Sir John Retcliffe
Nena Sahib
Sir John Retcliffe

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Der zweite Dezember.

Der große Empfang im Palais Elysée war vorüber, die Equipagen der Minister, der Deputierten und der Aristokratie der Armee und der Börse rollten durch die Avenues davon.

Paris schwebte am Vorabend großer Ereignisse, vielleicht einer neuen Staatsumwälzung, die Nationalversammlung hatte soeben den Paragraphen des Verantwortlichkeitgesetzes gegen den Prinz- Präsidenten geschleudert, der die Provokation seiner Wiedererwählung für einen Grund zur Anklage auf Hochverrat gegen die Republik erklärte.

Dennoch war der Napoleonide, auf den sich jetzt die Augen von ganz Europa zu richten begannen, noch nie so heiter, so sorglos, so liebenswürdig erschienen, als gerade an diesem Tage.

An diesem Abend war eine spanische Dame, Eugenie Marie von Guzmann, Gräfin von Téba, nebst ihrer Mutter durch den spanischen Gesandten im Elysée vorgestellt worden, und Louis Napoleon hatte sich lange mit ihr unterhalten.

Die Ernennung des Generals Lawöstine, eines enragierten alten Bonapartisten, zum Chef der Nationalgarde von Paris war das einzige, was der Prinzregent allen den gegen ihn offen und versteckt gerichteten Intriguen erwidert hatte.

Die letzten Wagen hatten eben den Hof des Elysée verlassen, als zwei Männer von der Avenue Marigny her ihn betraten.

Die Wachen am Tor vertraten ihnen den Weg.

»Le mot, Messieurs, s'il vous plait!«

»L'empereur et Austerlitz!«

»Passez!«

Der nächste Tag war der sechsundvierzigste Jahrestag der Schlacht von Austerlitz.

Der eine der beiden Männer schien im Palast bekannt, denn er führte seinen Begleiter sogleich über mehrere Treppen und Korridore des linken Flügels nach einem großen Vorzimmer.

Auffallenderweise waren sie auf dem ganzen Weg keinem einzigen Mitglieds der zahlreichen Dienerschaft des Palastes begegnet, überall nur Posten von den Lanziers, dieser Lieblingstruppe des Prinzen.

»Legen Sie ab, meine Herren,« ersuchte einer der Offiziere, »und haben Sie die Güte, mir Ihre Namen und Ihre Karten zu geben.«

»Kommandant Dugonier und Kapitän Grimaldi.« Er reichte dem Adjutanten zwei rote, mit der Namensunterschrift des Generals Saint Arnaud versehene Karten.

»Treten Sie ein, meine Herren!«

Es waren in der Tat die beiden dem Leser bereits bekannten Personen, die jetzt in einen ziemlich großen Salon eintraten, der verfolgte Flüchtling von Korfu, der Feind Englands, den wir unter dem Feuer der österreichischen Husaren in den Wellen der Adria, am Felsenufer von Grottamare versinken sahen, und der Offizier der französischen Expeditionstruppen, der ihn zu retten versucht.

Der Ionier war bleich und hager, die Spuren eines schweren Wundlagers waren auf seinem Angesicht, über sein ganzes Wesen eine finstere, energische Ruhe verbreitet.

Eine leise Berührung seines Armes weckte ihn aus der Betrachtung der Szene und er wandte sich um. Neben ihm stand ein mittelgroßer Herr von etwa vierzig Jahren, in überaus sorgfältiger, stutzerhafter Toilette.

»Sind Sie der griechische Offizier, mein Herr?« fragte er mit lispelnder Stimme, den Angeredeten geziert durch das Lorgnon betrachtend, »der in Italien unter Gemeau in unsere Dienste trat?«

»Ich bin der Kapitän Markos Grimaldi, Herr,« entgegnete der Korfuaner, »patentiert in der Fremdenlegion von Algerien, obschon ich durch die Folgen meiner Wunden noch bis jetzt verhindert war, in aktiven Dienst zu treten!«

»Ganz recht! – Da ist ja auch der Kommandant Dugonier! Meine Herren, haben Sie die Güte, mir zu folgen.«

