabinen vergangen, drei Monate seit seinem Eintritt in das Haus seiner Schwester, wie hatte ihn die kurze Zeit verwandelt! Die Kapelle, die er hatte bauen sollen, war nicht fertig geworden – nicht fertig! Es war ja nicht einmal der Grundstein dazu gelegt, nur der Schutt der Vergangenheit war bei Seite geräumt worden.

Jetzt war es Spätherbst, nur wenig gelbes Laub hing noch an den Bäumen, das dünne Moos an den Stämmen schillerte in nassem Grün, gepart mit weißen Baumflechten, als wollte es sagen: Das Laub ist hin, die Frucht ist gefallen, nun kommen wir heran, das Geschlecht der kriechenden Sorgen, die mit ihrer Farbe an den Frühling erinnern, aber mit ihren Wurzeln dem entblößten Stamme die Lebenskraft aussaugen!

Es ist ein trauriger Anblick, wenn man, nachdem das letzte Laub herabgefallen ist, nun der Natur gleichsam hinter die Coulissen sieht. Auf der lichtstrahlenden Naturbühne des Sommers leuchtet aus jedem Winkel des grünen Gezweigs die Ahnung phantastischen Märchenspiels hervor, ist aber die Zeit des Glanzes vorüber, werden die Lichter ausgelöscht, dann liegt alle die strahlende bunte Kleidung da, als abgenutzte, zerrissne, ekelhafte Fetzen. – –

Da stand nun Erich, ein müder, trübseliger Wandrer, dem Sorge und Kummer verzehrend am Herzen nagte. Sein Schmerz äußerte sich nicht in jener schlaffen, thränenreichen Verschwommenheit, thränenlos hatte er den Freund begraben, thränenlos die Geliebte verlassen; was ihn erfüllte, war jener bittre Trotz und Hohn, der dem Himmel wild entgegenruft: Jetzt versuche Deine Gewalt an mir, Du kannst mir nicht mehr nehmen, als Du mir schon genommen hast! Konnte er doch an Sabinen nicht ohne einen leisen Groll denken, da sie sich geweigert hatte, ihm zu folgen.

Allein und ohne Freund schritt er dahin, Italiens Himmel lockte ihn nicht, er wanderte langsam, um so lange als möglich die dunklen Fichtenwälder Deutschlands um sich zu sehen, die einsamsten, menschenleersten Wege waren ihm die liebsten, wo er ungestört mit seinen dunklen, nicht zu bannenden Gedanken verkehren konnte. Sein Weg ist weit, seine Tage reizlos und trübe – wie wird seine Heimkehr ins Vaterland sein? –

*


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