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Arrangements

»On s'arrange«, ist eine vielgebrauchte französische Redensart, welche die menschenüblichste Erwiderung auf Ereignisse aller Art auf eine Formel bringt. Es ist Antwort der Millionen, die mit eilfertiger Kleinarbeit jeden Schicksalstritt in den Ameisenhaufen wieder so weit zurechtzumachen suchen, daß sie im Zerstörten schließlich beinahe wieder so weitertun können, wie sie es gewohnt waren. Kommt einmal in einer Schöpfungsstunde der Menschheit aus guten und bösen Genien eine andere gewaltige Art von Antwort, dann haben es die vielen eilig, sich's mit ihr, sogar mit ihr zu arrangieren. Läßt aber die unerträgliche Spannung »großer Zeiten« nach, dann hängen sie geschwind an das Trauerspiel, in dem sie mitgewirkt haben, die Farce, das Stück nach ihrem Herzen, und lassen – bis wieder ein guter oder böser Genius eine andere Art von Antwort erzwingt – die Leute gewähren, die sie verstehen: die sich's mit den Dingen des Staates und der Herrschaft so arrangieren wie sie selber mit den Dingen ihres Lebens.

Ein junger beschäftigungsloser Offizier, der in diesem Jahre 1795 in Paris an alle die neuen Machthaber heranzukommen suchte, schrieb von hier an seinen Bruder: »Man erinnert sich hier der Schreckenszeit nur noch wie eines Traumes.« Und dann in einem anderen Briefe: »Der Luxus, das Vergnügen und die Künste kommen hier wieder auf eine erstaunliche Weise zur Geltung ... Die Wagen und die eleganten Leute tauchen wieder auf, oder vielmehr, sie erinnern sich nur noch wie eines langen Traumes dessen, daß sie jemals zu glänzen aufgehört hatten. Alles vereinigt sich hier, um zu zerstreuen und das Leben angenehm zu machen. Man wird aus seinem Nachdenken gerissen, denn wie könnte man in all der Aufwendung von Geist und in diesem Wirbelwind von Tätigkeit noch schwarz sehen? Überall sind die Frauen, in den Schauspielen, auf den Promenaden, in der Bibliothek. Im Arbeitszimmer des Gelehrten sogar trifft man sehr hübsche Frauen. Unter allen Orten der Erde ist dieser hier der einzige, wo sie es wirklich verdienen, das Steuer in den Händen zu haben. Und die Männer sind auch ganz närrisch nach ihnen, sie denken nur an sie und leben nur für sie und um sie. Eine Frau braucht nur sechs Monate in Paris zu sein, um zu erkennen, was ihr gebührt und was ihr Machtbereich ist ...«

Fügt man hinzu, daß der Schreiber dieses Briefes, der sechsundzwanzigjährige verabschiedete Artilleriegeneral Napoleon Buonaparte, seiner Natur nach zu all solchem bequemlichen Arrangieren in Gegnerschaft stand, so kann man die Macht dieser Atmosphäre wieder auftauchender neuer Behäbigkeit aus solcher Wirkung auf diesen düsteren sorgenvollen jungen Menschen ermessen. Daß dieser ersten, recht ungemäßen Freudigkeit über das vergeßliche Treiben ringsum nur allzubald die gleiche Reaktion folgte, die viele Angehörige der neuen Kriegerkaste – wie Hoche zum Beispiel – nach kurzem Mitgenießen der Feste dieses »großen Frauenhauses Paris« äußerten, gehört noch nicht hierher, wie ja überhaupt dieser junge General vorerst nur als ein Berichterstatter an- und eingeführt worden ist, der, aus dem noch heroischen Frankreich der großen soldatischen Männerbünde kommend, sich Paris gegenübersah, »où on s'arrange si parfaitement avec tout«.

