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Fünftes Kapitel.
Im Hotel London. Das gemeinschaftliche Frühstück. Beim Gouverneur. Eine Freundin und ein Freund. Die schöne Familie

Herr von Jeneveldt wurde durch Lastträger, die ihn baten, sein Gepäck nach dem Gasthof schaffen zu dürfen, aus seinen schmerzlichen Gedanken geweckt; da er aber durch die eben erhaltenen Winke zweifelhaft geworden war, ob er nun doch in der Stadt Brüssel sein Absteigequartier nehmen solle, so hatten die Lastträger Zeit, sich das Recht des Vortritts streitig zu machen, bis Herr von Jeneveldt mit der Entscheidung dazwischen fuhr:

»Besorge mir einer einen Wagen, das Gepäck wird niemand tragen!«

Nach wenigen Minuten saß Herr von Jeneveldt im Wagen, ließ zur Stadt Brüssel vorfahren, sagte dem herbeieilenden Kellner durch das Wagenfenster nur, man solle einem Herren Roderich Hetzfeld, der hier übernachten wolle, ein Zimmer frei halten und demselben melden, er (Herr von Jeneveldt) sei durch einen unerwarteten Umstand veranlasst worden, sein Quartier im Londoner Hof zu nehmen.

Dieser Auftrag war kaum gegeben, als der Wagen weiter eilte und nach kurzer Fahrt vor dem Londoner Hof hielt.

Es war bereits Nacht geworden, als Herr von Jeneveldt sein Zimmer im Gasthofe betrat.

Die beschwerliche und unausgesetzte Reise ließ ihn eine tief Abspannung fühlen; zudem lasteten die trübsten Gefühle auf seinem Herzen, so dass er beschloss, für heute sein Zimmer nicht mehr zu verlassen und nach einem leichten Abendessen die beste Stärkung in einigen Stunden Schlaf zu suchen …

Da war er also innerhalb der Mauern einer und derselben Stadt mit seinem unglücklichen Sohne – dachte wohl Otto, dass ihm sein Vater in diesem Augenblicke so nahe sei? …

Es ging lebhaft her in Jeneveldts Herzen.

Hätte ihm der Offizier, als er die Warnung vor dem Fremden aussprach, nicht alle Hoffnung abgeschnitten, Herr von Jeneveldt würde jetzt die paar Abendstunden ziemlich heiter hingebracht haben; so aber drückte ihn die schwere Sorge um das Schicksal seines Sohnes ganz zu Boden.

Es war indes ein Glück, dass die Ermüdung einen Grad erreichte, der ein langes Trauern nicht gestattete.

Denn kaum hatte Herr von Jeneveldt zu Nacht gegessen und sein Lager aufgesucht, als ihn der süße Tröster ungestümer Erdensorgen, der Schlaf, sofort umfing und nicht eher aus seiner stärkenden Umarmung ließ, als bis der nächste Morgen anbrach.

Herr von Jeneveldt erwachte heiterer, als er zu Bette gegangen.

Gestärkt am Körper und zuversichtlicher von Herzen, kleidete er sich rasch an, um sobald als möglich den Gouverneur der Festung und jene Personen zu sprechen, welche von seinem Sohne wissen mussten und welche bei der Entscheidung über dessen Schicksal ein bestimmendes Wort zu reden hatten.

Während seines Besuches der Zitadelle sollte eine Karte Frau von Sellwitz von seiner Ankunft und seiner Absicht, sie im Laufe des Vormittags zu besuchen, unterrichten.

Jeneveldt saß, bereits zur Ausfahrt angekleidet, bei dem Frühstück, als er merkte, dass im anstoßenden Zimmer ein Passagier erwachte, der, wahrscheinlich seinen allzu langen Schlaf bedauernd, mit einer gewissen Hast aus dem Bette sprang, sich kleidete und wusch, endlich dem Kellner schellte und ihn, da er erschien, mit gedämpfter Stimme fragte, ob der Herr nebenan schon ausgegangen sei.

Die Antwort des Kellners lautete verneinend, worauf mit burschikoser Heftigkeit an Jeneveldts Türe geklopft wurde.

»Herein!« rief Herr von Jeneveldt.

»Ja, ja – Herein!« erwiderte die heisere Stimme des Fremden von gestern: »Es ist Zeit, dass Sie abfahren, lieber Jeneveldt, wir seien doch noch Zimmernachbarn geworden – trotz der Beweggründe, welche Sie plötzlich nach dem Londoner Hof entführten.«

Mit diesen Worten war der Fremde eingetreten und begab sich frischweg zu dem Tische, an welchem Herr von Jeneveldt sein Frühstück einnahm.

