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Viertes Kapitel.
Nach dem Norden. Der letzte Schuss. Die Reise nach der Stadt. Ein bedeutsamer Wink

Napoleons Feldzug gegen Russland hatte begonnen, ein Korps seines Heeres hielt jetzt seinen Durchmarsch.

Derselbe Tag brachte noch einen bunten Wechsel von Szenen in die Gegend.

Wie entzündete Pulsadern schwollen die Straßen von den blauen Regimenter-Zügen, die nach ihren Sammelpunkten eilten; starr und in Nachdenken verloren, stand das Landvolk in der Ferne und sah dem Wunder mit demselben Staunen zu, als würde es durch Zauber einer fata morgana gefesselt.

Gegen Abend schienen die überfüllten Adern der Gegend zu sprengen und bunte Ströme von Uniformen über Dörfer, Flecken und freies Feld zu ergießen; Biwaks und Einquartierungen, wohin man blicken mochte!

Wer indessen am nächsten Morgen nicht bei Zeiten auf den Beinen war, erblickte nur noch wenige Reste dieser Uniformen, Bajonette, Kanonen und Bagagewagen; so schnell das alles gekommen war, so schnell war es wieder verschwunden.

Im Dorfe Voralm sollte man indessen einen kleinen Vorgeschmack von Kriegszustand erhalten. den von wegen der neuerlichen Festsalven an Otto Jeneveldts Verlobungsmorgen wurde ein Wagen von einigen Reitern in das Dorf eskortiert, um alle Gewehre, alt oder jung, groß oder klein, gesäubert oder ungesäubert bis auf Weiteres fortzuführen, da man unter den waltenden Umständen einen bewaffneten Frieden des Dorfes, namentlich nach so lauten Kundgebungen, nicht dulden könne.

In manchem Hause wurde der »Strotzbursch« (Stutzen) oder der »Christl« die »Urschel« (wie man alte Flinten und Pistolen nannte) nicht ohne Herzweh abgeliefert.

Der alte Erbacher lud, als er von der Ablieferung hörte, in aller Stille seine riesige Pistole, und zwar so, dass der Papierpfropf beinahe zum Rohr heraus sah, und als man kam, um sie abzuholen, sagte er plötzlich:

»Potz Blitz und kein End! Erlaubt – sie hat von neulich her noch was auf dem Herzen – erlaubt …« – und damit drückte er die Pistole los.

Es gab einen Knall, der die Umstehenden eine Weile ganz betäubte.

Vater Erbacher aber wischte mit der flachen Hand über die Mündung des Rohres und sagte halb für sich:

»Hast recht, Dein deutsches Maul erst noch zu säubern; wirst lang genug jetzt still sein oder welsch parlieren müssen!«

Doch war mit diesem Durchmarsch und mit dieser unbedeutenden Entwaffnung der Anblick jenes ungeheuren Krieges den Augen dieser Gegend ein für alle Male entrückt.

Umso mehr sollte Herr von Jeneveldt auf seiner Fahrt nach der Stadt von den Märschen der Armee zu sehen und zu dulden haben.

Denn je weiter er aus dem Gebirge nach den flacheren Teilen des Landes kam, desto unabsehbarer waren die Straßen mit Truppen aller Waffengattungen bedeckt.

Der Postwagen musste oft stundenlang seitwärts stehen oder sich zu ärgerlichen Umwegen entschließen, um sich herben Berührungen zu entziehen.

Und das wäre am hellen Tage noch erträglicher gewesen, wenn die Hindernisse mit der einbrechenden Nacht sich nicht verschlimmert hätten.

Zum Glücke wurden um Mitternacht zwei französische Offiziere Jeneveldts Reisegefährten, die an allen Schlagbäumen und Biwaks den Aufenthalt bedeutend kürzten. Gegen das Ziel unseres Reisenden hin verminderten sich übrigens auch die Truppen wieder, so dass man nächsten Tags ganz ohne Zeitverlust die Reise fortsetzen konnte.

Kurz vor Ankunft in der Festung, wo man Otto gefangen hielt, sollte Herr von Jeneveldt noch ein kleines Abenteuer erleben.

Es war auf der letzten Poststation, der Abend dämmerte bereits, als während des Pferdewechsels ein neuer Passagier in den Wagen stieg und sich Herrn von Jeneveldt nach dem gewöhnlichen Gruße gegenüber setzte.

Der Fremde hatte den Kragen eines dunkelgrünen Überrockes emporgeschlagen, drückte den Hutschirm etwas in die Stirne und blickte eine Weile mit glanzlosen Augen vor sich hin.

Der Wagen kam wieder in Gang; die Pferde wurden heftig angetrieben, um das Versäumte des vergangenen Tages einzuholen – als der Fremde den Kragen seines Rockes zurückschlug, den Hut aus der Stirne rückte und ein leichtes, stehendes Lächeln um seine Lippen spielen ließ. Sein blasses, marmornes Gesicht gewann hierdurch Ausdruck und Interesse, besonders da nun auch die Augen belebter wurden, die nicht selten dem Blick des Herrn von Jeneveldt begegneten.

