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Einleitung

Das Frühjahr hatte lange auf sich warten lassen. Erst mit dem zweiten Mai warf die Sonne ihre Nebelhüllen ab, die Winde, Süd-Süd-Ost haltend, wurden milder und binnen Kurzem waren die Wiesen in Teppiche verwandelt, die Bäume in schattige Hallen, und kein Plätzchen am Rain oder Berghang war so arm, dass es nicht seine Königskerze, seien gelbe Resede, seine Wolfsmilch, seine Haberrose und Rauke (sisyrbrium) an die Brust zu stecken hatte.

Dort hinter dem stattlichen Pachthof am Berghang hatte die Natur, geschützt vor Winden und der Sonne, unverkürzt sich freuend, in wenige Tagen Wunder getan. Im Forellenbach, der aus dem Waldesdunkel kommt und durch die Pachthofwiese eilt, spiegelten sich bald der Ehrenpreis, der Hahnenfuß, der Geißbart, das Vergissmeinnicht; den zwölften Mai, gegen fünf Uhr nachmittags, erschien zwischen anderen Blümchen aus das blühende Gesicht eines Kindes in den Wellen, und die Augen des Originals und Bildes starrten sich froh-verwundert an.

Zum Glück erklang jetzt eine Stimme, die das Kind bei Namen rief; es war der Klang einer Mutterstimme, welche ihre Wirkung nie verfehlt. Schnell richtete das Kind sich auf, und als es sich entdeckt sah, zappelte es mit Händen und Füßen, schien sich wehren zu wollen und sah doch selig lachend nach der näher kommenden Mutter! Milde warnend vor dem lockenden Wasser, fasste diese ihr Knäblein an der Hand und hob es auf die Arme, wobei der ganze Widerstand sich dahin löste, dass das Kind die Fäustchen voll ausgeraufter Blumen zeigte und mit den beiden Armen dann den Hals der Mutter umfing. Diese klopfte freundlich den Rücken des Kindes und blickte forschend über das an ihrem Halse ruhende Lockenhaupt in die Ferne – nach dem Farrenhage hin, wo ihr Mann, der Pächter Lotfahr, die Frühlingsarbeit leitete.

Wie sie gewahrte, bekam ihr Mann so eben den Besuch zweier Reiter, die den vielgewundenen Schlossweg herab geritten waren; der eine derselben war Junker Otto v. Starrenberg, der zweite dessen gefürchteter Schlossamtmann. Der Junker saß auf einem stolzen, kurz und taktmäßig ausgreifenden Rappen, dessen scharlachrote Satteldecke effektvoll in die Ferne wirkte; den Amtmann Beiwart trug ein schweres, üppiges Schlachtross, wie man sie in Tagen des Rittertums zu halten pflegte.

Von dem Felde, dessen Kleesaat eben gewalzt wurde, hielten die Reiter ihre Pferde an, und der Pächter, dies gewahrend, kam ihnen, respektvoll grüßend, bis an den Rain entgegen. Nun schien es aber, dass der Junker mehr als flüchtige Worte mit dem Pächter zu wechseln hatte; er stieg ab, übergab die Zügel des Pferdes seinem Amtmann und, vertraulich, wie man ihn noch nie gesehen, nahm er den Pächter an dem Arm und ging mit ihm feldein, die Richtung nach der Pachthofwiese. …

Das war ein neues Zeichen des Vertrauens. Was hatte der Junker vor? Was machte ihn jüngster Zeit so gar geschäftig mit dem Pächter?

Verwundert, wahrscheinlich dieselbe Frage stellend, legte die Pächterin die flache Hand über das Auge und prüfte, ob sie wirklich sehe, was sie sah. Ein Gefühl, halb Sorge, halb Genügen, bewegte sie und nahm sie ganz in Anspruch; sonst hätte sie wohl den Wanderer gewahrt, der ihr zur Linken den Steg des Baches überschritt und schon ganz nahe kam.

Es war ein Wandermönch. In der Rechten führte er einen Knotenstock, in der Linken eine Lederpeitsche.

