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Neuntes Kapitel.
Im »Konklave«

In diesem Raume sammelten sich nach und nach die Jubilare. Sie traten einzeln und gruppenweise ein, nachdenklich oder in vertraulichem Gespräch, von dem letzten Ereignis noch mehr oder weniger bewegt. Alle betrachteten den würdigen, kühl-anmutenden Festraum mit Wohlgefallen, und Hilarius, dessen Verdienst entweder schon bekannt war oder eben erst hervorgehoben wurde, fand vielfache, freundliche Erwähnung. Nicht so gleichmäßig war der Eindruck, den die Festinschrift hervorrief, die von allen gelesen, von wenigen länger im Auge behalten, von den meisten rasch verlassen wurde, je nachdem der Sinn der Inschrift mit den Lebensergebnissen der einzelnen Jubilare mehr oder weniger im Widerspruch stand. – Am längsten verweilte der berühmte Abgeordnete und Exminister vor der Festinschrift und sagte nach einigem Schweigen zu dem ihn begleitenden Justizrat:

»Siegreich? – Treu dem Ideale? – Wer das von sich sagen könnte! Am wenigsten darf der Erfolg in Betracht kommen. Der ehrliche, unermüdete Kampf verdient den ersten Preis, für ihn allein ist der Mann verantwortlich; den Erfolg bestimmen oft unfassbare Mächte. – Doch – treu dem Ideale? – Wohl. Sofern ein Virement der Namen von Jugend- und Mannesidealen erlaubt ist; treu ist dann noch mancher von uns wirklich seinem Ideale.« Der Justizrat sagte nichts uns sah zu Boden. Sie traten auf eine Gruppe zu, die aus den Farbenresten einer Seitenwand den Heiligen zu entziffern suchten, welcher hier einst dargestellt sein mochte. Der pietistische Pastor war dabei besonders geschäftig, einen für unsere Zeit keineswegs erbaulichen Namen der Inquisition heraus zu demonstrieren, was den Verfasser der kritischen Gänge zu der Bemerkung veranlasste: »Bruder Pastor, mal' uns den Teufel nicht an die Wand!« – Jetzt trat der Professor der Ästhetik ein und konnte nicht umhin, im Vorübergehen der Festinschrift seine Aufmerksamkeit zu widmen. Sein Gesicht glühte von eben noch rasch genossenen Heimann'schen Weinen und stach seltsam ab von der Umrahmung seiner schneeweißen Haare. Von dem Sinne der Inschrift ließ sich der behagliche Professor nicht anfechten; dagegen entdeckte er als Fachmann sofort mit großer Genugtuung, dass dem zweiten Verse im Verhältnis zu den übrigen zwei Füße fehlten, was er zu gelegener Stunde mit Ansehen vorzubringen gedachte, obwohl, beiläufig bemerkt, der Verfasser an dem Fehler unschuldig war, indem der Schriftenmaler ein bezeichnendes Epitheton zu Hilarius' Bedauern übersehen und weggelassen hatte. – Fast zu gleicher Zeit war ein anderer Jubilar vor die Inschrift getreten und in trübes Nachdenken versunken. Es war ein Mann von mittlerer Größe, körperlich leidend und gedrückt. Indem er sein Haupt etwas nach der Schulter neigte, nahm sich sein Aufblick zu der Inschrift beinahe scheu aus, während sein schönes, braunes Auge rührende Wehmut ausdrückte. Er schüttelte nach einer Pause den Kopf und bewegte die Lippen leise, als mache er eine stille Bemerkung für sich; und da eben wieder ein paar Jubilare sich näherten, trat er bei Seite, zog einen der um die Tafel stehenden Stühle zurück und setzte sich abseits, um einsam seinen Gedanken nachzuhängen. Allein seine würdige Erscheinung zog bald Jubilare heran, die ihn freundlich grüßten, »Schatzmeister« nannten und den Grund seiner Schwermut zu kennen schienen. »Dir will die Festinschrift, wie mich dünkt, nicht recht gefallen«, bemerkte einer der Herangetretenen nach einer Pause. »Nicht doch«, erwiderte der Angeredete, »es ist ein warmes Willkommen, das uns ein jugendliches Herz entgegenbringt, selbst noch voller Ideale, wie wir vor fünfundzwanzig Jahren … Mir will nur Schillers Distichon nicht aus dem Sinn, das so recht für den heutigen Tag, für die schließliche Resignation des Lebens gemacht ist; Ihr kennt es ja: ›Erwartung und Erfüllung.‹«

