Sir John Retcliffe
Nena Sahib
Sir John Retcliffe

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Das Reich der Ostindischen Kompagnie.

Niemals noch hat eine Anomalie in der staatlichen Gesellschaft bestanden gleich dem Reich der Englisch-Ostindischen Kompagnie. Hundertundzweiundsiebig Millionen Menschen – die achtunddreißig Millionen der sogenannten Schutzstaaten mitgerechnet, deren Selbständigkeit längst eine bloße Phrase ist! – auf einem Gebiet von zirka 63 000 (deutschen) Quadratmeilen – also zwei Dritteil der ganzen Bevölkerung Europas und über zwei Fünftel seines Flächeninhalts! oder fast das Siebenfache der Bevölkerung und das Fünfzehnfache des Flächeninhalts des europäischen Großbritanniens! – das Eigentum einer Gesellschaft englischer Kaufleute, die erst in neuerer Zeit etwas mehr von der Regierung des Mutterlandes und seiner Verwaltung abhängig geworden sind! – Eigentum einer kaufmännischen Spekulation, deren Grundtendenz doch nur die möglichst hohe Dividende – also die Ausbeutung ist! – preisgegeben einer Schar Besitzloser und Habsüchtiger, die das Mutterland alljährlich dahin sendet, um sich unter der Firma eines Beamtentums zu mästen, dessen Willkür fast jeder Kontrolle, jeder Strafe entbehrt! – mit Steuern zivilisiert von seinen alten Traditionen, seinen Sitten und seinem Glauben! – unterdrückt und beherrscht mit den Bajonetten der eigenen Söhne! – orientalisches Leben und Denken, geknechtet nach englischen Gesetzen: – das ist Indien!

Und dennoch – so sehr sich das Rechts- und Unabhängigkeitsgefühl der Völker gegen das Verhältnis, diesen unnatürlichen Zustand empört – muß man die Großartigkeit dieser Erscheinung bewundern, die einzig in der Weltgeschichte dasteht! Nicht einmal das römische Weltreich läßt sich damit vergleichen; denn dieses brauchte zu seiner Begründung dreihundert Jahre, während das an Bevölkerung ihm überlegene angloindische Reich in weniger als hundert Jahren zu dieser riesigen Ausdehnung wuchs.

Mit Neid und Mißgunst hatte der emporblühende Handel Englands längst die Besitzungen anderer seefahrender Nationen in Indien betrachtet.

Ums Jahr 1600 hatte die Königin Elisabeth einer Gesellschaft Londoner Kaufleute ein Privilegium zum Alleinhandel nach allen Ländern zwischen dem Kap der guten Hoffnung und der Magelhaensstraße, anfangs für 15 Jahre, erteilt. Das war der Ursprung der Englisch-Ostindischen Kompagnie. Die englische Regierung, bald die Bedeutung der neuen Kolonie einsehend, erweiterte die Privilegien der Gesellschaft und gab ihr das Recht des Krieges und Friedens, der Gerichtsbarkeit usw., und bald lauerte diese nur auf die Gelegenheit, ihre Macht zu erweitern. Entgegen dem Vertrag mit dem Nabob von Bengalen, hatte sie 1696 in Kalkutta ein befestigtes Fort und 1707 dort eine eigene Präsidentschaft errichtet.

Dupleix, der scharfsinnige und weise Gouverneur der französischen Kolonien, begriff die wachsende Gefahr, und er und Bourdonnaie verfolgten anfangs mit ebenso großer Beharrlichkeit als Glück den Plan zur Vertreibung der Engländer im Krieg von 1745 bis 1747. Aber die erschlaffende Regierung des fünfzehnten Ludwigs, der sinkende Geist der Bourbonen, ließ ihre tapferen Verteidiger in Indien ohne jegliche Unterstützung und berief Dupleix ab.

In dem Kriege von 1755 bis 1763 zwischen Frankreich und England verlor das erstere überdies alle seine indischen Besitzungen, welche die Kompagnie an sich riß.

Es wird genügen, in flüchtigem Umriß die Zahl der britischen Erwerbungen in der kurzen Zeit anzuführen, ohne die Geschichte von Treulosigkeit, Erpressung, Intrigue und Gewalttat herzuzählen, durch welche hauptsächlich diese Erwerbungen gemacht wurden.

Von 1757 schreibt sich der erste Territorialbesitz der Kompagnie her.

1766 besaßen sie bereits Bengalen, Bahar, das nördliche Circars (an der Küste von Koromandel), Madras und Bombay mit einem kleinen Stadtgebiet.

1805 schon das ganze Duab mit Delhi, das Karnatic, Canara und Malabar, Suhrate und einen Teil der Mahrattenländer. 1818 den Rest der westlichen Mahrattenstaaten, Punah, die ganze Küste von Malabar, Benar, einen Teil des Sikhstaates und Ceylon.