Gang, Gebärden, Mienen stimmten mit der Kutte, die der Wanderer trug; nicht so das Auge, der Blick. Ihr wildes Feuer umkreiste die schönen, kräftigen Formen der Pächterin, die umso plastischer hervortraten, als sie, das Kind auf dem Arm und die rechte Hand überm Auge, sich etwas zurückbog, um bequemer in die Ferne zu sehen.

Hätte das Kindlein den Mönch nicht entdeckt und betroffen eine Bewegung gemacht, derselbe wäre jetzt stehen geblieben, um den seltenen Anblick noch länger zu genießen; die Bewegung des Kindes veranlasste die Mutter seitwärts zu blicken, und so kam der Wanderer demütig näher, lächelte und sagte, die Augen niederschlagend:

»Den Herrn zum Gruß!«

»Viel Dank, Herr Pater«, erwiderte die Pächterin und trat bei Seite, um den Mönch vorüber zu lassen.

Dieser schien aber keine Eile zu haben. Er hielt inne, zog aus seinem Ärmel ein Heiligenbildchen und reichte es dem furchtsam blickenden Kinde. »Da, mein Liebes, der Himmel segne Dich!« fügte er mit sanfter, salbungsvoller Stimme hinzu.

Die Gabe beschwichtigte das Kind und erbauter die Mutter. »Dankst du nicht?« sagte diese, leicht errötend, zum Kinde; und zum Mönche gewendet, fuhr sie fort, »O, gar zu viel Güte, Herr Pater!«

»Nicht doch, nicht doch; besonders da ich ja auch ein Anliegen hätte, vielliebe Frau.«

»O was, ehrwürdiger Herr?«

»Seid Ihr die Pächterin des Hofes?«

»Die bin ich. Was steht zu Diensten?«

»Mein Weg war lang; ich bin ermüdet und fühle Durst. Kann ich im Pachthof etwas ruhen, einen Becher Milcht erhalten?«

»Von Herzen gern. Ich bitte mitzukommen!«

Freude leuchtete aus dem großen, dunklen, unsäglich schönen Augen der Pächterin; sie bat den frommen Wanderer, voranzugehen, um nur schnell zu finden, was er suche; er aber zog es vor, an der Seite der Pächterin zu gehen und im Gespräche, wenn es unbemerkt geschehen konnte, unheimlich leuchtende Blicke nach der wunderbar geformten, weißen Stirn und den langen, schwarzen Wimpern derselben zu werfen …

Während der Mönche an der Seite der Pächterin dem Pachthofe zuging, vollendete der Junker drüben seine Unterredung mit Kilian Lotfahr. Der Gegenstand, welcher verhandelt wurde, musste dem Letzteren ehren voll, aber auch nicht ganz gelegen erscheinen; denn als der Junker, ihm die Hand reichen und schmeichelhaft grüßend, nach der Straße einbog, wo der Amtmann mit seinem Pferde hielt, dankte der Pächter mit gezogenem Hute durch eine lang andauernde Verbeugung und ging dann langsam und nachdenklichen Sinnes seinem Pachthof zu. Das Lächeln seines Mundes sprach respektvoll Dank aus, während der Ernst der Stirne sich mit allerlei Gedanken trug.

»Fünf Wochen fort«, sagte er bedenklich vor sich hin, »viel Zeit für mein Geschäft.« Doch schien er diesen Schatten schnell verscheuchen zu wollen, indem er hinzufügte: »Der Junker will es, so gescheh's auch willig!«

Er hob das Auge, sah den schönen Pachthof an, den ihm der Junker überlassen, und sein Herz war wieder froh.

»Ich werde wissen, wie wohl es sich hier wohnt, wenn ich gezwungen bin, auch einmal fern zu sein!«

Und es geschah, dass um dieselbe Zeit im Pachthof jemand dachte: »Wie wohl's hier einem werden könnte!« Es war der Mönch, der also dachte. Er saß im großen, reinlichen Vorhof neben der Türe, während die Pächterin ihm Milch und Brot vorsetzte und Butter und Honig hinzugesellte.