Über die nun anhebende Zeit des Directoires gibt es eine ganze Bibliothek von Berichten, Memoiren, Briefen und Aufzeichnungen aller Art – und wenngleich in zahlreichen von ihnen Josephine jetzt schon Erwähnung findet, soll von umfänglichem Zitieren hier abgesehen werden: denn ebendiese Zeit in Paris ist für alle die, welche die Nachkriegsjahre in einer der deutschen Großstädte erlebt haben, so durchaus nah und verständlich, daß ihre Atmosphäre mit ein paar Worten emporzurufen ist. Es ist bereits von dem dichten Nebeneinander von Verelendung und Luxus gesprochen worden. Dazu erwähnt der angeführte Brief Bonapartes die Rolle der Frau, wobei auch er in erster Linie an Madame Tallien gedacht haben wird, an die er sich kurz vorher mit der Bitte gewandt hatte, sie möge ihm zu einer neuen Uniform verhelfen, da seine alte sich in all der neuen Pracht ringsum gar zu feldmäßig und ärmlich ausnahm. Denkt man nun an das kurzgeschnittene Haar der schönen Térézia – man begann diese Haartracht, die kurz zuvor noch à la victime hieß, jetzt Tituskopf zu nennen –, vergegenwärtigt man sich Modebilder mit den zwar langen, aber alle Körperformen genauestens modellierenden Kleidern, unter denen fast nichts getragen wurde, und die entblößten Brüste, und liest man immer wieder, daß die Frauen beim Niedersetzen Sorge trugen, daß ihre oft strumpflosen Beine sichtbar wurden, so hat man schon ein gut Teil wohlvertrauter Parallele. Diesem Stückchen Vermännlichung der sich exhibierenden, werbenden Frau entspricht ein gleiches Maß von Verweiblichung ebender Männer, die die natürlichen Partner dieser Frauen sind, jener eifersuchtslosen, glatten, in Lügen und Düpieren erfahrenen Männer von der Art Barras' (neben dem schon noch glattere, schillerndere und gefährlichere Bestien heraufkamen, wie etwa Talleyrand). Wer erkennte in diesen bartlosen und ein klein wenig effeminierten Gestalten, die so lange Jünglinge bleiben, bis sie Greise werden, nicht einen Schlag von Zeitgenossen wieder? Oder vielmehr eine der beiden Hauptarten von Männern, die in und nach großen Menschheitskrisen emporzukommen pflegt: die, welche nicht eigentlich zum Manne ausreift, weil dieser nicht allein entstehen und bestehen kann, sondern alles Konsolidierte und Wohlverbürgte einer völligen Ordnung von Ständen und Besitz, Familie und Moral zur Voraussetzung hat! Dieser aus langer Not zur Selbstverteidigung gezwungenen männlichen Spezies, die das on s'arrange praktiziert, steht jene andere gegenüber, die in den Feldlagern und Schlachten eine Notreife empfing und im Reinhalten anderswo leergewordener Begriffe, wie Ehre, Pflicht und Kameradschaft, sich jene Geltungen schafft, auf denen ihre Gesellschaft, die des Männerbundes, ruhen kann. Es scheint, daß der »eingeborene« kriegerische Sinn des Mannes ein Trick der Natur ist, durch die Kriege den zur Vermehrung unnötigen Überschuß an Männern zu beseitigen. Überdies hat es den Anschein, als ob das zeitweilige Vorhandensein solch einer hochentwickelten Kriegerkaste wie bei gewissen Ameisenarten zu deren Entsexualisierung und zum Entstehen einer Art aktiver Neutra führte. Dem gegenüber nimmt in solchen Zeiten die Polygamie der anderen Männerspielart überhand, die sich der Überzahl von Frauen gegenüber in einem Verhältnis befinden wie die Männchen einiger Antilopenarten, um die sich Rudel von hundert und mehr Weibchen sammeln. Empfindet man nicht den Zusammenhang mit vieler »radikaler« Jugend von heute und von immer, die in große Bindungen drängt? Ahnt man aus diesen Hinweisen ein wenig die Atmosphäre, erkennt man sie wieder durch all die Verschiedenartigkeit von Kostüm und Dekor hindurch?

Paris also war mitten im Sich's-Arrangieren und bereits schnell wieder so weit, alles Rückfällige zur Tugend zu adeln und angesichts der etablierten Republik solcher Tugend wie »der Treue gegen das Althergebrachte« ein wenig Verständnis zu erweisen. Während der marastisch gewordene Konvent Tallien für die durch nichts zu rechtfertigende Hinschlachtung der vielen Hunderte von Royalisten, die sich in Quiberon ergeben hatten, noch Epitheta aus den schon glanzlos gewordenen Römerrequisiten hervorholte, erlaubte sich die schöne Térézia schon wieder Empörung, – und in anderen Salons, wie in dem der Rue Chantereine, wo es oft wieder recht aristokratisch herging, wurde mit Mißbilligung nicht gespart. Was dann freilich nicht hinderte, daß Josephine wenige Monate später sehr zufrieden war, den »bluttriefenden« Tallien bei einer Gelegenheit von einiger Wichtigkeit an ihrer Seite zu haben. Allerdings war um diese Zeit die royalistische Sache schon wieder um ihre entscheidende Hoffnung ärmer, und die Sansculottinnen von Anno 94 waren wieder für eine maßvolle Republik und für die Tauben in der Hand.