Nach einiger Zeit begann der Fremde, der mit Herrn von Jeneveldt allein im Wagen saß:

»Mein Herr! Sie vergeben wohl, wenn ich Sie in Ihrem Nachdenken störe; aber ich vermute mit einiger Zuversicht, dass wir beide einmal bekannte – gute Bekannte gewesen sind – wenn Sie auch noch Ihre Zweifel haben mögen.«

Herr von Jeneveldt, der sich bisher wenig um das Gesicht und die Bekanntschaft des Fremden bekümmert hatte, blickte denselben jetzt ein wenig genauer an – musst aber eingestehen, dass er sich nicht entsinne, wann und wo er die Ehre gehabt, den Herrn zu sehen.

»Nun«, fuhr der Fremde fort – »wenn ich Ihrem Gedächtnis zu Hilfe komme, ist es vielleicht möglich, meinen Anspruch auf Ihre Bekanntschaft wieder zur Geltung zu bringen; obwohl ich gestehen muss, dass einem deutschen Studiosus vom alten Schlage das Gedächtnis in der Tat keinen solchen Streich von Vergesslichkeit spielen sollte … Nun? Sie sind noch nicht auf der Spur? Dann hat sich der Anblick eines Roderich Hetzfeld sehr verändert, wenn sein alter Kommilitone so lange braucht, um ihn wieder zu erkennen!«

Bei diesen Worten schien ein Schleier von Jeneveldts Augen zu fallen, denn er entsann sich seines früheren Jugendgenossen jetzt, reichte ihm die Hand und sagte:

»Sieh' da! Sieh' da! Wär's aber auch ein Wunder, sich zu vergessen, wenn man als zwanzigjähriger Bursch Abschied nimmt und sich erst wieder sieht, wenn die Haare stark ins Graue spielen! – Hetzfeld! Richtig! – Roderich Hetzfeld! Aber grade heraus, Du hast Dich auch in einer Weise verwandelt, dass von Dir fast nichts als Dein alter Name unverändert blieb!«

Der Fremde (den wir nun auch als Bekannten aufführen, indem wir ihn als denselben, der Otto Jeneveldts Verhaftung eingeleitet, bezeichnen) erwiderte mit kurzem heiseren Lachen:

»Kein Wunder, lieber Freund! Es sind nicht bloß Bäume, die man eine gepfropfte Krone zu tragen zwingt; auch Unsereiner muss sich's gefallen lassen, wenn Zeit und Umstände ihn zwingen, einen neuen Menschen anzuziehen; da geht es denn nicht ohne Maskeraden ab nach innen wie nach außen!«

Herr von Jeneveldt gedachte während eines kurzen Schweigens jetzt der unzählbaren Streiche, die der ehrenwerte Freund einst ausgeführt, und konnte sich eines sonderlichen Gefühls nicht erwehren, jenen lustigen Burschen auf einmal in der ernsten, steifen, doch im Ganzen »geschulten« Erscheinung eines bejahrten Mannes vor sich zu haben.

Indessen lieh er diesem Eindruck keine Worte und gab nur seinen Wunsch zu erkennen, das Schicksal des Jungendgenossen zu erfahren.

»Da wir uns so unerwartet als zwei alte Häuser wieder treffen«, sagte er, »so wird es wohl gut und löblich sein, dasjenige Stück unseres Lebens zum Besten zu geben, welches zwischen jetzt und damals liegt, wo wir uns als junge Freunde trennten.«

Der Fremde (wir wollen diese Bezeichnung beibehalten) lächelte flüchtig und sagte mit einem Blick nach der Wagendecke:

»Freilich – o gewiss! Müssten wir uns doch so lange als Schatten, als Geistererscheinungen vorkommen, wenn wir die Brücke zwischen jetzt und einst baldigst herzustellen eilten … Du bist Soldat gewesen«, setzte er nach einer Pause hinzu, um Herrn von Jeneveldt zu veranlassen, dass er zuerst beginne – »Du bist Soldat gewesen, soviel ich weiß, und lebst seit der Schlacht bei Jena in glücklicher Ruhe – verzeih' – in glücklicher Tätigkeit auf Deinem Schlosse Voralm; nun, wenn Du willst, so geh' mit gutem Beispiel voran und erzähle Du zuerst, was Dir begegnet. Gewöhnlich ist das Leben nur auf einem Fuße – auf dem Fuße des Friedens oder fällt im Kriege plötzlich auf dem Felde der Ehren.«

Herr von Jeneveldt wollte eben eine Skizze seines Lebens entwerfen, als der Postwagen stille hielt, der Wagenschlag aufgerissen wurde und drei Offiziere hereinsahen, ob noch Platz sei, um sie aufzunehmen.

Es waren aber nur zwei Plätze frei im Wagen.