Der Nebenstehende zitierte sogleich:

»In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling:
Still auf gerettetem Boot, treibt ihn den Hafen der Greis.«

Der Schwermütige nickte lebhaft und sagte: »So ist's, so ist's … ›Still, auf gerettetem Boot, treibt in den Hafen der Greis!‹« Er sank in Gedanken, seine Augen röteten sich. Die Freunde traten zurück und aus ihren Bemerkungen ging hervor, dass der Kummervolle Münz- und Ordensschatzmeister an einem angesehenen Hofe war, nach dem Abzug von der Universität sich nach und nach ganz auf seine Studien und Amtstätigkeit zurückgezogen hatte, nach dem Wunsche seines Herzens eine Braut heimführte, mit wohlgebildeten Kindern erfreut wurde und endlich sein Lebensglück ausschließlich in den engen Kreis der Seinigen verlegte. Allein wie der Wolf in eine Hürde, war ein grimmiges Geschick in das traute Heim seiner Lieben eingebrochen und hatte nach kurzen Zwischenräumen Haupt um Haupt durch den Tod entführt, erst die Gattin, dann den vielversprechenden Sohn, dann eine liebliche, erwachsene Tochter. Ein Kind schien ihm noch erhalten zu bleiben, das jüngste Töchterlein, welches er nun ganz in sein wehevolles Herz einschloss; allein auch dieses Kind erreiche die grausame Hand des Schicksals und raubte es nach kurzer Krankheit jählings hinweg! Der trostlose Vater, um seinem Schmerze ganz leben zu können, zog sich auch von seinem Amte zurück – zu spät erkennend, welcher Quelle der Stärkung er sich beraubte, indem er einer bestimmten und geregelten Tätigkeit entsagte, er setzte sich freiwillig und wehrlos dem Feinde des Lebens aus, und Leib und Seele harrten nur noch wie überreife Ähren der Hand des nahen, unsichtbaren Schnitters. – »So machen nicht so sehr die Jahre, als die Schicksale und die nicht genug gestählten Herzen alt«, bemerkte einer der Jubilare; »unser Schatzmeister ist ein Greis, und auf ihn passt in der Tat Schillers zitierter Vers.« Der Sprecher musterte die verschiedenen Gruppen der Kollegen und fuhr dann fort: »Wären nur die Jahre für das Alter maßgebend, wie passten diese halben und ganzen Kahlköpfe, diese windschiefen Haltungen, diese gebeugten Gestalten, diese grauen und weißen Haare zu den Jubilaren, welche sich noch an der Grenze der Fünfziger herumschlagen?« – »Ganz wohl«, bemerkte ein anderer, »aber auch zu viel Behagen und Genüsse machen früh alt, wie wir an unserem Kathederästhetiker sehen, für den seit Goethe und Schiller die Welt mit Brettern verschlagen ist; auch an unserem Verwaltungsrate, dessen Unterleib auf Kosten unserer Aktien Kummerfülle ansetzt! – Wie straff, kernhaft und kampfrüstig steht dagegen unser berühmter Kollege dort aufrecht, wie der Schaft einer Prachtesche zwischen umgebenden Trauerweiden!« Er meinte den Volksvertreter und Exminister, dessen hohe, stramme Gestalt sich wirklich überraschend von seiner Umgebung abhob. Der kräftig geformte Kopf mit dem kurzgeschorenen, dunkelblonden Haar und der breiten, gewölbten Stirn war den schärfsten und andauerndsten Geisteskämpfen jedenfalls noch lange gewachsen, wovon auch das blaue, feurige Auge lebendiges Zeugnis gab. Das Alter meldete sich bei diesem wohlerhaltenen Kollegen kaum noch schüchtern durch einen Anflug grauer Haare an der untern Linie des kurzgehaltenen rötlichbraunen Kinnbarts. – »Vergessen wir auch diesen Bruder in jubilaeo nicht«, meinte ein anderer, dem die Satire augenscheinlich im Genicke saß, und wies nach dem Schauspieldirektor, welcher eben hastig und in flotter Haltung eintrat, im Vorübergehen die Festinschrift mit zerstreuten Blicken streifte: »Jubilaren – waren – Jahren – Heil Dir im Siegeskranz« ironisch murmelte und dann am Exminister, der ihm nicht mehr en vogue genug war, vorübereilend einen Jubilar aufsuchte, welchen er als Bühnengönner, Logenstammgast und großen Freund junger, schöner Frauentalente kannte. »Was hält nun diesen so frisch und beweglich?« fuhr der lose Satiriker fort, »offenbar der leichte Sinn und Humor, pikant gemacht durch die stürmischen, nur die Oberfläche berührenden Verdrießlichkeiten des Selbstherrschergeschäfts, die wieder mit Hilfe der täglich mit dem großen Löffel eingenommenen Zeitungsreklamen das Blut in angenehmen Umlauf bringen, alles Unbequeme – wenn es sein muss, zeitweise auch die besten Freunde – ausstoßen und dafür sich durch permanente Huldigungen von Männlein und Weiblein kalmieren lassen.« – Während dieser und anderer Bemerkungen waren die meisten Jubilare in dem festlichen Raum erschienen, darunter auch der Oberschulrat Wahrberg, begleitet von dem Untersuchungsrichter und Hilarius. Der Oberschulrat trug ein mäßiges Heft unterm Arm, als ginge es zu einer feierlichen Staatsprüfung, war still, in sich gekehrt; freundlicher Ernst lag auf seiner Stirne. Dagegen war der Untersuchungsrichter ungewöhnlich aufgeregt und schien, bevor er dem Oberschulrat weiter in den Festraum folgte, am Eingang noch manches in Eile und Vertrauen mit Hilarius zu verhandeln zu haben. Erst als der Medizinalrat eintrat, von Jubilaren umringt und mit Fragen über den Zustand des Gefangenen bestürmt wurde, drückte er Hilarius bedeutsam die Hand und trat in den Kreis der Fragenden. Man erfuhr nun, dass die Erlaubnis, den Unglücklichen in einem passenden Wagen, von einem Arzt begleitet, nach Sonndorf zurückzubringen, erteilt werden musste, nachdem derselbe in einem Fieberanfalle gedroht hatte, den Verband abzureißen, wenn man ihn länger als Schreckgespenst im Hause des Jubiläums belasse; Richter, Staatsanwalt und Verteidiger sollten ihm unmittelbar folgen …