»Ihr müsst auch sitzen, liebe Frau«, sagte der Mönch, »es ist des Guten schon zu viel!«

Die Pächterin nahm ihr Kindlein wieder auf den Arm und stellte sich in bescheidener Ferne von dem Tisch; es schicke sich nicht, dem frommen Mann so nah zu bleiben, dachte sie.

»Nun esst! Nun trinkt, ehrwürdiger Herr!« sagte sie laut.

»Nicht eher, als bis ich auch mit einer Gabe diene!« erwiderte der Mönch.

Mit diesen Worten öffnete er seinen Handsack und nahm kleine Päckchen Papier heraus, die er auf den Tisch hinlegte und erklärte:

»Hier ein Kräutlein, dreimal geweiht, dem kranken Rind über die Raufe zu hängen, vertreibt zwischen Abend- und Morgenläuten jegliche Krankheit und Seuche!«

»Ei, ehrwürdiger Pater, wie soll ich danken?«

»Hier ein Amulett, dem Kindlein umzuhängen, hält Versuchung und Anfechtung ab und fördert Wachstum.«

»Für Dich, mein Kind«, sagte die Pächterin und küsste ihr Kleines auf dem Arme.

»Hier Feuerkraut, gewachsen an heißer Felswand, wo giftige Nattern in der Sonne liegen; drei Tage im Weihbrunn gelegen und gesegnet, löscht augenblicklich jeden Brand in Haus und Scheuer!«

»Dank, o Dank, ehrwürdiger Herr!«

»Und hier – das Beste, vielliebe Frau. Da ist Samen von Natternkraut und Erdrauch, vom Segen neu geweihter Priester dreimal beglückt; unter eine hundertjährige Eiche gestreut und dies gedruckte Gebetlein gemurmelt, glückt jedes Unternehmen, wird eine Reise ohne Unfall unternommen, gehen alle stillen Wünsche in Erfüllung. … Diese Kreise, die man dabei zieht, bannen alle bösen Geister und machen sie unschädlich für alle, die wir lieben.«

»Wie soll ich das vergelten?« sagte die Pächterin; ihr schönes Auge leuchtete.

»Ihr habt's vergolten«, erwiderte der Mönch, trank noch einmal von der Milch und erhob sich. »Ich habe Eile und muss wieder weiter«, fuhr er fort. »Lebt wohl, vielliebe Frau! Allen Segen über Euch und Eure Kinder!«

»Und Ihr habt fast nichts gegessen!« rief die Pächterin fast betrübt.

»Genug für einen Wandersmann wie ich, der Enthaltsamkeit gelobt!« Er reichte der Pächterin die Hand und drückte sie kräftiger, als für einen frommen Mann sich schickte. »Lebt wohl!« sagte er noch einmal und schien nicht leichten Herzens von dem Anblick der schönen Frau zu scheiden. …

Als die Pächterin den Mönch hinter der Umfassungsmauer des Hofes verschwinden sah, war ihr erste, dass sie ihr Kindlein auf die Wandbank stellte, das Amulett an ein Bändchen befestigte und es ihrem Kindlein um den Hals hing.

»Es hält Versuchung und Anfechtung ab und fördert Wachstum!« wiederholte sie getreulich die Worte des Mönchs. »Das ist für Dich, mein Kind!«

Dann nahm sie das Kräutlein für krankes Rind und hing es der braunen Käthe über die Raufe; denn die Kuh hatte sich heute nicht wie gewöhnlich ihr Futter schmecken lassen.

Das Päckchen Feuerkraut litt es nicht lange in ihrer Hand, sie steckte es eilig und durchschauert in einen Mauerspalt. »Möcht' ich Dich niemals nötig haben!« rief sie.

Dagegen erfüllte sie ein Blick auf das vierte Päckchen mit wundersamer Empfindung. Das war ja ein Mittel für jede wichtige Stunde des Lebens. Wie von selbst ergab sich der Ort, wo sie Kreise ziehen, beten konnte in bedrängter Lage. Die hundertjährige Eiche da drüben – ein Blick durch das Fenster zeigte sie ihr – bezeichnete deutlich die Stelle. An dieser Eiche – vielmehr in einer Höhlung derselben – hatte früher ein Muttergottesbild gehangen, es war der Zufluchtsort so manchen bedrängten Herzens und auch oft der Pächterin gewesen. Dort wollte sie die geweihten Samenkörner streuen, wenn je eine bedrängnisvolle Stunde sie heimsuchen sollte.

