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IV.
Die Palme des Friedens.

 


 

Erstes Kapitel.
Die nächsten Folgen.

Mitternacht war vorüber. Die Ränder des Horizontes waren von zackigen Wolken umsäumt, aus denen häufige Wetterleuchten zuckte. Trotz der fernen Gewitterregen war die Luft nur wenig abgekühlt und würde schwül und drückend geblieben sein, wenn nicht ein leiser Luftzug aus Osten etwas abgeholfen hätte.

Hat der vorhergehende Tag oder Abend ein wichtiges Ereignis gebracht – und wann wäre dies auf dem weiten Erdenrunde nicht der Fall? – so übernimmt der Strom der Luft, ob derselbe nur in kaum hörbaren Wellen oder mit der Gewalt des Orkanes bewegt wird, in dunkler Nacht die Rolle des griechischen Tragödienchors und spricht, durch die Wipfel der Wälder, durch Glockenstuben, Ruinen und Lücken der Dächer dringend, mit leiser Lippe des Weisen oder mit dem Donnerlaut der Wolken eine ewigen Gedanken, sein Beileid, seinen Zorn und seine Zukunftsideen im Angesicht der Erde und des Himmels aus.

Und wo anders wäre dieser Urstimme der Natur mehr Anlass geboten gewesen, in dunkler Mitternacht ihre geheimnisvoll tönenden Betrachtungen über Schuldige und Unschuldige erbrausen zu lassen als in der Gegend um Bingerbach, wo in dieser Nacht so viele Herzen voll Weh' und Entsetzen, Zerknirschung und Ingrimm ihr Lager flohen und ein Echo jener Betrachtungen bildeten?

In der Tat erklang es, wen auch nicht stürmisch, so doch vernehmlich genug wie ein Chor dumpfer Geisterstimmen um Türme und Fenster der Starrenburg, in die ein schmerzlich empörter Vater und ein jäh aus seiner Sicherheit gestürzter verbrecherischer Sohn zurückgekehrt waren; ergreifend tönte es um die Mauern des Schlosses Lotfahr, das um Mitternacht, nachdem die Gäste mitsamt der feigen diebischen Dienerschaft längst entflohen waren, noch in gespenstisch-greller Beleuchtung strahlte, während Vater und Sohn, ahasverische Gestalten, sich fliehend und händeringend durch Gänge und Gemächer zogen; verständlich und durchschauernd klang auch manchem verstörten Gaste, der soeben heimgekehrt und, am offenen Fenster stehend, gedankenvoll in die Dunkelheit starrte, das geisterhafte Rauschen in den Zweigen der Bäume, seine Gedanken waren nur eine Stimme mehr in dem geheimnisvollen Geisterchor der Natur …

Aber horch! Tiefinniger und wundersamer, entsagender und ergreifender klang der Chor sachte wogender Lüfte in den Zweigen jener Rieseneiche, unter deren weithin reichenden Ästen einst die schöne Pächterin, Andacht im Herzen und auf den Lippen, stille Kreise zog und einer frommen Weisung zu folgen meinte, indem sie geweihten Samen von Natternkraut streute.

Was war seitdem geschehen! Wie viel Anlass war gegeben, über Wahn der Menschen und Leiden der Unschuld, zeitweiligen Sieg des Verbrechens und plötzlich hereinbrechendes Gericht zu sinnen und der armen Pächterin einen Nachruf voll Teilnahme und Weh, voll Bewunderung und liebevoller Treue zu widmen!

Aber noch mehr … töne, du vielstimmiger Chor der Himmelslüfte, töne melodisch und seelenvoll, in Klängen der Wehmut und tränenschweren Berichtes – denn am Stamme der Eiche liegt, eben hingestürzt nach zielloser Flucht und erschöpft von heftigsten Stürmen des Gemüts – Burgei – die Tochter Lotfahrs, die Verstoßene, mit dem Vaterfluch Beladene – die tapfere Bekennerin und darum auch Märtyrerin der Wahrheit!

Aber töne leise, Chor der Himmelslüfte und störe einen Schlummer nicht, der nie verdienter, nie süßer, nie ersprießlicher einem menschlichen Wesen war!

Mutter Lotfahr – sieh, da wo für Deine Schönheit und Unschuld einst das Netz gelegt war, da liegt jetzt dein schönes Töchterlein als Rächerin an Deinen Feinden – aber verlasen und nicht belohnt, verstoßen und nicht von dankbaren Armen umfangen!

