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Agonie der Behäbigkeit

Das Heimweh nach der Vergangenheit, zu dem uns das Anhören eines Quartetts von Haydn, einer Suite von Rameau oder eines Balletts von Lulli verführen möchte, sehnt sich in ein idyllisches Lebensgefühl hinein, das aus der verklärten Schwermut solcher Kunst singt und leuchtet und das selber Heimweh nach einem zu Ende gehenden Glücke ist. Wieviel von solchem verallgemeinerten Glücke es wirklich gegeben haben mag, erzählt die Geschichte nicht (die nach dem Worte Michelets immer nur berichtet, wie die Menschen sterben, aber nicht wie sie leben); ja in Hinblick auf diese zweifelhafte Kategorie Glück muß sogar gesagt werden, daß sie dort am ehesten zu vermuten ist, wo die sogenannte große Geschichte wenig auszusagen weiß. Immerhin ist in den Künstlern von jenem Lebensgefühle ein Erinnern und ein Nachschwingen, ein Festhaltenwollen von etwas, was es beinahe gegeben haben kann: von einem großen Kunstwerk einer heroisch-idyllischen Gesittung, von deren Abglanz das 18. Jahrhundert sechs oder sieben Jahrzehnte lang gezehrt hat und für deren Wirklich-Gewesensein ein paar Menschen und Werke Zeugnis ablegen. Mag auch eine Erscheinung wie zum Beispiel Madame de Sévigné ein Glücksfall ohnegleichen gewesen sein: es haben doch auch die Glücksfälle ihre Voraussetzungen – und fünfzig Jahre später wäre die Sévigné nicht mehr zu denken. Wir wollen hier nicht fragen, wie teuer das Gelingen einer solchen Gesellschaft die Heloten zu stehen kam, die man neben jener geistverklärten harten Harmonie wie die Michelangeloschen Sklaven vor sich sieht; wir wollen nicht fragen, da wir mitten in der Antwort sind und die Sklaven zu Gläubigern geworden sind, die sich nicht mehr vertrösten lassen. Jene alte Gesellschaft war – wie jede von dieser Art – ein durch die Jahrhunderte fortgeführter Versuch, das Zusammenleben der Dazugehörigen zu entgiften, ein Ideal von sich selber zu schaffen und es zum Dogma zu machen. Die Ehre (dieses Machtmittel der Herrschenden, wie Montesquieu sagt) und die Religion schufen Bindung und Sicherung einer Welt und Forderungen zu jenen sozialen Tugenden, die den allen chthonischen Mächten abgerungenen Lebenskreis gegen Einbrüche einer irrationalen Um- oder Unterwelt verteidigen mußten. Gegengabe für die unaufhörliche kleine Leistung in Disziplin und Ichkontrolle war das, was alles Zusammenleben endlich im Hohen wie im Niedren zu erreichen sucht: Behäbigkeit, veredelt oder grob, je nach den Ansprüchen und Gaben der Zeiten und Kreise.

Im vorigen Kapitel ist von einem wachsenden Unbehagen als einem Symptom der Auflösung gesprochen worden. Zuvor schon ist ein gewisses Verhalten von Vater und Sohn Beauharnais als ein Beispiel angeführt worden, wie es die Durchschnittsedelleute in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Ehre hielten. Neben diesem entscheidenden Symptome der Zersetzung könnte man schließlich noch das Verhalten zur Religion als dem anderen starken Bindemittel der Gesellschaft anführen. Wenn man sieht, wie Madame de Sévigné, die eine Heidin im Geiste war, es doch noch im Gewissen so tragisch nahm, nicht die echte Religion, den Aufschwung, die Andacht fühlen zu können, die sie als ein Glied einer christlichen Gemeinschaft von sich forderte, wird einem die völlige Veräußerlichung der Religion auch der ungeistigen Frauen wie etwa Josephinens sagen müssen, daß Himmel und Erde kein Teil mehr hatten an diesen, die da noch Gemeinschaft weiterspielten. Nachdem solcherart die die Gesellschaft verbürgenden Leistungen aufgehört hatten, begann die Gegenleistung immer karger zu werden. Und eben, da die Malerei und die Musik in später Schwermut jenes In-sich-Ruhende priesen, ging es fort. Und auf das Unbehagen folgte die Unrast, wie sie über die sich zum Tod bereitende Kreatur zu kommen pflegt. Noch hatten sich auf Landsitzen, in Salons und in einem Als-Ob-Tun etwelche Restchen der alten Behäbigkeit erhalten (wie in Winkeln noch Wärme bleiben kann, wenn die Sonne schon fort ist); in diesem Restchen spielten die Unwissenden und die Nichtwissenwollenden noch die alte Zeit weiter, bis die Hände der Unbehäbigen nach ihnen griffen.