Dieser war zu vorsichtig und zu viel Mann von Welt, um den »guten Freund« durch Mienen oder Worte abzuwehren; er lud ihn ruhig und höflich ein, sich neben ihm niederzulassen – hatte aber in demselben Augenblick nur einen Gedanken, diesen:

»Es ist unleugbar, was mir der Offizier gesagt hat; wäre noch ein Zweifel gewesen – dies Zudringlichkeit des Menschen hätte mich vollends überzeugen müssen.«

Der Fremde fuhr mit chevalesker Heiterkeit fort:

»Ich hätte mir wahrlich Vorwürfe machen müssen, einen Freund wegen eines gemieteten Zimmers im Stiche zu lassen, ich bin Ihnen gefolgt, und da ich annahm, dass Sie von der Reise ermüdet seien, habe ich Sie gestern Abend nicht mehr stören wollen.«

Herr von Jeneveldt verneigte sich ein wenig und sagte:

»Bin Ihnen verbunden, Hetzfeld – Haben Sie gefrühstückt?«

»Noch nicht – aber wenn Sie erlauben – hahaha – wir wollten uns ja noch Lebensgeschichten erzählen? – so will ich mir mein Frühstück auf Ihr – vielmehr auf Dein Zimmer bringen lassen.«

»Wenn Du es nicht vorziehst, mein ehrenwerter Gast zu sein«, erwiderte Herr von Jeneveldt mit einem Lächeln, das mindestens zweifelhaft ließ, ob es mehr Ironie oder Höflichkeit ausdrückte.

Der Fremde nahm die Einladung an, und nach wenigen Augenblicken ließ er sich ein Frühstück von demselben Vater munden, dessen Sohn er kaum acht Tage früher – dem Tode überliefert hatte!

Herr von Jeneveldt saß eine Weile lächelnd, doch innerlich von tiefem moralischen Entsetzen erfüllt, dem Manne gegenüber und ergriff das Wort nur, um den widerwärtigsten Gedanken zu entgehen, er sagte:

»Da mein Frühstück zu Ende ist und gestern auch die Reihe zu erzählen zuerst an mir war, so will ich denn in aller Kürze zum Besten geben, was ich seit unserem Abgang von der Universität erlebt habe.«

Und nun erzählte er mit militärischer Prägnanz seine Karriere als Soldat bis zur Schlacht von Jena, und von da sein Leben und Treiben als Gutsbesitzer fern von großen Städten und den Bewegungen der letzten Jahre.

Nicht ohne berechnete Absicht fügte er die Erzählung der jüngsten Erlebnisse seines Sohnes bei und schloss mit dem Geständnis, dass er hierher gereist sei, um über seines Sohnes Schicksal Auskunft und wo möglich Beruhigung zu erhalten.

Während dieser letzten Mitteilung machte sich der Fremde viel mit dem Kuchen des Frühstücks zu schaffen, vergaß auch wohl trotz der großen Geschicklichkeit im Handhaben der Tassen manchen Tropfen Kaffee von der Ober- auf die Untertasse und sagte, als Herr von Jenveldt schon eine gute Weile schwieg, mit voller Fassung:

»Deine Erzählung hat glücklich begonnen und traurig geendet. Das ist, abgesehen von meiner innigsten Teilnahme, auch insofern nicht angenehm, als ich gezwungen sein werde – meine Geschichte ebenfalls heiter zu beginnen; denn, mein lieber Freund, meine Jugendstreiche hatten mit meinem Abzug von der Universität noch kein Ende – im Gegenteile …«

Er wollte fortfahren, als auf einem nahen Kirchturme die Glocke sehr vernehmbar neun Uhr schlug, Herr von Jeneveldt unter Entschuldigungen aufstand und sagte:

»Ah! Dies erinnert mich, dass die Stunde meiner Vaterpflicht schlägt … Erzähle Du mir Dein Leben später, bei mehr Muße und weniger Unruhe von meiner Seite – ich muss, ich muss jetzt nach der Zitadelle!«

Der Fremde hatte gefrühstückt und fand es nur natürlich, dass Herr von Jeneveldt seine Lebensgeschichte später hören wolle.