Sie waren hinter dem Minister in das Kabinett getreten, in dem sich der Prinz-Präsident, Persigny und Carlier, der frühere Polizeipräfekt, befanden, der die Präfektur aufgegeben hatte, um bei dem Staatsstreich desto ausgedehnter hinter den Kulissen wirken zu können. Soeben war der Exkönig Jerome Bonaparte, der Gouverneur der Invaliden, eingetreten, an den der Prinz-Präsident wahrend der Soiree, nachdem er sich eben sehr galant mit Madame Tourgot unterhalten, die lakonischen Worte geschrieben hatte: »Mon oncle, ce matin je frapperai un grand coup; je compte sur vous.«

Der ebenso kurzen Antwort: »Mon neveu, dans une heure je serai auprès de vous; je vous suivrai partout!« war der Älteste der Familie Bonaparte auf dem Fuß gefolgt.

Der Prinz stand eben in eifriger Unterredung mit dem Greis, als die beiden Offiziere eintraten. »Ich weiß auf das bestimmteste,« sagte er heftig, »daß der Schlag von dem Revolutionskomitee in London organisiert ist, und daß man in England mit offenen Augen die Vorbereitungen duldet. Der Tag der Wahl war zum Losschlagen aller geheimen Klubs bestimmt, man hat durch ganz Frankreich die Personen enrolliert, die als die ersten Opfer fallen sollen, ja selbst die Häuser mit geheimen Zeichen versehen, wo der Mord sein blutiges Wert üben soll. Was ich tue, ist nicht bloß Selbstwehr, sondern Pflicht gegen Frankreich, gegen jeden seiner Bürger und Eure Majestät werden darin mir vollkommen beistimmen.«

»Mon neveu,« sagte der alte Mann, »Sie wissen, wie glücklich ich darüber bin, daß Sie die Traditionen unserer Familie wieder aufgerichtet haben. Was Sie mir da von der Verschwörung erzählen, wird sich im Moniteur recht hübsch ausnehmen und den Bourgeois verblüffen; auch wird hoffentlich eine kleine Emeute der Roten an einem der nächsten Tage nicht ausbleiben und das Militär seine Revanche für den Februar nehmen können, indes rate ich Ihnen doch, nicht bloß auf das Stimmrecht der Armee sich zu verlassen, sondern Ihrem Enthusiasmus möglichst bald eine andere Gelegenheit zu geben. Der Kaiserthron –«

Graf Morny unterbrach die Explikationen. »Monseigneur, hier find die beiden Offiziere.«

Der Prinz-Präsident wandte sich rasch um und biß sich in die Lippen. Sein Gesicht trug den Charakter selbstbewußter Entschlossenheit, und er ließ das kalte, feste Auge einige Augenblicke auf dem Griechen ruhen, der in soldatischer Haltung dem Blick ehrerbietig aber ruhig begegnete.

»Sie sind Kapitän Grimaldi – aus der venetianischen Nobile- Familie Grimaldi?«

»Ja, Monseigneur!«

»Sie wurden von den Österreichern und Engländern, wie ich gehört habe, scharf verfolgt, als Sie in französische Dienste traten?«

»Bis an das Wellengrab, das ich gewählt, Monseigneur, und dem mich Franzosen entrissen.«

»So hassen Sie also die Engländer?«

»Ein Mann, Sire, ändert weder seinen Haß, noch seine Liebe. Seit der Vertrag von 1815 mein Vaterland an die Engländer übergab, ist es von diesen geknechtet worden.«

Der Prinz-Präsident überging mit einem halben Lächeln die Anrede, die der Kapitän im Eifer angewendet.

»Korfu und Frankreich verbinden allerdings glorreiche Erinnerungen,« sagte er. »Sie sind mir von vielen Seiten als ein ebenso tapferer als entschlossener Soldat gerühmt worden. Liegt Ihnen Europa sehr am Herzen?«

»Monseigneur, ich bin für die afrikanische Armee patentiert und, wenn ich aufrichtig sein soll, machte es mir nicht die Dankbarkeit zur Pflicht, in Ihre Armee einzutreten, so war mein Wunsch und meine Absicht, Europa zu verlassen und nach Amerika zu gehen.«

»Nun, so gehen Sie noch etwas weiter – gehen Sie nach Indien. Ich wünsche Sie für die Ausführung einer Aufgabe in Indien zu gewinnen, wohin auch Herr Dugonier bestimmt ist.«

»Nach Indien?« – Die Farbe wechselte auf dem bleichen Gesicht des Kapitäns – der Gedanke an Adelaide, an die wunderbare Fügung des Schicksals durchzuckte seine Seele.