Seit Josephine ihr Haus hatte, ließ sie es sich angelegen sein, für die Zeiten, da sie selbst nicht eingeladen war, die »Intimen« bereit zu haben, die zu einem gutgeführten Hause gehörten. Es waren dies Männer mittleren oder reiferen Alters, etliche mit sehr guten alten Namen wie Coulaincourt, Montesquiou und Ségur: in dieser Gesellschaft genoß sie das Weiterleben der alten Welt, an deren Lebzeiten sie ja nur so kümmerlich wenigen Anteil gehabt hatte. Im Gespräch mit diesen von ihrem Charme angezogenen und des Zusammenseins in einem »aimablen« Hause und an einem wohlgedeckten Tische frohen Männern erging es ihr wie Barras mit den Frauen der alten Gesellschaft: sie übte genießerisch die Vervollkommnung und höchste Nuancierung einer Haltung, die sie nur vom Zusehen und Hörensagen gelernt und deren Anwendung sie recht eigentlich so begonnen hatte wie einer, der vom Einmaleins gleich zur höheren Mathematik übergeht. Nun war sie hier wieder die Vicomtesse de Beauharnais; Achtung und Huldigung ihrer Tischgenossen umgab sie, und daß sich darein gerade nur ein winziges Gran von Libertinage, von wohleingekleideter Gewagtheit mengte, unterhielt sie und erschien ihr als rechter und bester Ton. In diesem Zirkel war von Barras und der Tallien selten die Rede, obgleich fast alle hier Nutznießer dieser beiden genußfrohen Großzügigkeiten waren. Man war unter Königstreuen, sprach, wie sich's ziemte, vergaß der vielen schon getroffenen Arrangements mit den veränderten Zeiten – und wartete auf die Wiederkehr der guten Zeit und des Herrn und Meisters. Daß dieser etwa ein anderer als ein Nachkomme des heiligen Ludwig sein könnte, hätten die Tischgenossen der immer noch reizenden Witwe Beauharnais ebenso wie diese selber, wenn sie zusammenwaren, auch nicht mit einem Gedanken gestreift.

Neben diesen mit einer imaginären Vergangenheit verbindenden Freundschaften hielt Josephine eifrig ihre Beziehungen zur Gegenwart aufrecht. Vor allem die in der veränderten Temperatur vortrefflich weitergedeihende Freundschaft zu Barras, dem hilfreichen Barras, dem sie, wenn sie ihn eine Weile nicht sehen konnte, zärtlich vertrauliche Billets mit Umarmungen zum Schlusse sandte. Dann den Umgang mit Madame Tallien, die »aus einer politischen Macht mehr und mehr zu einer mondänen wurde«. In dieser Zeit schrieb sie an die Tante Renaudin, die nun endlich in der späten Fontainebleauer Stille ihr Lebensziel erreicht und die Marquise de Beauharnais geworden war: »Madame Tallien ist weiter schön und gütig und gebraucht ihren ungeheuren Kredit nur dazu, um Vergünstigungen für die Unglücklichen zu erreichen, die sich an sie wenden, und dabei hat sie in allem, was sie gewährt, einen solchen Ausdruck von Genugtuung, daß es den Anschein hat, als ob sie noch dafür zu Dank verpflichtet wäre. Ihre Freundschaft für mich ist erfinderisch und zärtlich; ich versichere Sie, daß die meine für sie der gleicht, die ich für Sie habe: das soll Ihnen eine Vorstellung von meinen Gefühlen für Madame Tallien geben ...«

Josephine besuchte die alten Leute in Fontainebleau oft, wie ja überhaupt immer mehr die Anhänglichkeit an alle, die sich ihr freundlich erzeigt haben (sofern es nicht Liebhaber waren), zu einer ihrer vorherrschenden Eigenschaften wurde. Ihr Gedächtnis, das sich nachher als so biegsam und nachgiebig erwies, wo es um die in einen neuen Lebensstil schlecht einordenbaren Erinnerungen ging, wurde zu einem immer vortrefflicheren Instrument, das alle Bekanntschaften unauslöschlich registrierte und treulich alles empfangene Gute bewahrte. Und das Gedächtnis bekam mehr und mehr zu tun.