*

Josephine, von der, allerdings lang nachher, ganz ernsthaft behauptet worden ist, sie sei eine der Damen am Hofe Marie-Antoinettens gewesen, dankte die ersten Erfolge ihres gesellschaftlichen Debuts dem Umstande, daß Alexandre nach Flucht und Gefangennahme des Königspaares so über ganz Frankreich hin dröhnend seine Empörung von der Tribüne herabgeschmettert hatte. Als es Jahre später in dem neuen Konglomerat von Cliquen wieder Mode wurde, bourbonenfreundlich zu sein, hatte Josephine längst vergessen, daß sie ein Weilchen Nutznießerin von Alexandres In-tyrannos-Beredsamkeit gewesen war, und war überzeugt, daß sie stets aufrichtig dem Königshause angehangen habe. Vorerst aber genoß sie nach Kräften ihre neue Zugehörigkeit zu dieser wunderlichsten Zwitterwelt, in der eine Anzahl wahrer und überzeugter Männer um die völlige Umgestaltung des menschlichen Zusammenlebens kämpften, während alle anderen sie feierten und ihnen nachredeten, ohne zu merken, daß sie so an der Zerstörung dessen mithalfen, an dessen Bestand und Beharren sie mit ihrem Leben hingen.

Als Josephine im Herbst des Jahres 1791 nach Paris zurückkehrte, bezog sie eine Mietwohnung in der Rue St-Dominique, in der Nachbarschaft der Thomas-von-Aquino-Kirche. Aus dieser Wohnung, deren Unansehnlichkeit aus der Miete und dem sonstigen Ausgabenstandard Josephinens zu errechnen ist, hat der Verschönerungsverein der Biographen ein Palais mit glänzenden Salons gemacht, einen Mittelpunkt der Gesellschaft; ja in einer neuerdings erschienenen Monographie findet sich sogar die Behauptung, Josephinens Empfänge in der Rue St-Dominique hätten ihr Teil zum Aufstiege Alexandre Beauharnais' beigetragen. Nun, ganz abgesehen davon, daß die Art der Behausung und die verringerten Einkünfte seit dem Tode des Vaters (der nur Schulden hinterlassen hatte) solche Empfänge verboten, war Alexandre, eben da Josephine nach Paris zurückkehrte, von seinem hohen Piedestal schon wieder herabgestiegen. Nach dem Ende seiner Präsidentschaft blieb er noch die paar Wochen der Schlußberatungen um die kurzlebige Konstitution eines der vielen Mitglieder der Versammlung, bis diese sich nach Erfüllung ihrer Aufgabe im September auflöste. Da aber die Deputierten der Konstituante sich selber von der Wiederwahl in die Gesetzgebende Nationalversammlung ausgeschlossen hatten, war Alexandre im Oktober 1791 nichts mehr als einer der ehemaligen Präsidenten der Versammlung. Das half ihm gerade nur zur Erlangung eines unbedeutenden Amtes in der Verwaltung der Provinz, in der die Beauharnaisschen Güter lagen. Als er nach beträchtlichem Zögern (einer Beauharnaisschen Eigentümlichkeit) sich endlich nach seinem Amtssitz begeben hatte, wurde er für die Dauer dieses Amtes wieder mehr der ehemalige Vicomte und war vor allem darauf bedacht, die an seine Besitzungen anstoßenden Nationalgüter vorteilhaft zu erwerben. Wie er sich bald darauf von dieser Tätigkeit unbefriedigt fühlte und nach neuer drängend den törichtverhängnisvollsten Irrtum seines Daseins beging, wird alsbald erzählt werden.

