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Fünftes Kapitel.
Ein neuer Inzidenzpunkt. Vorzeitiger Triumph.

Durch den Schlossarzt verbunden und mit Stärkungen versehen, war Braggen bald wieder im Stande, auf die Fragen des Grafen zu antworten.

»Die Lotfahr ist also nicht auf dem Scheiterhaufen umgekommen – ist nicht tot?« fragte der Graf mit kaum zu bändigender Ungeduld.

»Auf den Scheiterhaufen ist eine andere Person geführt worden, und da ihr Angesicht verhüllt war, hatte dies niemand geahnt!« sagte Braggen: »Doch lassen Sie mich die Sache gleich im Zusammenhange erzählen«, fuhr er fort.

»In der Nacht vor der Hinrichtung überwältigte mich ein seltsamer Zustand, den ich bei mir nicht für möglich gehalten hätte. Eine tolle Unruhe, eine schwere Beklommenheit überfielen mich, und ich sann auf ein Mittel, die Pächterin zu retten. Sie sind wohl unterrichtet, Herr Graf, wenn man Ihnen vielleicht gesagt hat, ich selbst sei von wilder Leidenschaft für das schöne Opfer entbrannt gewesen. Diese Leidenschaft entschied endlich für die Rettung der Lotfahr. Ich gewann zwei schon als falsche Zeugen bestochene Gesellen, ließ um Mitternacht die Pächterin aus dem Gefängnis nehmen und statt ihrer eine seit längerer Zeit in Verwahrung gehaltene Verbrecherin, deren Los ganz gewiss der Tod werden musste, im Turme unterbringen. Da diese ungefähr die Gestalt der Pächterin hatte, war die Unterscheidung ausführbar. Der Verbrecherin wurde angezeigt, dass der Tag des Gerichtes für sie gekommen sei und dass sie mit Geduld und Ergebung sterben solle. Zur Vorsicht aber wurde ihr ein Knebel in den Mund gelegt und am Morgen der Hinrichtung der Kopf verhüllt. Von dem Unternehmen wusste weder der Junker noch der Schlossamtmann etwas. Der Geistliche, welcher die Delinquentin zu begleiten hatte, war angewiesen, ihr bloß ins Gewissen zu reden und keine Antworten zu verlangen. So konnte dieselbe unerkannt bis zum Scheiterhaufen geführt werden. Droben in Rauch und Flammen gehüllt, erkannte das fernstehende Volk den Unterschied der Person nicht mehr, und die Richter wagten ohnehin kaum, ihr Auge zu dem Opfer – auch ihres Urteils – aufzuschlagen.«

»Und die Lotfahr?« fragte der Graf, der vor Entsetzen und Empörung aufgesprungen war und lebhaft hin und her ging.

»Die Lotfahr sollte von den zwei Gesellen in einer Sänfte nach einer Hütte am Wildgehege gebracht werden, wo einer der Helfershelfer wohnte. Den andern Tag wollte ich weitere Dispositionen treffen … Aber schon nach einer Stunde kam der eine Geselle mit der Nachricht zurück – dass die Pächterin – ausgelebt habe … Auf dem Wege zur Waldhütte ist sie wahrscheinlich einem Schlagfluss erlegen!«

»Warum ließen Sie meinen Sohn darüber im Ungewissen? Warum ließen Sie ihn das vermeintliche Opfer bis in die Nähe des Richtplatzes verfolgen und mit Anträgen bestürmen?«

»Blieb die Lotfahr nach ihrer Rettung am Leben, so sollte sie für ihn tot sein. Nachdem sie gestorben, wollte ich sein Bewusstsein bis zum Äußersten schuldig werden lassen, damit er später, wenn sein Gewissen erwachte, meine Gesellschaft umso nötiger hatte und gleichsam sein Schicksal an das Meinige gekettet sah. Sollte später eine Stimmung gegen mich, als den Anstifter eines unerträglich nachwirkenden Verbrechens, im Junker die Oberhand gewinnen, so hatte ich ein Mittel in der Hand, sein Gewissen jeden Augenblick mit der Nachricht zu erleichtern, dass die Lotfahr auf dem Scheiterhaufen nicht gestorben sei!«

»Wo sind die sterblichen Überreste der armen, unglückseligen Frau?« fragte der Graf mit dem Tone tiefer Bewegung.

»Sie sind hinter der Waldhütte inmitten eines Gebüsches begraben«, erwiderte Braggen, seine düstere Stirne neigend.