Man polterte wegen dieses Übelstandes mit dem Kondukteur, als zum nicht geringen Verwunderns des Herrn von Jeneveldt sein alter Freund mit unbegreiflicher Bereitwilligkeit sich zum Aussteigen anschickte, indem er sagte:

»Bis zur Stadt ist nicht mehr weit; ohnedies habe ich hier noch einige, wenn auch unbedeutende Geschäfte – Meine Herren, wollen Sie einsteigen – ich bin Liebhaber von Fußwanderungen – der Abend ist schön – nur keine Einwendung – ich bitte, steigen Sie ein!«

Er hatte den Wagen verlassen, bevor die Worte noch zu Ende waren – die Offiziere nahmen ohne besonderen Dank das Anerbieten an; der Vornehmste von ihnen warf dem Fremden sogar einen Blick zu, der nichts weniger sagen wollte, als:

»Du hattest Zeit, Deine verfluchte Schuldigkeit zu tun, wir kennen Dich, erbärmlicher Fuchsschwänzer!«

Der Fremde aber schien des besten Humors zu sein und auf Dank bei den Herren vom Säbel nicht zu rechnen.

Er hielt sich nur so lange, bis die Offiziere eingestiegen waren, am Wagenschlage auf und sagte dann zu Herrn von Jeneveldt:

»Nun, lieber Herr und Freund! Was wir eben erzählen wollten, wird doch hoffentlich nicht unterbleiben – wir sehen uns wieder in der Stadt? Wo steigen Sie ab?«

»In der Stadt Brüssel, der Post gegenüber«, erwiderte Herr von Jeneveldt.

»Ei! Dahin will ich eben auch – möchten Sie mir ein Zimmer neben dem Ihrigen bestellen? Es wäre schön, wenn wir Nachbarn würden – eine Stunde nach Ihnen bin ich auch dort!«

»Schön, schön«, sagte Herr von Jeneveldt, des Fremden dargebotene Hand nehmend, »wir werden Nachbarn; Ihnen ein Zimmer neben mir zu verschaffen, will ich gern bedacht sein!«

Die Offiziere saßen zurecht, und der Wagen rollte von dannen.

Wegen der hereinbrechenden Dunkelheit entging es Herrn von Jeneveldt, dass der ihm gegenüber sitzende Offizier von Zeit zu Zeit nachdenkliche Blicke auf seinem Gesichte ruhen ließ.

Aus diesen Blicken sprach zugleich Unruhe und Teilnahme.

Jeneveldt war indessen viel zu lebhaft mit den Gedanken an seinen Sohn beschäftigt, um seiner Umgebung einige Aufmerksamkeit zu schenken; man gelangte daher bis an das Tor der Stadt, ja bis in den Hof des Postgebäudes, ohne dass es zu mehr als gewöhnlichem Gespräche kam.

Erst als man den Postwagen verlassen hatte und während zwei der Offiziere sich mit Fragen an den Kondukteur wendeten, fühlte sich Herr von Jeneveldt leise am Arm genommen und von dem dritten Offizier bei Seite gezogen.

»Ein Wort, mein Herr«, begann der Offizier, nicht ohne sorgsam hinter sich zu blicken.

»Bitte«, erwiderte Herr von Jeneveldt, »was wünschen Sie mir mitzuteilen?«

»Ich habe Ihren Namen nennen gehört, er ist mir aus Gründen aufgefallen – ich möchte wissen, ob ich recht gehört – heißen Sie wirklich Jeneveldt – Herr von Jeneveldt?«

»Es ist mein Name«, erwiderte dieser: »Warum, wenn ich fragen darf, interessiert Sie mein Name?«

»Nun – vor einigen Tagen brachte man einen jungen Mann in die Zitadelle dieser Stadt, der Ihren Namen führt – ist dieser jung Mann Ihr Sohn?«

»Mein Herr«, sagte Herr von Jeneveldt überrascht und von den Gefühlen einer unbestimmten Hoffnung überkommen, »darf ich annehmen, dass Ihre Frage, welche mich so sehr …«

»Ich bitte mir einfach die Frage zu beantworten«, fiel ihm der Offizier ins Wort, »denn Sie würden sehr irren, aus meiner Frage irgend tröstliche Erwartungen zu folgern; ist der junge Mann Ihr Sohn?«

»Er ist es – Otto – Otto Jeneveldt, mein Herr …«

»Gut. Richtig … Aber in welcher Beziehung stehen Sie zu dem Mann, der an der letzten Post aus dem Wagen gestiegen?«

»Dieser Mann – nun, er ist einst mein Universitätsgenosse gewesen; ich traf ihn seltsamerweise seit jener Zeit zum ersten Male wieder …«

»So, so«, sagte der Offizier und blickte düster zu Boden – »Doch ich habe keine Zeit zu verlieren und möchte Ihnen nicht gute Nacht sagen, ohne Ihnen einen wohlmeinenden Wink zu geben … Sie kommen wahrscheinlich hierher, um über Ihren Sohn etwas Genaueres zu erfahren und sein Schicksal, wo möglich, erleichtern zu helfen – es sei nur zur Erinnerung, mein Herr: nehmen Sie sich vor Ihrem Jugendfreund in acht – denn – er ist es, der Ihren Sohn auf die Festung gebracht hat!«

Nach diesen Worten verließ der Offizier den schwer erschütterten Herrn von Jeneveldt und ging, ohne eine Silbe hinzuzufügen, rasch von dannen …


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