Wenngleich Josephine nun zwar keineswegs, wie es irgendwo heißt, mit Madame Roland wetteiferte noch den beliebtesten Salon von Paris besaß, hatte sie eben jetzt reichlichen Anteil an jenen Restchen dessen, was wir Behäbigkeit genannt haben (welches Wort nun schon einen gespenstischen Klang hat). Sie hatte die Bekanntschaft eines Geschwisterpaares aus großem deutschen Adel gemacht, das sich ganz in Paris niedergelassen hatte und so lange bei Hof viel gegolten hatte, bis sich dieser Prinz Salm-Kyrburg zur Linken geschlagen hatte und sogar in die Nationalgarde eingetreten war. Er und seine Schwester, Prinzessin Amalia von Hohenzollern-Sigmaringen, waren die ersten aufrichtigen Freunde Josephinens; sie halfen und nützten nach ihren damals noch bedeutenden Kräften der jungen Frau, die sie als anmutigst französisch empfanden und der sie ihr schönes festesfreudiges Haus (das nachher das Palais der Legion d'Honneur geworden ist) so lange offenhielten, als sie selber darin eine Bleibe hatten. Diese Freundschaft war für Josephine, was für Alexandre die mit den Larochefoucaulds gewesen war; nur schrieb man nun 1791 und 92, und in das Antlitz der edlen antikischen Gestalt der Revolution, wie sie diese Grandseigneurs in ihren Salons gehegt hatten, waren ein paar sehr irdische Züge gekommen: etwas von den Zügen der jetzt immer öfter jäh sichtbar werdenden Massen. Und wie groß auch Würde und Macht der girondistischen Führerstimmen sein mochten, die in der bald schon zum Konvent gewordenen Nationalversammlung herrschten, sie konnten das dunkle wie aus der Erde selber kommende Grollen nicht übertönen, das in die Häuser und Herzen drang. Der Fürst Salm-Kyrburg war es, der ungeachtet seiner Revolutionsgläubigkeit Josephine bewog, ihre Kinder seiner Schwester anzuvertrauen, die sie so lange auf einem entfernten Landgute bei sich behalten wollte, bis sich Gelegenheit böte, sie nach England zu führen. Kaum hatte Alexandre davon Kenntnis, als er gebieterisch die Rückholung der Kinder forderte. Sein Bruder war emigriert und diente unter Condé in der Emigrantenarmee; das genügte! Eilig brachte er Eugène in dem neugeschaffenen Collège National unter; Hortense sollte bei der Mutter oder in Fontainebleau bleiben.

Unter den neuen Freundschaften Josephinens hatte die mit einer jungen kreolischen Witwe, Madame Hosten, ihre besondere Bedeutung; denn dieser recht kreolisch geselligen und lebenslustigen Frau dankte Josephine eine Reihe von Bekanntschaften, die um diese Zeit schon wichtiger waren als Fürstenfreundschaften, ja selbst Wohlgelittensein bei Hofe. Madame Hosten hatte in der Umgebung von Paris, in Croissy, ein Landhaus gemietet, in dem Josephine öfters zu Gast war. Hier begegnete sie außer etlichen Landsleuten und in der Gegend ansässigen Aristokraten (darunter die Familie Vergennes, deren Tochter hernach Madame de Rémusat hieß und viele Jahre Lebens in Josephinens Nähe in ihren Memoiren aufbewahrt hat) etlichen von den Männern, die gestern noch nicht vorhanden gewesen und heute von diesen Damen mit der Befriedigung über die eigene Zeitgemäßheit und etwas Neugier eingeladen wurden und von denen man sich noch zuflüsterte: »Der kann vielleicht nützlich sein.« Wie nützlich solche Männer würden sein können, ahnten diese Damen freilich nicht und vorläufig wohl auch die Männer selber noch nicht ganz, die noch Mühe hatten, das Zugelassensein in diesen Häusern nicht mehr als Ehre zu empfinden, und die hierherkamen, um die stets von fern umgierte Atmosphäre der jungen eleganten Aristokratinnen aus immer größerer Nähe zu genießen. Da war zum Beispiel dieser hübsche Mensch, von dem es hieß, er sei der Sohn eines Pförtners oder Dieners des Marquis de Bercy, sei erst ein kleiner Schreiber, dann Buchdruckergehilfe gewesen und habe sich nachher jahrelang ohne nachweislichen Beruf mit vielen üblen Frauenzimmern herumgetrieben; nun gab dieser Mann, er hieß Tallien, eine revolutionäre Zeitung heraus, galt als einer der kommenden Männer und saß des öfteren in dem Salon in Croissy, schwatzte mit den hübschen Frauen und hörte Josephinens Harfengeklimper zu (Harfe war jetzt zeitgemäßer als Gitarre). Er war durch Réal eingeführt worden, der gleich ihm die Revolution, die ihn aus dem Dunkel emporgehoben hatte, noch als kaum recht begonnen erachtete und früh schon die revolutionäre Rolle der Pariser Kommune, in der er beamtet war, vorausgesehen hatte.