»Brigitte!« unterbrach hier eine Stimme ihr Sinnen.

»Kilian!« sagte die Pächterin, die Stimme ihres Mannes erkennend; sie versteckte unwillkürlich die Gabe des Mönches.

»Brigitte«, sagte Lotfahr nachdenklich: »Der Junker hat mich eben aufgesucht. Er hat ein wichtiges Geschäft abzumachen. Ich soll für ihn verreisen.«

»Verreisen? Für lange?« fragte Brigitte betroffen.

»Es kann fünf Wochen in Anspruch nehmen. … Der Auftrag ist ehren voll«, setzte Lotfahr hinzu, da er die betroffene Miene seiner Hausfrau sah. »Der Junker hat ein Rittergut im Auge, er möchte den Kauf beeilen, ich soll ihm, wie er sagt, die Freude machen und das Gut bereisen.«

»Wann sollst Du fort?« fragte Brigitte.

»Noch heute …«, erwiderte Lorfahr, stützte beide Hände auf das Fensterbrett und blickte unbeweglich, als suche er was, in die Ferne.

»Noch heute?« wiederholte die Pächterin – »Und nichts ist vorbereitet für die Reise!«

Dieser Gedanke ließ sie nicht lange ihren Empfindungen nachhängen. Sie begann sogleich an Wäsche und Kleidungsstücken herbeizuschaffen, was zur Reise nötig war und musterte in Gedanken das Geflügel, welches sie dem Mann als duftige Braten zubereiten und als Stärkung auf den Weg mitgeben wollte.

Plötzlich aber hielt sie inne und sagte zum Pächter, der im Begriffe war, hinauszugehen und im Hofe Aufträge zu geben:

»Da siehst Du ja den Remi nicht mehr, der morgen kommt!«

»Wir müssen uns begegnen«, erwiderte Lotfahr: »Er kommt den Weg, den ich gehe.«

Bei diesen Worten machte er eine dankende Neigung mit dem Kopfe, indem er einen Gruß erwiderte, welcher ihm draußen von Otfried, dem vorüberfahrenden Sohne des Schlossamtmannes, geboten wurde.

Der Blick durch das Fenster machte ich zugleich auf einen anderen Gegenstand aufmerksam, der ihm ein vergnügtes Lächeln ablockte und ihn veranlasste, seine Hausfrau zu rufen.

»Brigitte!« sagte er: »Da seh' nur wieder hin!«

Es war en anmutiges Bild, wie bald darauf die schöne Pächterin neben ihrem Manne stand, die linke Hand auf seine Schulter legte und gleich ihm erheitert durch das Fenster blickte.

Drüben auf der Pachtwiese war ein Mädchen, den Strohhut statt eines Netzes in der Hand, in voller Jagd nach einem Schmetterling, der im Zickzack, bald höher, bald niedriger fliegend, eine große Gewandtheit im Entschlüpfen zeigte. Das dunkle Lockenhaar und das leichte Kleid des Mädchens flatterten wild im Winde, und nach jedem Entschlüpfen des gelben Sommervogels schien die Begierde der Jagd zu wachsen. Leicht, toll und doch graziös waren die fliegenden Bewegungen der zwischen Kind und Jungfrau schwankenden Erscheinung, und wer nur einen Blick auf sie gerichtet, konnte nicht leicht das Auge wieder von ihr wenden.

Lotfahr und Brigitte brachen jetzt in ein heiteres Lachen aus, indem der Schmetterling plötzlich pfeilschnell sich in die Luft emporschwang und ihr wildes Töchterlein Burgei, zum Fang ausholend und im selben Momente arg enttäuscht, wie versteinert stehen blieb.