Wird sie verlassen und verstoßen bleiben? Hat der Sieg des Bösen nicht genug Opfer an dem Tode der Mutter gehabt, soll auch das Märtyrertum des Töchterleins durch Tod und Verderben besiegelt werden?

So schien auch der Chor der Lüfte zu fragen, als Mitternacht vorüber war und Stunde um Stunde ohne Hilfe und Rettung verrann.

Da endlich – horch!

Ist's ein Wanderer, der, froh der bestandenen Gefahren der Nacht, vorübereilen und zu seinen Lieben vor Tagesanbruch gelangen will? Oder ist's ein rasender Geselle der Feinde, der die Rächerin sucht, um an ihr wieder Rache zu nehmen?

Ein junger Mann, verstört in den Mienen, eine blutige Waffe in der Hand und mit wilden Blicken forschend, kam in der Richtung vom früheren Pachthofe Lotfahrs her, wo er die Bewohner eben durch Schreckensruf und Drohungen aus dem Schlafe geweckt und – nach dem Kinde Lotfahrs – der Burgei – gesucht, aber vergebens gesucht hatte!

Vor Überraschung erstarrt, hatte man in dem Fremden – Otfried, den Sohn des früheren Schlossamtmannes Beiwart erkannt und wollte ihn gastfreundlich aufnehmen und bewegen, das er sich erhole; – er aber dankte und eilte weiter und duldete nur, dass ein Knecht ihm folge und nötigen Falles hilfreich sei.

So kam Otfried in der Richtung nach der hundertjährigen Eiche und entdeckte hier die Vermisste, die durch einen wichtigen Zwischenfall seiner Wachsamkeit entgangen war.

Nie lag ein größerer Jubel und tieferer Schmerz in einem Worte beisammen als in dem Worte »Burgei«, welches Otfried vor der Gefundenen, auf die Knie sinkend, ausrief.

Selber einer Ohnmacht nahe, blieb er so, die Augen mit beiden Händen bedeckend, eine Weile stumm vor Empfindung, bis er, seiner wieder mächtig, rasch sich erhob, den Knecht nach dem Pachthofe schickte, um noch mehr Leute zu holen und Burgei mittelst einer Trage nach dem sicheren Obdach ihrer Kindheit bringen zu lassen. Er selbst trat in ehrfurchtsvolle Entfernung von der Schlummernden weg, um durch kein Geräusch die Ruhe derselben zu stören, und schritt, Wache haltend, auf und nieder …

Wie war es aber gekommen, dass er am Abend des Festes Burgei aus dem Auge verlor, dass er sie nicht bei dem ersten Schritte aus dem Vaterhause in seinen Schutz nahm und ihr und sich drei fürchterliche Stunden ersparte?

Die Erklärung liegt nahe.

Otfried hatte, wie wir gesehen haben, in dem Husarenleutnant den Abenteurer Braggen erkannt und hatte sofort beschlossen, ihn nicht mehr aus dem Auge zu verlieren und sich seiner so rasch und gut, als es ging, zu bemächtigen.

Deshalb war er ihm nach dem kurzen Rendezvous mit Fräulein Helene von Bergen gefolgt und ersh alsbald die Gelegenheit, sein Vorhaben auszuführen.

In einer entfernten Ecke des Parkes und in dem Augenblicke, als Braggen durch das Pförtchen, welches ihn eingelassen, wieder entschlüpfen wollte, ergriff ihn Otfried von rückwärts kräftig an der Schulter und rief ihm ein donnerndes »Halt!« zu.

Braggen, seiner Natur und seiner abenteuernden Lage nach stets auf Gefahren gefasst, war rasch gewendet und stand dem Gegner mit der Hand am Säbel gegenüber.

»Was steht zu Befehl und wer sind Sie?« fragte Braggen herausfordernd und frech.

»Ich heiße Otfried – Otfried Beiwart – Sie kannten mich als des Schlossamtmannes Sohn!« reif Otfried.

Braggen erkannte sogleich, in welcher Absicht der junge Mann, der ihm immer feindlich entgegen gestanden, gefolgt sei und wollte den Säbel aus der Scheide reißen, allein der Schlag mit einem wuchtigen Stocke verhinderte die Absicht, und die getroffene Hand sank vom Griffe des Säbels.

»Ergeb' Dich und folge mir!« rief Otfried und trat dem Wutblickenden näher.