So hatte Josephine nun Umgang genug, von der alten Art wie von der neuen, an der sie eigentlich bis jetzt von der Zeit, in der ihr Leben nun vor sich ging, am meisten merkte. Nach ihrer Rückkehr von Martinique hatte sie ja die Errungenschaften der ersten Revolutionsepoche schon als selbstverständlich geworden vorgefunden und ihre Anpassung an sie vollzogen. Alles in allem konnte sie sich über die neue Zeit nicht beklagen: die Unordnung in der neuen Ordnung verdroß sie nicht; sie sah dabei mehr von der früheren Gesellschaft als je zuvor; und mit der Schicht, die eben jetzt Verwalter und Nutznießer der höher oben begonnenen Revolution war, dem mittleren und unteren Bürgerstande, schien sich's ganz leidlich auskommen zu lassen. Josephine war nun in ihrem dreißigsten Jahre; und eben, da die große Entwertung und Zerstörung des Lebens in der Menschenwildnis rundum anhob, begann ihre Natur ihr schönstes Lebensblühen, als ob sie dieses Dasein mit aller Anmut zum Dableibendürfen bewehren wollte. Bisher hatte Josephine entweder als die ehemalige Vicomtesse oder als eine schutzlose Frau oder als die Gattin Alexandre Beauharnais' Nachsicht und Hilfe gefunden, hatte ihr Auskommen gehabt und einen Rückhalt bei den alten Leuten in Fontainebleau und bei Freunden wie den Salms und Madame Hosten. Aber die aus den Tiefen heraufgequollene Lava, wie langsam sie auch strömen möge, geht über Sicherungen und Rückhalte hinweg und bleibt in Bewegung, solange ihre Hitze sich gegen die Abkühlung behaupten kann. Als sich in der Bewegung von 1789 die ersten erstarrenden Gerinnsel zeigen wollten, die wie alte Erde aussahen, schoß der glühende Strom von 1792 über den träge gewordenen Gang hinweg.

Aber es geht hier darum, das über die Revolution Auszusagende sozusagen zu enthistorisieren und auf das einfachste Format zu bringen, auf das eines Mitlebenden, der zu solchen Weltereignissen kein anderes Verhältnis finden kann wie etwa zu einem ungeheuren Gewitter, in das er hineingeraten ist. Sieht man also die Revolution von Josephine aus (der keine politische Idee das menschlichste Grundgefühl, daß das Leben das höchste der Güter sei, trübte), so zeigt sich, daß man bis jetzt, sofern man nur einfach leben und es ein wenig gut haben wollte und das Geschehende gewähren ließ, noch ganz leidlich hatte zurechtkommen können. In diesem Jahre 1792 jedoch wurde alles ganz und gar anders. Vordem war es um den Staat und seine Ordnung, um Standesausgleichung und neues Recht für die zu Staatsbürgern gewordenen Untertanen gegangen. Nun aber Krieg Frankreich umdrohte und es zugleich mit der neuen Freiheit das Land zu verteidigen galt, brannte im alten Feuer des Krieges lodernder denn je zuvor die revolutionäre Flamme auf, griff nach allem Abgewelkten und züngelte in jeden verborgensten Winkel hinein. Und da die Revolution solcherart zur ganz und gar allgemeinen geworden und ihre Verteidigung alles Ziel wurde, ging es in ihr bald nicht mehr nur um den neuen Pakt im Staate, sondern vielmehr um Lebensformen, um Gesinnungsgeheimnisse der Herzen und endlich um die schlagenden Herzen selber.

