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Siebentes Kapitel.
Wiederfinden.

Eine Viertelstunde später saß Kilian Lotfahr mit seinem Sohne Remi allein auf einer Ruhebank zwischen den Bäumen der Allee.

Mit allen Gründender Religion und der Vernunft, mit jenem herzerschütternden Nachdruck, der einer wohlwollenden Vaterstimme in solchen Momenten eigen ist, bekämpfte der Vater die tollen Verirrungen des Sohnes, welcher eben daran gewesen, um einer treulosen Verlobten willen, und weil er eine äußere Stellung verloren, sich eine Kugel durch den Kopf zu jagen.

Mit Recht machte ihn Lotfahr aufmerksam, dass, wenn sie sich zusammennehmen wollten, sie in genug günstigen Verhältnissen lebten, um fröhlichen Muts alle künstlichen Ehren dieser Welt entbehren zu können!

Remi schien dieser Ansicht noch immer nicht sein zu können; sein totbleiches, wirres Haupt neigte sich tief gegen die Brust, und die Arme hingen schlaff an ihm herunter. Erst als der Vater mit unsäglichem Kummer an die Tochter Burgei erinnerte und bemerkte, dass alle Freuden dieser Welt – auch die Freuden ihres Reichtums und ihrer Unabhängigkeit – null und nichtig, solange Burgei nicht gefunden und ausgesöhnt sei, zuckte Remi zusammen, und es schien, als ob er selbst so weit von seiner wilden Antipathie zurückgekommen sei, um einzusehen, zu welchem verdammenswerten Akte gegen seine Schwester er gewaltsam gedrängt habe.

»Mein Kind verstoßen! In finsterer Nacht unter freien Himmel hinaus – allen Schrecken und Gefahren preisgegeben – es ist ein Brandmal für unser Haus und unsern Namen, für Dich und insbesondere für mich, das schlimmer gegen uns zeugen wird als alles! … O, meine grauen Haare werden, wo ich einen gutem Menschen begegne, gegen mich predigen und rufen: Seht, dessen Haar die ehrwürdige Farbe des Alters trägt, er hat sein Kind verstoßen, sein gutes, tapferes, unschätzbares Töchterlein!«

Er wollte sich eben erheben, um die schon zu lange versäumten Anstalten zu treffen, sein Kind nach allen Richtungen suchen, und wenn es gefunden worden, mit allem Gepränge nach Hause bringen zu lassen – als ein leises Rauschen im Sande, von Fußtritten herrührend – in der Nähe vernommen wurde.

Lotfahr blickte auf – und – o, ihr Heerscharen des Himmele! – Burgei – noch in dem Traueranzuge der Nacht, gestützt auf die Schulter Otfrieds – lächelnd, wenn auch angegriffen und blass – stand vor Vater und Bruder!

Lotfahr, der erst zu erstarren schien, dann aber mit jugendlicher Lebenskraft emporschnellte – warf beide Arme gegen Himmel – rief mit halb erstickter Stimme den Namen seiner Tochter, stürzte vor ihr nieder – küsste ihr Kleid – »O, meine Burgei!« – bedeckte ihre Hände mit Tränen und Küssen – »O, bist Du mir wieder gekommen?« – sprang wieder auf, um mit innigster väterlicher Zärtlichkeit ihren Hals zu umschlingen und unter Schluchzen und Lachen zu rufen:

»Burgei! Du hältst mich noch Deines Angesichts würdig? Freiwillig kommst Du unter das Dach zurück, von dem ich Dich – ein Rabenvater – verstoßen?«

»Weil Sie mein harter Vater nur einen Moment – mein guter Vater aber Zeit Lebens gewesen. Mein letzter Gedanke, als ich unter der uralten Eiche zusammenstürzte – und mein erster Gedanke, als ich heute in unserem früheren Pachthof erwachte – waren Sie – und ich hatte keine Ruhe, bis ich kam, Sie zu sehen, mein teurer Vater!«

Nach diesen mit himmlischer Sanftmut gesprochenen Worten nahm Burgei den Arm ihres Vaters und sagte:

»Kennen Sie den Herrn nicht mehr?«

»Otfried!« rief Lotfahr plötzlich aus. »Sie hier? Sie wieder zurück?«

»Durch ihn, Vater, bin ich hinter die Geheimnisse des Verbrechens gekommen; er hat die Kunde davon aus dem Munde des sterbenden Vaters erhalten!« sagte Burbei.