Graf von Starrenberg setzte sich und blickte den verwegenen Verbrecher eine Weile schweigend an. Es hatte wenig gefehlt, dass ihm die kräftige Offenheit im Bekennen der fürchterlichen Schuld imponierte. Endlich sagte er:

»Sie haben mit lobenswerter Offenheit gesprochen. Ihrer Seltenheit wegen möchte man fast glauben, dass Sie einen besonderen Grund hatten, so ohne Rückhalt alles zu bekennen.«

»Nun – eine Wahrheit ist der anderen wert. Ich glaube durch meine Offenheit mir eine kleine Gunst erwerben zu können.«

»Welche?« fragte der Graf.

»Dass meine Angelegenheit ihrer Wichtigkeit halber dem obersten Gerichtshofe in der Residenz unterbreitet und dort noch einmal untersucht werde!«

Der Graf zuckte überrascht mit den Augenbrauen und sagte nach einer Pause:

»Ich werde Ihnen binnen einer Stunde sagen lassen, ob Ihr Wunsch zu erfüllen sei oder nicht.«

Damit klingelte er und ließ den Delinquenten in den Turm zurückführen …

Den Präsidenten aufzusuchen und ihn zu fragen, was er zu dem Gehörten sage, hatte der Graf nicht notwendig. Denn jener trat sofort freiwillig aus dem anstoßenden Zimmer und sagte, seltsam verändert in Haltung und Miene:

»Ein furchtbarer, merkwürdiger Mensch. Er soll seinen Willen haben. Ich wird noch heute nach der Residenz zurückreisen und die Akten des Prozesses einfordern lassen. Die Revision des ganzen Falles ist notwendig. An mir wird es jetzt sein, trotzdem meint Tochter mit dem abscheulichen Menschen ins Gerede kam, dem Lande zu beweisen, dass mir nicht Macht vor Recht geht … Herr Graf – haben Sie die Güte, den Abenteurer in Ihrem Turme zu belassen, bis ich's nötig finden werde, ihn nach dem Landes-Hauptgefängnisse abführen zu lassen. Ihr Sohn möge unter den Augen des Vaters den Rechtsspruch des Adelsgerichtes erwarten … Ich spreche Sie vor meiner Abreise noch – guten Morgen inzwischen!«

Mit diesen Worten eilte der Präsident auf sein Zimmer zurück

Er kam gerade recht, um aus dem anstoßenden Zimmer seiner Tochter ein überraschendes Konzert von Stimmen zu vernehmen.

Ein zu dem Zweck berufenes Kammermädchen, der stolzen Präsidenten-Tochter bei der Wiederherstellung eine zerrütteten Toilette und Frisur zu helfen, schien eher ein willkommenes Ableitungsmittel geworden zu sein für ein Dutzend übler und abschreckender Launen der beleidigten Schönen. Denn diese zankte und schrie in einem Atem gegen die lammsgeduldige, schüchterne Jungfer, und jeder Aufbau der künstlichen Frisur schien ihr nur wert, wieder mit Verdruss und Verachtung abgerissen zu werden.

Diesmal war der Präsident in der Tat ein Retter in der Not und ein Befreier der Unschuld, was er sonst in seinem Leben nicht sonderlich oft von sich hatte rühmen können. Er war es aber nicht absichtlich, sondern zufällig, indem er die Jungfer nur deshalb aus dem Zimmer schickte, um seiner Tochter etwas Wichtiges mitteilen zu können.

Der Präsident kannte seine wohlerzogene Helene zu wohl, um nicht zu wissen, dass deren wilde Launen ihn im Voraus merken lassen sollten, was ihm bevorstehe, wenn er es unterließe, ihr wegen des Husaren-Leutnants eine unerhörte Revanche zu verschaffen. Der Präsident kam auch nicht, um seine Tochter ahnen zu lassen, dass der Husaren-Leutnant gefangen sei und soeben das ganze Verhältnis frei heraus bekannt habe; er wollte ihr nur ankündigen, dass alle Einleitungen getroffen seien, ihr genügende Revanche zu verschaffen.

»Darum sei munter, Kind!« rief er, »zeige Dich des Namens und der Stellung Deines Vaters würdig. Imponiere durch Ruhe und Selbstgefühl einer Welt, die tief unter unserer Würde liegt … Das Nähere später. Nach einigen Stunden reisen wir … Nun lasse das Mädchen Deinen Anzug vollständig in Ordnung bringen!«

Frisur und Toilette einer Dame sind nie in friedlicherer Weise in Ordnung gebracht worden, als jetzt das Kammermädchen beide an Fräulein Helene ordnete …

Weniger ruhig ordnete jemand – der Graf – indessen seine Gedanken über die merkwürdige Wandlung des Präsidenten und über das merkwürdige Übereinstimmen der Bitte Braggens und des Beschlusses des Präsidenten, den Kriminalfall unmittelbar in die Hände des Letzteren zu spielen. Die Schlussfolgerung war nicht schwer zu erraten …


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