*

Daß Alexandre Beauharnais' Name Josephinen auch in der nun immer gieriger fressenden Zerstörung aller Sicherungen noch für eine Weile Halt und Stütze sein konnte, hing mit ebendem zusammen, was früher der verhängnisvolle Irrtum seines Lebens genannt worden ist. Als er, bald des genuß- und gewinnreichen Daseins im schützenden Schatten der Provinz müde geworden, nach neuem Glanz und Ansehen zu gieren begann, trieb es ihn dahin, wovon auch die geringste Einsicht in seine eigenen Gaben und Kräfte wie in die so anders gewordene Zeit ihn hätten fernhalten müssen. Er meldete sich wieder zum Dienst in der Armee und wurde mit dem Range eines Oberstleutnants angenommen. Als er aber endlich seine Einteilung erhalten hatte, ließ er, wie einst sein Vater, Monate verstreichen, ehe er sich wirklich zur Armee begab. Und unterwegs bot noch das Vorhandensein selbst des winzigsten jakobinischen Zweigklubs, wo er Reden halten konnte, willkommenen Anlaß zur Reiseunterbrechung. Seine militärische Tätigkeit begann Alexandre als Augenzeuge einer Niederlage der Revolutionsarmee. Er verfaßte einen schwungvollen Bericht darüber. Andere Berichte, Artikel und Broschüren folgten, und mit deren Abfassung und mit Redenhalten vor jedem sich bietenden Auditorium füllte er die ersten Monate seines Kriegsdienstes völlig aus. Er hatte Glück dabei: der Heeresteil, zu dessen Stab er gehörte, nahm in dieser Zeit bedrohlicher Niederlagen der Revolutionsarmeen an entscheidenden Kampfhandlungen nicht teil. Aber Alexandres unaufhörlich an den Kriegsminister und die Nationalversammlung abgesandten Situationsberichte hielten seine verdienstvolle Existenz so sehr in Erinnerung, daß er schneller avancierte, als selbst bedeutende Kriegstaten es bewirkt hätten. So hatte er sich in wenigen Monaten zum General emporgeschrieben und -geredet, war dabei Präsident (den Titel mochte er nicht mehr missen) mehrerer jakobinischer Klubs geworden, hatte eine anmutige junge Geliebte gefunden und war zuinnerst überzeugt, die soldatischen Tugenden, die man ihm so willig aufs Wort glaubte, zu besitzen und zu üben. Und während mit den Ereignissen des Sommers 1792 jene andere Revolution anhob und die französischen Heere Niederlage auf Niederlage erlitten, blieb Alexandre in Straßburg und stieg vom Generalstabschef einer in Formation begriffenen Armee zum Befehlshaber einer Division und endlich zum Armeekommandanten, stieg ohne Kriegstaten empor in eine Sichtbarkeit, die um diese Zeit schon immer schwerer zu rechtfertigen war.

Daß Alexandre durch seine immer wieder im »Moniteur« und im Amtsblatte der Kommune abgedruckten Berichte und Proklamationen soviel und so gefährlich von sich reden machte, kam von diesem Spätsommer 1792 an Josephinen für eine Weile auf eine besondere Weise zugute. Seit die Insurrektion vom 10. August (der der 14. Juli des niederen Volkes genannt wird) das Königtum hinweggefegt hatte, waren alle Geschehnisse mit einem Male nicht mehr »Politik«, von der man wegsehen konnte, sondern rührten immer unheimlicher nahe an die Wirklichkeit jedes einzelnen. Das Blut der im September hingeschlachteten Massen von Priestern und Aristokraten (Alexandres Gönner Larochefoucauld und viele Bekannte Josephinens waren damals in den Massengräbern verschwunden) roch grauenvoll wirklich ins Weiterspielenwollen und kündete Zerstörung: Zerstörung, nicht weil man ein Feind war, sondern weil man war, was man war. Mein Gott, man konnte doch nicht anders werden?! Am Ende würde es noch zur Schuld werden, wie man aussah, wenn man sich auch noch so sehr »mit der Zeit zu gehen« bemühte? Nein, man konnte nicht anders, man hatte auch jetzt noch die – schon nur mehr heimlich getragenen – hübschen Kleider gern, man brauchte ein paar Blumen um sich, ein bißchen rührende Musik und einen Menschen, auf den sich jeweils das bißchen Anmutige des Lebens beziehen ließ. Aber wohin man kam, wurde von Toten gesprochen, von Verhafteten, und eisige Finger krallten sich um das Herz. Aus diesem Grauen wuchs das Mitleid, das Helfenwollen. Und solange Alexandres revolutionärer Ehrgeiz seine adelige Herkunft ebensosehr vergessen zu machen sich bemühte wie vordem die unadelige der Familie Beauharnais, so lange und sogar länger noch, als die Generalin Beauharnais die ehemalige Vicomtesse deckte, nützte Josephine ihre immer ausgebreiteteren Beziehungen zu den scheinbaren und wirklichen Machthabern des Augenblicks für gefährdete Freunde und Bekannte, ja selbst für ihr völlig Fremde. In den Denkwürdigkeiten eines ihrer Bekannten aus dieser Zeit ist zu lesen: »Die Leichtigkeit der Sitten der Madame de Beauharnais ... und ihre natürliche Güte zogen viele an ... und gaben ihr wenigstens für den Augenblick vermöge ihrer zahlreichen Beziehungen zu einflußreichen Leuten der Zeit die Möglichkeit, vielfach Dienste zu leisten.«