1838 Gondwana, Singapore, Malakka, Assam, Arrakon und andere mächtige Gebiete in Hinterindien.

1848 das Sindh – das südliche Pendjab – und Satara.

1856 das ganze Pendjab, Audh, Karnal, Gondh, Pegu und Kadschar.

Die unter sogenanntem »britischen Schutz« stehenden Staaten (Gwalior, Indur, Heiderabad, Mensur, Kotschin, Trawankor, Baroda und Katsch) müssen stehende britische Armeen und britische Residenten im Lande unterhalten!

Der portugiesische Besitz beschränkt sich auf 52, der französische auf 9 Quadratmeilen!

Das Direktorium der Ostindischen Kompagnie in London bestand bis 1854 aus dreißig Mitgliedern, von denen jährlich sechs ausschieden und von den Aktionären neu erwählt wurden. Seine Beschlüsse mußten die Genehmigung des Board of Controll, des von der Regierung eingesetzten Ministeriums für die ostindischen Angelegenheiten haben. Zu geheimen Beschlüssen über Krieg traten die ersten drei Mitglieder des Direktoriums mit dem Ministerium zusammen.

Bei der Erteilung des neuen Privilegiums an die Kompagnie auf unbestimmte Zeit im Jahre 1854 ward nach langen Parlamentsdebatten dieses System nur dahin geändert, daß die Zahl der Direktoren auf achtzehn ermäßigt wurde, von denen sechs die Regierung ernennt, und daß die Krone das Recht der Ernennung der Mitglieder des Regierungskonseils in Indien erhielt, die dem Direktorenhof verantwortlich blieben.

Die Armee in Ostindien besteht aus 264000 Mann, von denen 36000 Mann, inkl. der Offiziere, europäische Truppen sind und von der Krone gestellt, aber von der Kompagnie unterhalten werden. Der Unterhalt dieser Armee beträgt ca. acht Millionen und fünfhunderttausend Pfund Sterling, also fast sechzig Millionen Taler, pro Kopf also durchschnittlich zweihundertundvierzig Taler.

Die Finanzen der Kompagnie sind an und für sich nicht sehr glänzend und sogar schuldenbelastet. Die Reineinnahmen der fünf Präsidentschaften betrugen vor der Empörung einhundertundsiebenundvierzig Millionen und dreimalhundertachtzigtausend Taler jährlich, die Ausgaben einhundertvierundfünfzig Millionen und einmalhundertvierunddreißigtausend Taler, und die indische Staatsschuld im Jahre 1856: Vierhundertundvierzehn Millionen Taler, also den zwölften Teil der riesigen englischen Staatsschuld.

Auf die offiziellen Einnahmen kommt es aber im Durchschnitt wenig an, sie dienen nur zur Mästung der Beamten und Zahlung der kolossalen Pensionen. Der riesige Vorteil, den Indien England gewährt, ergibt sich für den Kaufmannsstand selbst aus dem Handel und dem Landbesitz.

Wir haben, ehe wir unsere Erzählung wieder aufnehmen – noch einige Worte den neueren Vorgängen, den neueren Ungerechtigkeiten und tyrannischen Ländererwerbungen der Kompagnie zu widmen.

Im Sindh, dem Land am Ausfluß des Indus, herrschten vier Emirs, Brüder und Vettern aus dem Stamme der Kolburas, so lange ziemlich unbelästigt, bis die britischen Kaufleute es in ihrem Interesse fanden, Handelsspekulationen nach Zentralasien auf dem Indus zu machen. Ein Vertrag mit den Emirs gestattete ihnen, den Indus mit unbewaffneten Schiffen zu befahren unter der Bedingung, keine Militärvorräte durch das Land zu führen.

Nach kurzer Zeit jedoch wußten die Briten unter dem Vorwande eines Zwistes mit Rundschit schon einen englischen Residenten mit bewaffneter Eskorte in das Land der Emirs einzuschmuggeln, und kurz darauf trat, infolge des Vertrages von Kabul, die Kompagnie mit der perfiden Erfindung auf, daß die Fürsten an Schah Schudschah von Kabul tributpflichtig gewesen und dieser ihr seine Anrechte abgetreten habe. Vergebens wiesen die Emirs nach, daß sie nie Tribut gezahlt, ja, daß der Schah durch Dokumente längst auf diesen verzichtet habe: der General-Gouverneur Lord Aukland erklärte sich nicht verpflichtet, »diesen Einwand förmlich zu prüfen«, und verlangte, allen Verträgen zuwider, die Aufnahme eines englischen Korps. Die britische Armee rückte ein und zwang die bisher unabhängigen Fürsten zu einem schimpflichen Vertrage und zur Annahme einer englischen Regentschaft.