Doch fügte er seiner Billigung hinzu:

»Ich will Dich wenigstens noch ein Stück Weges begleiten und Dir die kürzeste Richtung nach der Zitadelle zeigen, da ich in der Stadt bekannt bin und seit Jahr und Tag – Armeelieferungen besorge …«

Der Besuch bei dem Gouverneur der Festung entsprach auch nicht den mäßigsten Erwartungen.

Herr von Jeneveldt sah alsbald, dass er vom französischen Generale mit offenbarem Misstrauen empfangen wurde.

Aus dem Gespräche, welches ich zwischen beiden entwickelte, ging auch als wahrscheinlich hervor, dass dem Herrn der ehemalige preußische Offizier nicht recht behagte, der – statt dem siegenden Frankreich seinen Degen anzubieten – nach der Schlacht von Jena den Degen zerbricht und – auf seinem Schlosse ein unabhängiges Stillleben führt.

In solchem Falle mochte der Gouverneur denken, schieße man nicht weit vom Ziele, wenn man annehme, die Schuld des Sohnes könne im Geiste des Vaters ihre Wurzel haben.

In Bezug auf Otts Schicksal wurde nur im Allgemeinen angedeutet, die Untersuchung sei im Gange, die bisherigen Indizien seien gravierend, aber von einem Schlussurteile könne doch noch keine Rede sein.

Auf Jeneveldts Frage, ob er seinen Sohn nicht sehen dürfe – hieß es: Nein!

Auf die Frage, ob sein Sohn nicht durch einige Zeilen von seiner Anwesenheit unterrichtet werden dürfe, hieß es wieder: Nein!

Auf die Frage, was zur Bequemlichkeit des Sohnes geschehen könne, hieß es: Geld und etwas Wäsche und Kleider würden für den Delinquenten angenommen!

Hiermit hatte der Besuch ein Ende.

Als Herr von Jeneveldt aus dem Kabinett des Gouverneurs trat und sich durch ein großes Kanzleizimmer entfernte, bemerkte er an einem Seitentische denselben Offizier, der ihn gestern vor dem »Fremden« gewarnt hatte.

Der Offizier blickte indessen von seiner Arbeit nicht auf.

Nach einem so wenig erfreulichen Besuche war es kein Wunder, dass Jeneveldt schweren Herzens die Zitadelle verließ und bei der Frau von Sellwitz vorfuhr.

Hier wurde er umso freundlicher empfangen.

Frau von Sellwitz war eine feine, lebhafte und sehr stattliche Dame. Obwohl sie etwa fünfundvierzig Jahre zählte, war sie doch so gut konserviert, dass man ihr schwerlich mehr als achtunddreißig Jahre zugemutet hätte.

Sie wohnte fürstlich.

Als ihr von Jeneveldt nach den gewöhnlichen Begrüßungen mitteilte, was ihn so unerwartet hierher geführt habe, schien sie sehr erstaunt und betrübt, sagte aber nach einigen Augenblicken mit Lebhaftigkeit:

»Mein Wort, Herr Baron! Sie sollen mir nicht so betrübt die Stadt verlassen, wie Sie eben aus der Zitadelle kommen. Ich kenne den Gouverneur, er besuchte von Zeit zu Zeit mein Haus – ich fahre noch heute bei ihm vor und erwirke Ihnen irgendwas Gutes – sei es, dass man Ihnen erlaube, Ihren Sohn zu sehen, sei es, dass man Ihrem Sohne eine Behandlung angedeihen lasse, welche wenigstens seinem Stande und seiner Bildung angemessen ist!«

Jeneveldt nahm die freundliche Verwendung dankbar an und kürzte seinen ersten Besuch ab, da er an der Toilette der Dame merkte, dass sie zu einer Ausfahrt bereit sei.

Doch sagte Frau von Sellwitz vor seiner Trennung noch, indem sie ihm die Hand hinreichte:

»Es ist heute größere Abendgesellschaft bei mir. Sie sind geladen, lieber Freund. Sie werden auch erscheinen, ich setze das voraus!«

Jeneveldt wollte sich entschuldigen, aber Frau von Sellwitz fiel ihm ins Wort und sagte:

»Ihr Herz ist Patient, und ein solcher Patient muss unter die Leute, nicht in die einsame Kammer! Sie kommen und hören, was ich Ihnen vom Gouverneur mitbringen werde!«

Dagegen ließ sich nichts einwenden; Herr von Jeneveldt sagte zu und begab sich dann zu seinem Freunde und Waffengenossen, Professor Ernst, den er seine Anwesenheit noch nicht hatte wissen lassen.