Fast zu eifrig, wie Alexandre seine Aufrufe und tatsachenlosen Berichte, schrieb nun Josephine Brief auf Brief, verbürgte sich für Verdächtige, flehte um Gnade und Gerechtigkeit für Eingekerkerte, empfahl Dienstsuchende und ließ gütig und ahnungslos auch dann noch nicht davon ab, selbst ihr persönlich unbekannte Revolutionsmänner im Vertrauen auf den Namen Beauharnais mit Bitten zu bestürmen, als um diesen Namen schon der letzte Schimmer zu schwinden begann, ja sie schrieb solche Briefe noch, als sie sich über deren Gefährlichkeit für sie selber kaum mehr Illusionen machen konnte.

Die Siege der Koalitionsarmeen erhielten die Drohungen in dem törichten und anmaßlichen Manifest des Herzogs von Braunschweig – das den Sturz des Königtums beschleunigt hatte – brennend in Frankreichs Gedächtnis. Ein paar Verrätereien im Heere waren nachgewiesen worden; das reichte hin, um die erste Niederlage selbst eines oftmals siegreichen Führers zum Verrat zu machen. Die im August 1792 ausgegebene Parole »Das Vaterland ist in Gefahr« wurde von Monat zu Monat böser wahr; und der gestaute Haß gegen die fortschreitenden konterrevolutionären Armeen begann gegen die erfolglosen Verteidiger der Revolution immer blinder zu wüten. Immer rascher folgten einander die Abberufungen und Verurteilungen von Generälen. Bald brauchte es der Niederlagen nicht mehr; nicht siegreich zu sein, war genug, ja weniger noch – der unselige Ire Ward erweist es, der revolutionsgläubig diente und sterben mußte, nur weil er nicht Franzose war. Alexandre Beauharnais jedoch saß derweil in Straßburg, schrieb, hielt Reden, liebelte, überlebte seinen tapferen früheren Kommandanten Luckner und vertraute noch immer blindlings der beredten Macht seiner Persönlichkeit, da selbst die gewaltige Redekunst großer Überzeugungen die Führer der Gironde nicht vor Guillotine oder Selbstmord bewahrt hatten und den düsteren Forderern rettender Taten, die auch Dantons nicht schonen würden, die Rhetorik sogar schon den Tatmenschen verdächtig zu machen begann. Das Schweigen war in Konvent und Kommune eine neue gefährlichste Macht geworden. Wäre Alexandre Beauharnais noch in Paris gewesen, so hätte er gewiß von Robespierre und Saint-Just eifrig gelernt, sich zu ihnen gehalten und – immerhin ein paar Tage länger gelebt. Aber bei all seiner empfindlichen Hellhörigkeit für das Zeitgemäße hatte er sich durch die Erfolge seiner Gesinnungsergüsse zur Meinung verführen lassen, auf dem allerbesten Wege zu sein. So ging er auf ihm weiter. Eine neue Auszeichnung erwartete ihn: er wurde zum Kriegsminister vorgeschlagen. Aber Alexandre erfuhr zugleich, daß Stimmen in der Kommune sich gegen die Betrauung eines ci-devant noble, eines Exaristokraten, mit solchem Amte erhoben hatten. Dieser erste Widerstand und die Erinnerung daran, wie häufig die Kriegsminister in letzter Zeit gewechselt hatten, benahmen ihm die Lust auf diesen Posten. In seinen Ablehnungsbriefen, in denen sich faustdicke Schmeicheleien an die Adresse der bluttriefenden Machthaber mit antikischen Phrasen von den Bürgertugenden prächtig vertrugen, heißt es, daß er die Ehre, das bedrohte Vaterland zu verteidigen, allen anderen Ehren vorziehe. Aber die Zeit für diese durch die offiziellen Zeitungen zur allgemeinen Kenntnis gebrachte Behauptung war denkbarst schlecht gewählt: Alexandre konnte alsbald nicht mehr umhin, sich selbst beim Wort zu nehmen. Ein Bollwerk der Revolution auf dem rechten Rheinufer, Mainz, war belagert und forderte dringlichst Entsatz, wie einst Guadeloupe von