Denn mit einer Unermüdlichkeit, die im wunderlichsten Gegensatz zu dem Eindrucke von »schmachtender Mattheit und müder Anmut« stand, den sie zu erwecken wußte, nahm sie weiter jede Einladung an, blieb oft bis zum Morgengrauen und kannte endlich wirklich beinahe alle Leute, deren Bekanntschaft zu machen irgend lohnte, und eine Menge anderer dazu. Und neben Madame Récamier, mit ihrem objektiv-unaufdringlichen Kult ihrer eigenen sanften Schönheit, neben der gescheit-geschäftigen Madame de Staël, deren verfeinerter Snobbismus die von Vater Necker ererbte Organisationsgabe zur Administration ihres bald ganz Europa umspannenden Freundschaftsbetriebes aufwandte, neben Térézia Tallien, die mit vollen Händen gab, was sie mit vollen Händen nahm, und die noch immer die aus den schon vergessenen Tatsachen des IX. Thermidor gewachsene Legende als ein Hauptrequisit ihrer Toilettenkunst nutzte, wuchs diese überall gesehene, immer noch hübsche Kreolin mit dem schmachtenden Blick in den dunkelblauen Augen, der unübertrefflichen Gabe des Zuhörens und der einen zweifelhaften Ruf reizvoller machenden liebenswürdigsten Artigkeit in die bedeutende gesellschaftliche Position hinein, die sie angestrebt hatte. Sie stak bis zum Halse in Schulden, wandte Tag um Tag eine Findigkeit und unbedenkliche Tüchtigkeit (mit der man in dieser Zeit ein großer Unternehmer hätte werden können) dazu auf, all die Gläubiger mit von neuen Gläubigern erhaltenen Summen oder Bürgschaften zu beschwichtigen, charmierte die Männer, vertrug sich mit den Frauen und war die reizende Beauharnais, die man überall sah und über die ohne Bosheit viel geredet und mehr gemunkelt wurde. Und wäre nicht morgens zuweilen ein Blick in den Spiegel ihr kalt mitten ins Leben gefahren, so wäre das Leben jetzt eben von der Art gewesen, die sie fröhlich und dankbar für alle Zukunft hingenommen hätte. Aber da war immer wieder der Blick in den Spiegel, in die vielen Spiegel ihres Ankleidezimmers, die ihr zwar ihren Körper ihrer Mutterschaft zum Trotz makellos und straff zeigten, aber die, besonders nach allzu langen und lebhaften Nächten, eine Unfrische, ja eine leise Schlaffheit um den Mund und die Augen und, was schlimmer war, am Halse aufwiesen. Dazu kam neuerdings aller aufgewandten Sorgfalt zum Trotz ein neues schlimmes Übel: ihre vormals so hübschen weißen Zähne begannen sich zu verfärben, da und dort bräunlich zu werden: und keiner der kostspieligen Ärzte und Quacksalber wußte ihr wirksamen Rat. Ihr Lächeln, das alle so entzückte, wurde mühsam und befangen, und immer mehr lernte sie vor dem Spiegel auf eine Art zu lächeln, die die Zähne nicht zeigte. Vor diesen guten bösen Spiegeln brachte sie jetzt viele Zeit zu. Ja, es war ein Glück, daß es immer mehr zum selbstverständlichen Brauche aller eleganten oder elegant sein wollenden Frauen geworden war, der Schönheit mit vieler Kunst aufzuhelfen, sich zum lockenden Bilde zu malen. Josephine hatte es in dieser Kunst zu einer sehr großen Vollkommenheit gebracht, zu einer zu großen vielleicht, denn ein paar böswillige Betrachter begannen hinter der reizenden Larve schon weit schlimmere Verwüstungen zu mutmaßen, als in der Tat zu sehen gewesen wären. Aber wenn zuweilen die Jagd nach Geld, auf dem ja diese ganze »Position« aufgebaut war, zu schwer wurde und die Rechnungen und Gläubigerbriefe sich über ihr üblich gewordenes Maß hinaus aufhäuften, ließ Josephine vor dem Spiegel plötzlich die Hand mit dem Schminkstift oder der Puderquaste sinken und sah schaudernd das Bild im Spiegel sich entstellen, fünf Jahre, zehn Jahre, Zukunft ... Sie war jetzt in ihrem dreiunddreißigsten Jahre.


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