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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Vater und Sohn

Hilarius' Vater hier? Der bei des Sohnes Abreise so leidend gewesen, dass er das Zimmer nicht verlassen, viel weniger die Reise zur Jubiläumsfeier antreten konnte? Und so in aller Stille, ohne den Sohn auch nur durch eine Andeutung vorzubereiten, war er angekommen? Seit wann war er hier? War der Sohn, der doch sonst die Liebe und das Vertrauen in so hohem Grade genoss, nicht eines Grußes wert, jetzt gerade, wo er einer schwierigen Mission nicht unrühmlich entsprochen? Konnte dem Vater das Wiedersehen eines verbrecherischen Kollegen näher liegen, als den Sohn zu begrüßen, der ihn mit Entzücken empfangen, mit Jubel umarmt haben würde?

Und der Staatsanwalt – der Freund – wie konnte er von der Ankunft des Vaters unterrichtet sein, ohne ihn zu verständigen, durch die Nachricht zu beglücken? …

Bewegt, verletzt entfernte sich Hilarius von dem Zellenfenster und ging auf sein Zimmer zurück. An Ruhe und Schlaf war nicht zu denken. Von dem peinlichsten Gefühle der Kränkung durchwühlt, trat er endlich an das nach den Bergen gerichtete Fenster und blickte in die lautlose Sternennacht hinaus, des Trostes gedenkend, den Tiefbetrübte da droben oft suchen und finden, dem Poeten so sinnig bewegende Worte zu leihen wissen … Auch Hilarius leuchten und nicken die Sterne freundlich und verständnisvoll zu, allein der Trost, die Beruhigung bleiben ferne …

Ein leichter Luftzug verrät jetzt, dass die Zimmertüre sich öffnet: eine hochgewachsene, würdige Mannesgestalt erscheint an der Schwelle und tritt in das schwach beleuchtete Zimmer. Hilarius wendet sich – erblickt den späten Besuch; ein halb unterdrückter Ausruf entringt sich seiner Brust; er macht zögernd einige Schritte nach der Türe – doch plötzlich eilt er mit ausgebreiteten Armen dem Manne entgegen und –

»Vater!« ist das einzige Wort, das er zu sprechen vermag. Er liegt an seinem Halse.

Eine Pause lautlosen Schweigens folgt; dann löst der Angekommene beruhigend die Arme des Sohnes von seinem Halse und sagt:

»Komm', mein Sohn! Überwinden wir die augenblickliche Wallung des Herzens, benützen wir die kurze, uns noch gegönnte Zeit zu Mitteilungen, die dringend, unaufschiebbar sind. Komm', dass ich Dir Aufschluss gebe, wie ich unerwartet hierher komme, Dich so spät überrasche. – Seltsames, Außerordentliches ist vorgefallen.«

Hilarius will, so spät es ist, noch Sorge tragen für einen Imbiss und, da kein Gelass mehr zu haben ist, für größere Bequemlichkeit in seinem Zimmer; allein der Vater hält ihn zurück.

»Lass, mein Sohn«, sagt er, »stören wir niemand mehr; die wenigen Stunden werden wir uns behelfen.«

Und indem er sich niederlässt und Hilarius auffordert, neben sich Platz zu nehmen, fährt er fort:

»Es ist spät nach Mitternacht; nicht lange mehr und der erste Morgenstrahl fällt auf die Berge und ruft uns zu einer Tagesarbeit, die wir vor Kurzem in ihrer Bedeutung noch nicht ahnen konnten!«

Erwartungsvoll hängt Hilarius an dem ehrwürdigen Antlitz seines Vaters, der nach einer Pause fortfährt:

»Vor allem meinen Dank, meine Anerkennung für Dein kluges und treffliches Benehmen im Klosterhof bis zu dieser Stunde. Mein Vertrauen ist mehr als gerechtfertigt; es ist belohnt.«

»Ich weiß«, erwiderte Hilarius, »wie sehr mein Vater Nachsicht übt, wenn ich mit mehr gutem Willen als Geschick eine Pflicht erfülle.«

»Du hast mehr getan; doch davon später … Zunächst hast Du mir Absolution zu erteilen für eine Täuschung, in der ich Dich belassen habe, seitdem Du von mir Abschied nahmst.«

»Vater!«

»Ich bin nicht so unwohl gewesen, dass ich die Reise zum Jubiläum nicht hätte antreten können. Ich habe einen flüchtigen Anfall meines Leidens absichtlich übertrieben, um Dich mit einer Mission betrauen zu können, die Dir ebenso anziehend als lehrreich sein musste.«

»Ich habe viel erlebt, viel gelernt, zu meiner Freude und zu meinem Weh«, sagte Hilarius. »Der Morgentau ist von manchem Ideale gewischt, doch hat sich mancher gute Grundsatz tiefer befestigt.«

»Und Du sollst Deinen Idealen nicht ganz entsagen, deshalb bin ich rechtzeitig hier, Dir die bisherige Mission abzunehmen und eine neue zu übertragen.«

»Ich soll den Klosterhof verlassen, gerade am denkwürdigen Jubiläumstage?«

»Nur so lange, bis die schwarze Wetterwolke des Verbrechens weggezogen ist und wieder freundliche Lebenssonne leuchtet!«

»Welche Bewandtnis hat es mit dem Verlorenen aus Sonndorf, den Du aufsuchst, bevor Du den Sohn begrüßt; mit dem ich Dich in der Zelle geheimnisvoll beisammen sehe, bevor ich eine Ahnung von Deiner Ankunft habe!«

Eine leise Bewegung durchzittert Hilarius' Stimme bei dieser Bemerkung.

»Du hast mich früher entdeckt, als ich bei Dir eintrat?« fragte Altringer betroffen.

»Ich wollte, bevor ich zur Ruhe ging, den Verbrecher durch das Beobachtungsfenster sehen und – sah auch Dich – mit schmerzlichem Befremden, wie ich wohl bekennen darf!«

»Wie bedaure ich doppelt«, ruft Altringer und ergreift die Hand des Sohnes, »dass ich den erst Dir zugedachten Besuch nicht ausgeführt habe! Allein, es war zu spät; die Umstände drängten … Verzeih', vergeb' – und urteile selber.«


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