Endlich, als man die Emirs zwang, ihre eigene Absetzung zu unterzeichnen, griffen die tapferen Beludschen zu den Waffen und verjagten den englischen Residenten, Sir Charles Napier. Aber bald kehrten die Briten mit verstärkter Macht zurück, und das ganze Sindh wurde erobert und zur Provinz der Kompagnie gemacht.

Der letzte Akt britischer habsüchtiger Tyrannei vor dem Ausbruch der Revolution war die Einverleibung des Königreichs Audh am Anfang des Jahres (1856), in dem wir mit dem zweiten Teil unseres Buches unsere Erzählung wieder aufgenommen haben.

Audh gehörte seit 1801 zu den sogenannten Schutzstaaten, und die Kompagnie hatte sich verpflichtet, gegen Abtretung eines Teils des Gebietes von Audh, anstatt des bisher bezahlten Tributs, die Herrschaft des Königs gegen innere und äußere Feinde aufrecht zu erhalten, ohne sich in die Regierung zu mengen.

Die habsüchtige Verwaltung eines neuen Ministers des letzten, den Vergnügungen des Serails allzusehr ergebenen Königs Mahomed Wadschid Ali Schah (1849), gab der Kompagnie Veranlassung, sich einzumischen. Die Residenten sandten Bericht auf Bericht, um die »Einverleibung« herbeizuführen, und 1854 zwang Oberst Outram bereits dem König einen Vertrag auf, durch welchen die gesamte innere und äußere Verwaltung seines Gebietes, mit Ausnahme der Gerichtsbarkeit im Bereich des königlichen Parts, an die Engländer abgetreten wurde, wofür die Kompagnie ihm und seinen Erben den Königstitel und eine Pension zu lassen versprach.

Als jedoch der König sich später weigerte, den Vertrag zu unterzeichnen und erklärte, in England selbst Gerechtigkeit suchen zu wollen, erschien am 7. Februar 1856 eine Proklamation, welche die Einverleibung Audhs – eines Gebietes von 940 geographischen Quadratmeilen mit 3 Millionen Einwohnern und einem Einnahme- Überschuß von mehr als siebzehn Millionen Talern – verkündete. Englische Truppen besetzten Lucknow (Lacknau), die Hauptstadt des Landes; der entthronte König wurde nach Kalkutta gebracht.

Wir haben nur noch eines Verhältnisses zu gedenken, das ebenso demoralisierend als schädlich auf die Bevölkerung Indiens wirkte.

Es war die Einführung des Permanent settlement – das heißt, die Beraubung des ganzen Volkes um sein Grundeigentum, um es den Zemindars zu geben.

Um dies zu verstehen, müssen wir einige Worte der früheren Einrichtung unter den Sultanen und Radschahs widmen, wie sie noch in den unabhängigen Gebieten besteht.

Das Land gehörte unter den Oberbesitz des Großmoguls, seinen Bebauern, den Ryots, unseren europäischen Bauern oder Landleuten gleich, erb- und eigentümlich. Von diesen wurden die durch die Regierung aufgelegten, mehr oder minder großen Steuern durch die Zemindars eingezogen, die dafür eine Provision von zehn Prozent zurückbehielten.

Die Zemindars oder großen Grundbesitzer waren also keineswegs die einzigen Landbesitzer, sondern bloß die erblichen Besitzer des Rechtes, für den Landesherrn die Steuern in ihrem Distrikt einzuziehen.

So lange der Ryot seine bestimmte Steuer von seinem Lande zahlte, war er dessen Besitzer, und kein Zemindar konnte ihn davon vertreiben.

Die Engländer verwechselten dies Verhältnis mit der Einrichtung der englischen landlords und ihrer Pächter. Schon Ende des vorigen Jahrhunderts hob Lord Cornwallis, der damalige Gouverneur, dies Eigentumsrecht des Landmannes auf sein Feld auf, und erkannte nur die großen Grundbesitzer mit einer Menge kleiner Pächter an, die sie willkürlich neben der Steuerzahlung für die Regierung bis aufs nackte Leben im eignen Interesse auspressen und beliebig vom Lande verjagen können.

Das war die englische Gerechtigkeit: Reiche und Arme!

Dennoch war es nur ein geringer Teil dieser Zemindars, der beim Ausbruch des allgemeinen Kampfes auf der Seite seiner Bereicherer blieb. Die Anhänger, die sich die Kompagnie damit geschaffen zu haben glaubte, fielen ab in der Stunde der Gefahr. Nationalhaß, Religion, Vaterlandsliebe waren selbst stärker als das Interesse.

Die nachfolgenden Szenen werden das Leben des Ryots, des Zemindars, des Kriegers wie des Fürsten zeigen und uns in die Hütte des Beherrschten, wie in den goldenen Palast des Regenten führen.


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