Es war indessen nicht das plötzliche Entkommen des Sommervogels, was die junge Jägerin in eine reizende Bildsäule verwandelte. … Dort drüben auf dem Fahrweg hatte der Wagen mit dem Sohn des Schlossamtmannes gehalten, und dieser, munterer und beglückter Zeuge des reizenden Jagd, war von Burgei soeben entdeckt worden … Der freundliche Gruß des Zeugen wurde nur durch eine höhere Glut der Wangen erwidert – und erst als der Wagen weiter rollte, kam nach und nach wieder Leben in das versteinerte Bild jungfräulichen Schreckens. …

*

»Burgei!« rief in diesem Augenblicke eine jugendliche Männerstimme, und ein munterer Studiosus schwang seine Kappe grüßend von der Straße herüber.

Burgei erkannte ihren heimkehrenden Bruder, und ihre ganze Lebhaftigkeit war wieder da.

»Remi, schon heute kommst Du?« rief sie und eilte der Straße zu.

»Das nenne man das kurze Verfahren«, sagte Remi und reichte der Schwester die Hand: »Ein paar Kollegien nehmen es nicht übel, wenn man sie um der Heimat willen versäumt!«

»Die Freude der Mutter! Die Verwunderung des Vaters!« sagte Burgei und wollte dem Bruder das Ränzlein abnehmen.

»Lass, lass«, wehrte Remi: »Das stünd' einem Studiosus wohl an, sein leicht Gepäck von einem Mädchen tragen zu lassen! Find' ich alles wohl zu Hause?«

»Gott sei Dank!« sagte Burgei und trug dem Bruder wenigstens das Käppchen, welches derselbe nicht mehr aufsetzten wollte. Remi blickte mit jenem Behagen um sich, das uns erfüllt, wenn wir nach langem Fernsein die Heimat wieder betreten, und sagte:

»Wo arbeiten unsere Leute heute?«

»Am Farrenhage – sieh!« erwiderte Burgei und zeigte nach der Richtung; aber ihr Finger zuckte betroffen zurück, indem er zufällig auf einen Punkt des Farrenhages traf, wo der Junker, von einem Mönch begleitet, langsam nach dem Schlosse zurückritt.

»Ich sehe den Vater nicht unter den Leuten«, sagte Remi, die Arbeiter auf dem Felde musternd.

»Er ist schon eine gute Weile heim, der Junker ist bei ihm gewesen«, sagte Burgei, mit unheimlicher Empfindung die rote Satteldecke betrachtend.

»Ist es wahr, dass er dem Vater den Pacht auf zehn Jahre verlängert?« fragte Remi.

»Ja – und den Pachtschilling vermindert«, erwiderte Burgei zerstreut.

»Das ist viel auf einmal. Man sagt ihm nicht viel Gutes nach … Ah, Tobias! Der treue, lustige Junge!« unterbrach sich Remi und blickte links einen Hügel hinaus, wo hinter einer Schafherde, die in eiliger Geschäftigkeit weidend erschien, ein schlanker Schäfer folgte und auf eine Klarinette ein helles Lied für sich blies.

Remi und Burgei brachen in heiteres Lachen aus, als Tobias, den heimkehrenden Remi gewahrend, sein Lied mit einem, nur der Klarinette eigenen gellenden Tone unterbrach und grüßend seinen breitschirmigen Hut ein über das andere Mal schwenkte.

»Das ist die treueste Seele unseres Hause«, sagte Remi, »den muss der Vater noch einmal zu Ehren und Würden bringen! …« Sie dankten dem Schäfer und eilten dem Pachthof zu.

*

Willkommen und Abschied! Kommen und Gehen! Wie bleibt ihr euch treu in diesen Wandertagen des Lebens!

Während der Sohn Remi durch seine Heimkehr überraschte, rüstete sich Vater Lotfahr zur Wanderung in die Ferne. Die frohen Rufe, die glänzenden Blicke der Begrüßung fielen beinahe mit dem ersten Lebewohl und dem trüben Blicke des Abschieds zusammen.

Kaum eine Stunde war verflossen, als der heimgekehrte Sohn im Vereine der Mutter und Schwester dem scheidenden Vater das Geleite bis an die Markung des Pachthofes gab.