Alexandres Vater Entsatz gefordert hatte. Und wie dieser auf Martinique, zögerte der Sohn in Straßburg, seiner starken und geschonten Armee den Marschbefehl zu erteilen und sie zu den Taten zu führen, die er angekündigt hatte. Endlich brach er doch auf, aber statt seine 60 000 Mann nun in Eilmärschen gegen den nahen Feind zu führen, ließ er wieder lagern und wartete – worauf? Auf die Moselarmee, heißt es: er bedurfte ihrer nicht, oder er hätte versuchen müssen, sich über die Vogesen hinweg mit ihr zu vereinigen. Er wartete eine Woche, noch eine, es gab ein paar Vorpostengefechte mit viel Berichten darüber nach Paris, das war alles. Dann kapitulierte Mainz vor der Übermacht – und Alexandre schmähte in neuen Sendschreiben die Verteidiger, deren Niederlage er mit seinen 60 000 Mann hätte abwenden können, und zog sich zurück. Was ging in ihm vor? Er wußte, daß Valenciennes von den Österreichern genommen worden sei, mußte schon wissen, daß Toulon den Engländern, die über die französischen Häfen die Blockade verhängt hatten, in die Hände gespielt worden sei, daß eine sardinische Armee in Frankreich einmarschiert sei und daß der Aufstand von der Vendee und dem Calvados, von Lyon und Marseille aus auf immer mehr Departements übergriff? Dieses Wissen um die höchste Gefahr der jungen Republik hätte ihn eine Tat wenigstens versuchen lassen müssen, zumal er, seit auch Custine unter Anklage gestellt worden war, nicht darüber im Zweifel sein konnte, daß solch tatenloses Versagen nun anders betrachtet werden würde als zur Zeit seines Vaters. Oder meinte er am Ende, er habe gar nicht versagt? Hatte seine Überzeugung, daß recht sei, was immer er tue, auch für dieses erbärmliche Feldherrndebüt schon eine seiner würdige Deutung gefunden? Es hat den Anschein; denn sein nächster Schritt war der eines Mannes, der sich zutiefst gekränkt fühlt: er reichte seine Demission ein. Sie wird zurückgewiesen, denn noch überblicken die Abgesandten des Konvents die Situation nicht ganz, noch haben sie Vertrauen in den Patriotismus Beauharnais'. Aber Alexandre insistiert auf eine kindische und schaurige Weise, auf seine Zugehörigkeit zu einer nunmehr verfemten Kaste hinweisend, die ihm bisher noch keiner vorgeworfen hatte. Man mahnt ihn nachsichtig und noch immer vertrauensvoll. Er verstockt sich. Endlich meldet er sich krank und gibt dann das Kommando an einen Untergebenen ab, und dies angesichts der heranrückenden Koalitionstruppen. Nun wird seine Demission angenommen: seinen letzten Rückzugsbefehl annullieren die Volksbeauftragten.

Und nun? So klar lag keiner der Fälle der verhafteten und zum Teil schon hingerichteten Generäle vor der schnellen Justiz der Zeit wie der Alexandre Beauharnais'. Dennoch wurde er nicht verhaftet, ja nicht einmal an seine Beteuerung erinnert, so gerne als einfacher Soldat unter den Fahnen der Revolution kämpfen zu wollen, – er wurde einfach entlassen und kehrte auf seine Güter zurück. Und hier begann er mit erneutem Eifer die in letzter Zeit durch einige militärische Pflichten ein wenig beeinträchtigt gewesene Betätigung seiner Rednergabe. Wo auch nur der kleinste politische Klub sich gebildet hatte, erschien Alexandre, schmetterte revolutionäre Arien, wurde Mitglied, da und dort sogar Präsident, übertönte die radikalsten Redner, rühmte sich, früher als die meisten den Tod des (nun schon seit einem Jahre hingerichteten) Königs verlangt zu haben, und vergaß darob beinahe, daß er kurz zuvor der Oberbefehlshaber der Rheinarmee gewesen war. Aber andere vergaßen es nicht.