Professor Ernst wohnte außerhalb der Stadt, nicht weit vom Walle, in einem großen, neuen und einzeln dastehenden Hause.

Als Herr von Jeneveldt zu ebener Erde nach ihm fragte, zeigte man mit sichtlichem Respekt nach dem ersten Stocke.

Herr von Jeneveldt ging hinauf, wurde angemeldet und trat in ein großes, freundliches Studierzimmer, welches auch nicht die geringste Ähnlichkeit mit einer drückenden deutschen Gelehrtenstube hatte.

Durch ein offenes Fenster strömten die balsamischen Frühlingslüfte, gewürzt durch den Duft eines schlichten Resedastöckleins, frei herein, die Geräte des Zimmers, einfach und bequem, standen in schöner Ordnung an den Wänden, sowie auch die Bücher und die mathematischen Instrumente sauber und wohlgehalten auf ihren Plätzen sich befanden.

Ein Geist des Friedens und wohltuenden Ernstes wehte durch den Raum.

Allein man blieb auch nicht länger im Zweifel, wo dieser Geist seinen stillen Urquell hatte.

Denn dort an einem bescheidenen Arbeitstische saß ein Mann in schwarzem Schlafrock, ein rundes Käppchen auf dem Wirbel, wie es Geistliche zu tragen pflegen, eine Tabelle mit mathematischen Figuren vor sich, die ihn noch beschäftigten, als Herr von Jeneveldt eintrat; jetzt stand er auf und kam seinem Gaste, der ihm noch nicht genannt worden war, mit würdevollen, militärisch kräftigen Schritten entgegen, indem ein sanftes Lächeln um seinen Mund, ein tiefer Ernst auf seiner wundervoll klaren Stirne ruhte.

Er kannte seinen Freund nicht sogleich und wollte ihn eben als einen Unbekannten vorwärts kommen heißen, als dieser sagte:

»Nun, mein lieber Arthur, bin ich hier denn ganz und gar vegessen?«

Jetzt verklärte sich des Professors Angesicht mit einem, gleichsam von Innen kommenden Lichte, dass es mehr als jede Versicherung dartat, wie sehr willkommen ihm sein alter Waffengefährte sei.

Beide umarmten sich, traten auseinander und sahen sich schweigend noch einmal tief und gerührt in die Augen; dann traten sie zu einem Sofa, ließen sich nieder und redeten in der ersten Freude, ws ihnen eben auf die Zunge kam.

Doch mitten in diesen Reden stand der Professor auf und sagte:

»Es versteht sich, dass Du mein Gast bist diesen Mittag; und damit wir dann ungestört weiter reden können, will ich Dich meiner Frau melden und Dir vor allem meine Kinder zeigen.«

Er ging hinaus und kam bald wieder zurück, ein kleines Kind an der Hand führend, an welches sich ein zweites, größeres, an dieses ein drittes und so weiter hielt, so dass nach wenigen Augenblicken eine wahre Blumenkette von sieben immer größeren Kindern dastand, beginnend mit dem Vater und endend an der Hand der Mutter, einer frischen, vollen Frau, die noch in Kleidung wie im Benehmen unleugbare Spuren der ländlichen Schweiz, der sie entstammte, an sich trug.

Hinter die im Halbkreis sich herumstellende Familie postierte sich noch eine rotbackige Wärterin mit einem Säugling auf dem Arme.

»Da hast Du die Äste und Zweige Deines alten Stammbaum-Freundes mit Ausnahme zweier: meines ältesten Töchterleins und eines Sohnes, der auf der Universität studiert.«

Herr von Jeneveldt schlug die Hände zusammen vor Überraschung und Entzücken; denn eine solche Anzahl schöner Kinder, deren Anblick bis ins tiefste Herz erquickte, hatte er noch nie beisammen gesehen.

Er begrüßte vorerst die Mutter, welche er schon kannte, eilte dann auf das vorjüngste Kind zu, welches zunächst am Vater stand, löste es aus der Kette, hob es in die Luft, küsste es mit Inbrunst und stellte es dann voll Rührung auf den alten Platz.

»Wirst Du Dir's merken, dass ich Dein Vetter bin«, sagte er, »und wirst Du mich lieb haben, sooft ich komme?«

Das Kind sah nur lächelnd und mit großen blauen Augen zu ihm auf.