»Und Du – Du bist der Heldenmund der Wahrheit gewesen und hast der Wahrheit die Ehre gegeben öffentlich vor aller Welt! … Ja, mein Kind, indem ich Dich wieder habe, mich Dir anschließe, wächst mir Geist und Mut, und alles war eitel, was ich erstrebte! … Komm, lass' Dich nieder; ruhe ein wenig hier bei und – und Herr Otfried – setzen Sie sich auch!...«

»Ja – zwischen Ihnen und dem Bruder will ich ruhen«, sagte Burgei und ließ sich lächelnd zwischen beiden nieder.

»Nun, Remi?« fragte sie, als der Bruder abgewandten Gesichtes seine Hand zum Gruße reichte. »Noch nicht getröstet? Muss Dich der eigene Vater beschämen?«

Da sich der Bruder nicht entschließen konnte, ein freundlicheres Zeichen von Entgegenkommen zu geben, sagte Burgei:

»Nun, Otfried – erzählen Sie selbst Ihr Abenteuer mit einem gewissen Herrn Braggen; und berichten Sie als Augenzeuge, dass dieser Herr als Husarenleutnant ein Rendezvous in unserm Hause mit Fräulein von Bergen hatte – trotz ihrer Verlobung mit meinem Bruder!«

Die Erzählung Otfrieds riss endlich den jungen Lotfahr aus seinem verbissenen Schmerz. Die Bestätigung, dass er schmählich hintergangen gewesen – besonders aber, dass der Buhle seiner Verlobten zugleich – der Hauptanstifter des Todes seiner Mutter gewesen, brachte ihn außer sich, und er war jetzt ebenso geneigt, die ganze Schärfe seines Charakters gegen das Traumbild seiner künstlich erworbenen Existenz zu richten, als er vorher gegen die natürlichen und wahren Grundsätze seiner Schwester gekämpft.

»Nein, mein Bruder – man muss nicht immer von einer Leidenschaft in die andere fallen«, sagte Burgei und zog den aufspringenden Bruder sanft an ihre Seite nieder. »Höre mich an, Bruder – höret mich an, Vater … Als wir nach dem Unglück der armen Mutter zum ersten Male wieder zusammenkamen, sprach jedes seinen Wunsch, seine Ansicht aus, dass Reichtum – Macht – und die stets bekannte Wahrheit der Übel meiste verhindern könnten. Es war, als horchte eine Schar überirdischer Wesen, um diese Wünsche uns in Erfüllung gehen zu lassen. Sie, Vater, wurden mit Reichtum gesegnet; der Bruder erklomm' Stufe für Stufe äußere Ehrenposten; ich selbst – bekannte die Wahrheit und lebte in ewigem Zwiespalt mit der Welt … Nach Jahren aber stellt sich heraus, dass weder Ehrgeiz noch Reichtum auf lobenswertem Wege gehen, wenn sie nicht Hand in Hand mit der Wahrheit gehen … Seit Du die Wahrheit liebende Schwester Dir ferne gehalten, Bruder, folgte ein Fehltritt nach dem anderen; seit Sie die Wahrheit liebende Tochter zur Seite stellten, Vater – da war Ihr Fall bereitet und Ihr Leben fruchtlos. Was haben Sie hervorgebracht durch Ihr zahlloses Wohltun und Sorgen? Die Armen sind arm geblieben, und die reichgesegnete Dienerschaft hat Sie in der ersten Stunde der Gefahr verlassen! … Ich selbst, als alleinstehende Wahrheit, habe nicht überall nützen können, wie ich wollte. An der Hand des Reichtums oder äußerer Stellung wäre jedem meiner Schritte der Segen gefolgt. Wohltätig erschüttert habe ich eine falsche, verbrecherische Welt nur einmal – gestern … Lasst uns daher beisammen bleiben. Suche Du einen edleren Ehrgeiz zu befriedigen, Bruder; suchen Sie Ihren Reichtum besser zu verwerten, Vater; wenn Euer Trachten das Lob der Wahrheit verdient und Ihr die Wahrheit hören wollt, so ist auch Burgei glücklich – denn sie wird von der Wahrheit nie lassen!«

»Schwester!« rief Remi bewegt.

»Tochter!« sagte Lotfahr und fasste zitternd ihre Hand.

»Lasst uns nun hinauf unter Dach gehen, Stärkung nehmen und dann vieles ordnen – vor allem Herrn Otfried noch manches berichten lassen! …«

Pferdehuf erklang vor dem Gartentore; ein Reiter hielt in diesem Augenblicke, sprang ab, warf die Zügel einem Reitknechte zu und trat in den Garten; – es war der Graf von Starrenberg …


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