»Ich kann Ihnen leider keine lange Bedenkzeit gestatten,« fuhr der Prinz fort, »denn Ihr Entschluß muß alsbald gefaßt werden. Ich will Ihnen deshalb aufrichtig sagen, zu welchem Unternehmen ich Sie beide ausersehen habe. Sie kennen die Ereignisse, die morgen Paris, wahrscheinlich ganz Europa in Bewegung setzen werden – und ich will Ihnen keineswegs verhehlen, daß ich wahrscheinlich gezwungen werde, nicht bei den ergriffenen Maßregeln stehen zu bleiben, sondern die Ruhe Frankreichs ein für allemal zu sichern. Mein Recht auf Frankreich ist legitim durch das Opfer auf Helena, so gut wie das der Bourbons oder Orleans, und ich habe außerdem den Willen des Volkes für mich. Aber ich weiß nicht, wie sich England, das vorläufig den Ausschlag in Europa gibt, der neuen Wendung der Dinge gegenüber verhalten wird, und ich muß es in meiner Macht haben, seinen bösen Willen zu paralisieren und seine Neutralität zu erzwingen. Englands verwundbarste Seite sind seine Kolonien, namentlich Indien – seine Macht steht dort auf tönernen Füßen, und über kurz oder lang wird es da zum Ausbruch kommen. Es sind Frankreich von verschiedenen indischen Fürsten Bündnisse angetragen. Mit einem Wort – der Frieden in Indien muß für die nächsten fünf Jahre in meiner Hand sein – später mag dann geschehen, was da will, Frankreichs Macht wird in Europa so befestigt sein, daß England meiner bedarf, nicht ich des Londoner Kabinetts. Dieses Memoire, dem die Anerbietungen und Korrespondenzen verschiedener indischer Großen beiliegen, gibt über die Verhältnisse und die notwendigen Maßregeln genügende Auskunft. Herr Dugonier ist bestimmt, mit Ihnen zu wirken; er ist es, mein Herr, der Sie mir zu seinem Gefährten vorgeschlagen. Ich biete Ihnen Majorsrang in der französischen Armee und nach fünf Jahren, wenn Ihre Mission glücklich beendet ist, ein Regiment oder eine entsprechende Stelle in der diplomatischen Karriere. Aber ich muß sofort Ihre Entscheidung haben, denn nehmen Sie es an, so verlassen Sie das Elysée nur, um den Reisewagen zu besteigen.«

Das Gesicht des Korfuaners glühte – Indien – ja, das war das längst geträumte Feld, wo er den Gang wagen konnte mit dem allmächtigen Gegner, wo er die Unterdrückung seines Vaterlandes rächen konnte – die Fuge in dem Harnisch des Feindes!

»Sire – dem Scheidenden ist es erlaubt, der Zukunft vorzugreifen! – ich nehme Ihre Gnade an und gelobe Ihnen mit meinem Manneswort Treue und Ergebenheit!«

»So sind wir einig. Ich liebe Männer, die, wie Sie, mutig gegen das Schicksal ankämpfen, und daher kommt mein Vertrauen zu Ihnen. Meine Zeit ist gemessen, deshalb muß ich mich kurz fassen. Ich kann Ihnen für die Ordnung Ihrer Angelegenheiten in Paris keine Zeit geben. Sie werden sich aus diesem Kabinett, ohne in Ihre Wohnung zurückzuziehen, nach den Champs-Elysées begeben. Vor dem Eingang des Panorama finden Sie einen bespannten Reisewagen, dessen Gepäck die nötigen Reiseeffekten enthält. Sie werden den Schlag öffnen und der Person, die im Innern des Wagens sitzt, das Wort ›Pondichery‹ sagen. Antwortet sie Ihnen ›Rochelle‹, so steigen Sie ohne weiteres ein. – So lautet ja wohl Ihr Arrangement, Carlier?«