Herr von Jeneveldt ging nun von einem Kinde zum andern, sagte jedem etwas Freundliches, trat hierauf zurück und sagte, indem er sich der noch in Ordnung dastehenden Familie gegenüber setzte:

»O, nur noch einige Augenblicke bleibt in Reih' und Glied vor mir stehen. Ich bin noch niemals tiefer und wahrer erquickt und erfreut gewesen!«

Es war auch merkwürdig genug, in jedem der durchaus gesunden, munteren Kinder die unleugbarste Familienähnlichkeit und doch auch wieder seine Unterschiede zu sehen.

Was aber das Merkwürdige noch erhöhte, war der Umstand, dass regelmäßig auf ein Mädchen ein Knabe folgte, so dass die Sprösslinge des Hauses (vom Ältesten an) mit einem Knaben begannen und mit einem Mädchen endeten.

Jeneveldt hätte wahrscheinlich noch lange mit gerührten Blicken überlegt, was er mehr bewundern solle, die schön geformte weiße Stirn oder die dunkel- und hellblauen Augen oder das blonde, reichwallende und etwas gelockte Haar der Kinder, das bei den Knaben um einen Schatten dunkler war als bei den Mädchen – hätte nicht der Professor seinem Freunde endlich lächelnd zugerufen:

»Genug, genug für jetzt; Du wirst noch alle näher kennen lernen – geht nun, Kinder!«

Die Professorin blieb noch eine Weile bei den traulich beisammen sitzenden Freunden und entfernte sich dann, um das Nötige für den Mittagstisch zu besorgen.

Nun erst rückte Herr von Jeneveldt mit dem Geständnisse heraus, warum er nach der Stadt gekommen sei, welch' ein unseliges Schicksal seinen Sohn inmitten des schönsten Glückes betroffen habe.

Sein Freund hörte ihn schweigend an und versank hierauf in düstere Gedanken.

»Es hat eine Zeit gegeben«, sagte er dann, sich mit der flachen Hand über die große, klare Stirn fahrend – »eine Zeit, wo meine Aufmerksamkeit förmlich Buch führte über diejenigen Gefangenen, welche der überrheinische Despot in diese Festungsmauern lieferte. Als ich aber merkte, dass mich in Folge dessen gewisse-fortwährende Erschütterungen so überwältigen würden, dass ich ihnen ziel- und zwecklos erliegen müsste, habe ich mein Auge gewaltsam von dem Unerträglichen abgewendet. So ist es gekommen, dass ich von der Nähe Deines unglücklichen Sohnes noch nichts wusste. Wenn Du mich daher stiller siehst, als Du bei Deinem Unglück wohl erwartet hast, so bedenke, dass ich meinem Herzen Gewalt antun muss, das gerade für solche Dinge unglaublich empfindlich ist … Was! Dein Sohn! Auch er ein Gefangener dieser fränkischen Despotenbande, die den Deutschen zwingen will, sein Gedächtnis und sein Blut zu verleugnen? … Gut; o gut, mein Freund … Lass uns nachdenken, was zu tun sein wird – lass uns vor der Hand meiner Familie ein Geheimnis daraus machen – wir reden noch darüber; noch leben Personen von Einfluss in der Stadt, mit deren Hilfe ich vordem das Los manches Patrioten erleichtern konnte … Lass sehen – doch still! Da kommt meine Freu, uns zu Tische zu holen.«

So war es auch.

Die leise Andeutung des Freundes, dass vielleicht sich Mittel und Wege finden dürften, seines Sohnes Schicksal zu erleichtern oder ganz abzuwenden, hatten, zusammengehalten mit dem tröstlichen Versprechen der Frau von Sellwitz, nicht verfehlt, Jeneveldts Gemüt so weit zu erheitern, dass bei Tische seine Sorge nicht bemerkbar wurde.

Harmlose Gespräche, Scherze mit den immer holder erscheinenden, guten und kräftigen Kindern bewirkten indessen bald auch eine glückliche Stimmung.

Nach Tische uns während der Nachmittagstunden blieben die Freunde unzertrennlich beisammen, bald die Gegenwart, bald die Zukunft und bald auch wieder die Vergangenheit in ihre ernsten Gespräche ziehend.

Eine Stunde vor Beginn der Abendgesellschaft bei Frau von Sellwitz begab sich Herr von Jeneveldt nach seinem Gasthof.

Er traf zwar den »Fremden« nicht an, hörte aber durch den Kellner, dass er den Tag über öfter gekommen und gegangen sei und stets nach Herrn von Jeneveldt als »seinem trefflichen Freunde« gefragt habe.


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