Trotz der Verdächtigengesetze (lois des suspects), die die Gefängnisse überfüllten und täglich die Zahl der zur Todesmaschine fahrenden Karren vermehrten, fühlte sich Alexandre hier in seiner Provinz ganz sicher. Er hatte seinen Jakobinismus vielfach schwarz auf weiß bestätigt, war sogar zum Maire der seinem Gute benachbarten Gemeinde ernannt worden und hatte hier einen besonders radikalen politischen Klub gegründet, den er zur Abgabe eines Quantums Rhetorik stets zur Hand hatte und dessen Beifall ihm die Tage würzte, in denen er nach seinen Worten »seinen Kopf für das Heil der Republik ermüdete und sein Herz sich in Bemühungen und Wünschen für das Glück seiner Mitbürger erschöpfte«. Er war entschieden zu lange von Paris fortgeblieben. Er kannte den Mechanismus des Webstuhls nicht mehr, der jetzt Geschicke wob. Seiner Berichterstatter wurden immer weniger, und es waren die rechten nicht mehr darunter. Wunderlicherweise kamen ihm die besten Nachrichten nun von Josephine, die im Grauen vor dem um sie Geschehenden den Sinn von Männergesprächen verstehen zu lernen begann – und die jetzt viele solcher Gespräche mit anhörte. Das allerdings hatte sie nicht vorauszumelden gewußt, was an einem Märztage in den blutrednerischen Provinzfrieden Alexandres einbrach: das Erscheinen des Abgesandten des Wohlfahrtsausschusses, der den vormaligen Oberkommandierenden der Rheinarmee zu verhaften und nach Paris zu führen hatte.

Was Verhaftung hieß, wußte Josephine aus den täglich sich mehrenden Erfahrungen rundum besser als Alexandre selber, der zwar oft genug zu Verhaftungen aufgerufen, aber nicht mit angesehen hatte, wie sich der Weg von der Festnahme zum Tode immer mehr verkürzte, und der auch jetzt noch im Innersten sich in seiner Unersetzlichkeit gesichert glaubte. Josephinens Entsetzen über die Nachricht von Alexandres Einbringung in das Luxembourggefängnis und ihre verzweifelten, aller eigenen Gefährdung vergessenden Bemühungen für ihn werden von den Autoren, die keine Mühe scheuen, gerade Josephine zu einem Vorbild für junge Mädchen machen zu wollen, als Argument angeführt, daß sie all die Jahre doch nur ihn geliebt und auf ihn gewartet habe. Nun, Josephine hatte sich schon für so viele andere eifrig eingesetzt, wie hätte sie zögern sollen, da es um den Vater ihrer Kinder ging und um Tod und Leben des Menschen, der sie zur Frau gemacht hatte? Bleibt nicht, wenn längst Liebe, ja jede Zuneigung aufgebraucht ist, in vielen Frauenleben dieses bluthaft-sympathetische Band zum ersten Manne weiterbestehen, da doch sogar die durch ihn verwandelte Substanz des Leibes die Erinnerung an ihn nach Jahren noch in die von einem anderen Manne gezeugte Frucht mitformen kann?

Josephine erschöpfte sich in Bittgängen und flehenden Briefen für Alexandre. Aber wohin sie kam, hörte sie von neuen Verhaftungen; die Zeit hatte begonnen, da der Ausspruch geprägt wurde, daß die gute Gesellschaft jetzt nur noch in Gefängnissen sich vereine. Mitleid und Grauen erfüllte Josephine; aber mutig aus Lebensüberschuß und weil sie das Drohende gar nicht auf sich selber bezog, kämpfte sie gegen das Aussichtslose auch noch, als Alexandre schon in das Carmes-Gefängnis gebracht worden war, dessen bloßer Name vom September 1792 her Schaudern erweckte.


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