»Genau, Monseigneur!«

»Der Wagen wird Sie durch die Barriere d'Enfer auf der Straße nach Orleans bis Etampes bringen; von dort benutzen Sie die Eisenbahn bis Poitiers und begeben sich von da ohne Aufenthalt mit Extrapost nach La Rochelle. Im Hafen liegt der Fregatt-Schoner ›Isabelle‹, Kapitän Girepont, segelfertig zur Abfahrt nach Indien. Sie übergeben dem Kapitän diese Pässe, und das Schiff wird sofort die Anker lichten. Das Schiff ist ein Handelsschiff, Sie erscheinen einfach als Passagier desselben, die nach Indien gehen, um dort Ihr Glück zu machen, wie so viele französische Abenteurer, und Sie führen natürlich beide einen anderen Namen. Die Person, die Sie in dem Wagen finden, macht die Reise mit Ihnen nach Indien, Herr Carlier hat sie selbst ausgewählt und instruiert, und in ihren Händen befinden sich die ausführlichsten Instruktionen. In diesem Portefeuille finden Sie Wechsel auf Kalkutta und Madras im Betrag von hunderttausend Franken, und dieses Kästchen enthält tausend Napoleonsdor in Gold. Nehmen Sie und erfüllen Sie Ihre Aufgabe mit Treue und Tätigkeit. Es ist jetzt ein Uhr zehn Minuten früh, in zehn Minuten müssen Sie unterwegs sein.«

Er machte eine entlassende Bewegung, der Polizeipräfekt jedoch hielt die Offiziere noch auf.

»Monseigneur haben den Herren noch nicht gesagt, daß sie auf Isle de la Reunion Station machen werden, um Aufträge in Pieter Mauritzburg, der Hauptstadt der ausgewanderten holländischen Kolonisten, auszuführen.«

»Die Instruktionen enthalten alles, überdies weiß die Person Bescheid. Adieu, meine Herren!«

Die Offiziere verbeugten sich schweigend und verließen, von Morny geleitet, das Kabinett durch einen zweiten Ausgang. Der Graf begleitete sie durch die Wachen, die jetzt keinem mehr das Verlassen des Palais gestatteten, der nicht im Besitz eines neuen Paßworts oder eines schriftlichen Befehls des zum Chef des neuen Kabinetts ernannten bisherigen Kriegsministers war. Wenige Augenblicke nachher befanden sie sich in den Champs-Elysées und durcheilten diese in der Richtung des Panorama.

»Parbleu – das geht rascher, als ich gedacht,« sagte lachend der Kommandant, als sie nicht mehr gehört werden konnten, »der Prinz scheint die schnellen Karrieren zu lieben. Schade, daß wir den Spektakel heute und morgen nicht mit ansehen können.«

Grimaldi wies auf einen bepackten Reisewagen, den sie schon von fern, wenige Schritte von dem Eingang des Panorama, halten sehen konnten. Er war mit vier Postpferden bespannt, an dem Schlag lehnte ein Mann in einen Mantel gehüllt.

»Meine Herren,« sagte dieser, als sie nähertraten, »vielleicht haben Sie der Frau Marquise etwas zu sagen!« Damit öffnete er den Schlag.

Dugonier wie der Grieche waren etwas erstaunt, als sie eine Dame sich aus dem Schlage neigen und im Schein der Laterne unter dem Capuchon ein feines, reizendes Frauengesicht mit großen dunklen Augen vor sich sahen, dessen Besitzerin höchstens drei- oder vierundzwanzig Jahre zählen konnte.

Beide hatten irgendeinen Agenten Carliers zu finden erwartet.

Die schöne Unbekannte musterte sie einige Augenblicke, dann fragte sie mit einem spöttischen Lächeln, das ihre schönen Perlenzähne enthüllte:

»Nun, meine Herren, wohin wünschen Sie?«

»Nach Pondichery, gnädige Frau, aber ich glaube, wir haben uns geirrt!«

»Ganz und gar nicht, der Weg dahin führt über La Rochelle. Aber bitte, beeilen Sie sich gefälligst etwas, denn es ist ziemlich kalt!«

Noch immer kaum ihr Erstaunen bewältigend, ließen sich die Offiziere in den Wagen heben.

»Glückliche Reise, Frau Marquise,« sagte der Mann am Schlag, indem er die Uhr zog. »Ein Uhr fünfundzwanzig Minuten! Vorwärts, Postillon!« Der Schlag wurde geschlossen, und der Wagen rollte davon.


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