Die Betrachtungen über den von Natur so außerordentlich ausgestatteten und nun rettungslos verlorenen Kollegen dauerten noch fort, als der gellende Aufschrei einer Frauenstimme und ein rasch folgender intensiver Lärm von außen die dem Eingang zunächst stehenden Jubilare überraschten und zu veranlassen schienen, den Festraum wieder zu verlassen. – Mit glücklicher Geistesgegenwart begriff Hilarius, der am Eingang stand und seinen Vater mit der feierlichen Geschlossenheit, die der Festesstunde entsprach, bereits herankommen sah, dass dem Weitergreifen einer Bewegung, welch die ohnehin bereits beeinträchtigte Feststimmung abermals zu stören drohte, um jeden Preis Einhalt getan werden müsse; er bat daher die Zunächststehenden, den Festsaal nicht zu verlassen, da er selbst Erkundigung einziehen und über den seltsamen Vorfall Bericht erstatten werde. Dann drückte er rasch die Eingangstür zu und schloss auch die Seitenpförtchen einer kleinen Vorhalle, damit der leider noch immer anwachsende Lärm wenigstens für den Festraum unvernehmbar werde. Entschlossen, dem wie immer gearteten unliebsamen Auftritt so rasch als möglich ein Ende zu machen, eilte er nach dem Toreingang, wo der Lärm entstanden war und nicht so bald enden zu wollen schien.


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