Seit Kilian Lotfahr auf dem Pachthof lebte – und das war so ziemlich der größte Teil seines Lebens – hatte er keine Reise in solche Entfernung und von solcher Dauer unternommen. Das Besuchen des nächsten Städtchens, der umliegenden Märkte, war bisher das Ziel seiner Wanderungen gewesen; sofern musste freilich die heutige Reise in den Augen der Pächterfamilie eine besondere Bedeutung haben.

Wehmütig schweigsam ging die schöne Pächterin neben ihrem Manne her und blickte ihn nur mit ihrem großen seelenvollen Auge an, wenn er seine Worte an sie richtete. Burgei suchte durch lebhafte Gebärden und freundliche Geschäftigkeit sich dem scheidenden Vater bemerkbar zu machen; sie entlockte ihm öfter ein Lächeln, indem sie ihm, seine Last zu erleichtern, bald den schweren Wanderstock, bald den Mantel abnehmen und eine Strecke tragen wollte.

Mit dem Sohne Remi führte der Pächter zumeist die Unterhaltung. Er ließ sich über dessen Schule und letzte Erlebnisse berichten und sagte dann:

»Es trifft sich recht, dass Du heute schon da bist. Ich sehe Dich noch und Du kannst der Mutter die Aufsicht erleichtern. Nimm Dir den Tobias zu Hilfe, der ist die Treue selbst und kennt die Geschäfte. Wenn ich wieder komme, soll er zum Aufseher avancieren!«

Remi blickte die Schwester lächelnd an und nickte ihr zu, dass in Erfüllung gehe, was er vor einer Stunde als Wunsch geäußert …

Nun war man an der Markung angekommen, und Lotfahr blieb stehen, um noch einmal Lebewohl zu sagen.

»Behüt' Dich Gott!« sagte er zu seinem Weibe und reichte ihr die Hand; aber Brigitte sah ihn mit ihrem wundervollen Auge schweigend an und erwiderte nichts.

»Hast Du was Besonderes auf dem Herzen?« fragte Lotfahr dies gewahrend.

»Leb' wohl – komm' bald und wohlbehalten wieder!« sagte Brigitte, wie aus tiefem Nachdenken erwachend. Ihre Augen wurden trübe.

»Ich werde wieder da sein, eh' wir's denken«, sagte Lotfahr, den Abschied beendend …: »Noch einmal, Remi, sei Deiner Mutter zur Hand – und Du, liebe Burgei, sei immer recht munter, es ist nichts zu betrauern, wenn man einmal einige Wochen die Welt sehen muss!«

Diesen männlich gesprochenen Worten folgte ein wiederholtes Nicken mit dem Kopfe – und Lotfahr ging mit kräftigen Schritten weiter und verlor sich bald im Schatten des nahen Waldes …

Leb' wohl – komm' bald und wohlbehalten wieder – wie können Abschiedsworte einfacher lauten? … Und dennoch war es ein Abschied auf Nimmerwiedersehen … Das ahnte freilich die Pächterin nicht, indem sie obige Wort sprach; der leichte Schatten der Wehmut in dem schönen Auge, auf der schönen Stirne, konnte zwar als Vorzeichen eines tragischen Schicksals gelten – wer aber deutet solche Zeichen gleich aufs Schlimmste? War ein solcher Schatten doch natürlich im Augenblicke des Scheidens von dem Manne … Und Lotfahr? Wie stand's um ihn, indem er weiter ging? …

 

Die Wanderjahre sind nun angetreten
Und jeder Schritt des Wanderers ist bedenklich.
Zwar pflegt er nicht zu singen und zu beten;
Doch wendet er, sobald der Pfad verfänglich,
Den ernsten Blick, wo Nebel ihn umtrüben,
Ins eigene Herz und in das Herz der Lieben.