»Was?« erwiderte Braggen, in wilder Heftigkeit aufbrausend: »Dir, dem bartlosen Jungen mich ergeben?«

Die Wut schien ihn seiner Hand wieder mächtig zu machen, und er versuchte eine Schlag mit der Säbelscheide; doch Otfried war schneller und gewandter, sein Knotenstock fiel wiederholt auf Arme und Haupt des Gegners nieder und beraubte ihn der Fassung. Taumelnd wollte Braggen hinter einen der nächsten Bäume flüchten, er wurde aber noch früher von einem so ausgiebigen Hiebe im Nacken getroffen, dass er lautlos und wie ohne Leben zu Boden stürzte.

Rasch entwaffnete ihn Otfried nun und zog den Säbel zu seiner Verfügung. Aber es schien, dass er der Waffe nicht mehr bedürfe; Braggen schien sein Verbrecherleben verhaucht zu haben, denn sein Atem stand still, und der Körper lag ohne Bewegung.

Das war nicht die Absicht Otfrieds gewesen, er wollte den Gegner nur wehrlos machen und entwaffnen, denn das Gericht sollt ihn ungeschädigt und lebend haben!

Bedauernd, dass er sich von der Hitze zu weit habe fortreißen lassen, kniete Otfried forschend neben Braggen nieder, befühlte den Puls und die Schläfe desselben und eilte dann, als er noch Leben gewahrte, an eine Grotte, um sein Schnupftuch in Wasser zu tauchen. Er kam nach kurzer Pause zurück und benetzte die Schläfe und Stirne Braggens; dieser kam in der Tat wieder zu sich, öffnete die Augen und blickte einige Male matt um sich. Aber seines Gegners ansichtig und seiner Lage sich wieder ganz bewusst, schien ihm die Wut der Verzweiflung wider Kraft und Kampflust zurückzuführen. Krampfhaft richtete er sich empor und suchte Otfried, der noch auf einem Knie vor ihm lag, am Halse zu erfassen und zu würgen – vergebliche Bemühung. Otfried wich mit einer schnellen Wendung aus und, mit geschwungener, blanker Waffe dastehend, forderte er Braggen auf, sich ohne Widerrede zu erheben und zu folgen, wolle er nicht schwer gezüchtigt ins Schloss zurückgeführt und dort in Gewahrsam gebracht werden.

Braggen fühlte wohl, dass es klüger sei, dem Willen des Siegers zu folgen und auf dem Wege außerhalb des Parkes, geschützt durch die Dunkelheit, vielleicht zu entkommen, als in das Haus des Festes geführt und dort dem mächtigsten und unerbittlichsten Feinde – dem Grafen von Starrenberg ausgeliefert zu werden.

Er ging also scheinbar willig vor Otfried her, welcher, nur dann und wann durch ein Wort oder einen Wink mit der Säbelklinge den Weg bezeichnend, auf dem Fuße folgte. Otfried hatte die Absicht, seinen Gefangenen in das Haus des nächsten Dorf-Schulzen zu bringen, welcher, wie er sich vor einer Stunde überzeugt, mit der rührenden Treue früherer Tage noch an ihm hing. Dort sollte Braggen die Nacht hindurch wohl verwahrt und am Morgen nach der Starrenburg gebracht werden. Aber an einem Haare hing es, dass der Abenteurer doch noch einmal seiner längst verdienten Strafe entging; denn da, wo der Feldweg um den Schlosspark nach der Wohnung des Schulzen einbiegt, machte Braggen einen so gewaltigen, erfolgreichen Versuch der Flucht, dass es nur der größten Behändigketi und einem tüchtigen Säbelhiebe gelang, den Flüchtigen in seinem Laufe anzuhalten und nun ohne Widerstand ans Ziel zu bringen. Eine breite Schmarre zwischen Schulter und Nacken war der Lohn für diesen letzten Fluchtversuch …

Braggen war nun bald in sicheren Gewahrsam gebracht, und Otfried wollte eben nach dem Schlosspark zurückkehren, um sich Burgei zur Verfügung zu stellen, als ihn die davoneilenden Gäste und ein dumpfes, unheilverkündendes Gewirr in der Ferne überraschten. Die Aufklärung, welche er erbat, war bald gegeben und ebenso rasch verstanden; so wie er vor das Haus des Schulzen getreten, den blanken Säbel in der Hand, stürmte er jetzt dem Schlosse Lotfahrs zu und suchte zur Tochter des Hauses zu gelangen, allein hier hörte er das Schlimmste, Betäubendste – die Verstoßung Burgeis und deren bereits erfolgte Flucht in die dunkle, einsame Nacht hinaus …


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