 

Sinniger und würdiger ist die Wanderstimmung Lotfahrs nicht zu bezeichnen als mit diesem Liede unseres großen Dichters … Lassen wir ihn des Weges ziehen, seine Aufgabe vollführen und, so Gott will, wohlbehalten wiederkehren. Für heute ist sein Ziel nur ein bescheidenes; – er will für morgen einen Vorsprung gewinnen, den Hesselbacher Wald passieren und, wenn ihn nichts behindert, um zehn Uhr nachts bei seinem Freund, dem Pächter Auhold in Dießwalden, um Nachtquartier anklopfen. Von den Elementen hat er nicht zu besorgen, obwohl ein Wolkenschleier das ganze Firmament bedeckt. Ist doch der Mond unter den Sternen, und seine volle Scheibe sendet so viel milden Schimmer nieder, dass die Wege gut erkennbar sind … So leb' denn wohl, Du wackerer Wandersmann – komm' bald und wohlbehalten wieder …

Wohlbehalten wieder … so klang es wie ein Echo auch im Herzen der Brigitte wieder, die in später Abendstunde mit dem Geschenk des Mönches zu der Eiche kam, hier betete, geweihten Samen streute und sachte Kreise zog mit einem Stab von Haselnuss … Hatte ihr ja der fromme Mönch dazu geraten – barg ein tiefes Hohl der Eiche ja den freilich kaum mehr sichtbaren Rest des so verehrten Muttergottesbildes – warum hier nicht ungesehen beten und wohlgemeinten Brauch vollziehen? …

Vor Gottes klarem Vaterauge – freilich da gilt des Herzens gute Meinung; – aber vor dem Auge der Menschen – unlauterer Menschen – gilt des Herzens Meinung wenig oder nichts, ja wird nicht selten mit Absicht missverstanden und in wüstem Missbrauch ausgebeutet.

Das stille Tun und Treiben der Pächterin hatte Zeugen; – lauernde, schadenfrohe Zeugen; – sie traten hinter einem Busche erst hervor, als die Wanderin den Baum verließ und sinnend nach dem Pachthof zurückkehrte … Der Mond – wie kummervoll erbleichend – schob den Vorhang einer Wolke flüchtig weg, um die Gruppe der Zeugen näher zu betrachten … Er sah den Junker von Starrenberg, den Schlossamtmann – und einen Dritten darunter, dessen Gesicht demjenigen des Mönchs von heute durchaus glich, nur fehlte der Gestalt das Mönchsgewand. Die blasse Leuchte des Himmels schien zu erkennen, was in den Herzen dieser finstern Männergruppe vorging – sie zog den Wolkenvorhang sachte wieder vor, und trübe Dämmerung herrschte ringsumher …

Ziehen auch wir für eine Weile den Schleier vor das Kommende, bis wir Mut gefasst, eine Tat vor Augen zu führen, die lange Zeit ein schönes Stück des Vaterlandes mit Herzleid und Entsetzen erfüllte.

Etwas über hundert Jahre sind es her, dass diese Tat – sagen wir – dies Verbrechen begangen wurde. Es fiel in eine Zeit, wo Licht und Schatten im deutschen Geistesleben sich lebhafter zu bekämpfen begannen, unter dem Einfluss Leibnitz-Wolf'scher Philosophie die Periode der deutschen Aufklärung anfing und am Himmel frischer Geisteskultur, mehr oder weniger leuchtend, die Namen Reimarius, Mendelssohn, Lessing, Basedow, Engel und andere erschienen, um auf das seltenste Gestirn, Immanuel Kant vorzubereiten; der große Frankfurter Poet hatte das Licht der Welt erblickt, auf den Throne der Hohenzollern saß ein philosophischer König, und ein liebenswürdiger Freigeist keimte in Josef, dem Erben der Kaiserkrone zu Wien … In diese Zeit des hellsten Lichts und tiefsten Schattens fiel, was wir in Folgendem vor Augen führen. Das Ereignis trug auch die Spuren dieses Doppelcharakters und gab, was uns in Zeiten der Finsternis wie des Lichtes das Erhebendste bleibt, einem großen Herzen Gelegenheit, sich im schönsten Glanze zu offenbaren!

Möge dieser Umstand für die Schatten entschädigen, welche das Ereignis begleiten … Führe das Ereignis nun selbst seine Sache!


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